Kaum ein Tag vergeht, an dem in den Feuilletons der großen deutschen Zeitungen nicht nach einer grundlegenden Reform des Islams gerufen würde. Damit die muslimischen Minderheiten ihren Ort in der offenen, pluralistischen Gesellschaft finden und die Institutionen der parlamentarischen Demokratie wertschätzen könnten, bedürfe es endlich einer "islamischen Reformation". Häufig wird auch eine "Aufklärung des Islams" angemahnt. Forderungen dieser Art erheben nicht nur Politikerinnen und Politiker aus allen demokratischen Parteien, sondern auch Vertreter der beiden großen christlichen Kirchen, Publizistinnen und Wissenschaftler.
Nachholbedarf?
Der Ruf nach einer "Reformation des Islams" findet unter deutschen Muslimen vielfältigen Widerhall. Prominente muslimische Intellektuelle wie etwa Navid Kermani sowie islamische Theologen äußern sich öffentlich und oft mit großer medialer Resonanz als "Reformer", etwa indem sie eine historisch-kritische Deutung des Islams, die Gleichberechtigung muslimischer Frauen und ein Recht auf elementare religiöse Selbstbestimmung jedes einzelnen Muslims einklagen. So tritt etwa der Politikwissenschaftler Bassam Tibi in die Kritik des "Scharia-Islams" und für einen "Euro-Islam" ein, der "westliche Werte" wie individuelle Freiheit, Toleranz, Menschenrechte und Gleichberechtigung anerkenne.
Der Münsteraner Religionspädagoge Mouhanad Khorchide entwirft die Vision eines reformierten Islams als humanistisch gute Religion, die dank Gottes allumfassender Barmherzigkeit Gottesliebe, mitmenschliche Solidarität und individuelle Freiheit fördere.
Der zum Teil gemeinsam mit Khorchide
Auch die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor, erste Vorsitzende des 2010 gegründeten "Liberal-Islamischen Bundes", forschte und lehrte zunächst in Münster, bevor sie als Lehrerin den nordrhein-westfälischen Schulversuch "Islamkunde in deutscher Sprache" entscheidend mitgestaltete. Die mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete und medienpräsente Mitbegründerin des 2015 entstandenen Muslimischen Forums Deutschland (MFD) fordert einen reformierten "zeitgemäßen Islam" mit "weniger Dogma und mehr Spiritualität".
Die Behauptung, dass der Islam endlich eine Reformation und zudem eine Aufklärung brauche, um die elementaren kognitiven Dissonanzen zwischen altem Glauben und moderner pluralistischer Gesellschaft überwinden zu können, wird ferner von frommen Sinnsuchern geteilt, die sich wie der Schriftsteller Zafer Şenocak mit dem Glauben ihrer Väter auseinandersetzen:
Weit ist auch das Spektrum der muslimischen Intellektuellen, die in Europa und den USA für eine "islamische Reformation" eintreten. Fazlur Rahman, der 1919 im heute pakistanischen Britisch-Indien geboren und nach einem Studium in Lahore 1949 in Oxford promoviert und 1952 mit einem Buch über den Einfluss Ibn Sinas beziehungsweise Avicennas auf Thomas von Aquin bekannt wurde,
Der 1962 in Genf geborene, inzwischen in Oxford lehrende und in Doha forschende Schweizer Islamwissenschaftler und Religionsintellektuelle Tariq Ramadan, ein Enkel des Begründers der ägyptischen Muslimbrüder, Hassan al-Banna, über dessen religiöses Selbstverständnis Ramadan 1998 an der Al-Azhar-Universität in Kairo seine Dissertation schrieb, versteht sich mit großer öffentlicher Resonanz vor allem bei jüngeren Muslimen in Europa und den USA als "Reformsalafist", der für eine aktive muslimische Mission in Europa eintritt, dazu traditionalistische und orthodox-sunnitische Positionen als konservativer Modernisierer fortschreibt und eine neue, eben genuin europäische muslimische Identität zu begründen versucht.
Sehr viel prägnanter sind die entsprechenden Forderungen des 1946 im Sudan geborenen Abdullahi Ahmed An-Na’im, der an der Emory University Rechtswissenschaft lehrt, über das Verhältnis von Recht und Religion forscht und 1990 mit dem Essay "Toward an Islamic Reformation" viel Beachtung fand. Als Schüler des einflussreichen sudanesischen Glaubensreformers Mahmud Muhammad Taha kämpft er insbesondere für eine grundlegende Neudefinition der Scharia, die es in Staaten mit dominant muslimischer Bevölkerung erlauben soll, das Verfassungsrecht, das Strafrecht und das Völkerrecht an Prinzipien zu orientieren, die dem modernen Menschenrechtsdenken entsprechen.
In Iran war es vor allem der 1957 geborene Historiker Haschem Aghadscheri, der die Religionskultur der Islamischen Republik als überbürokratisiert, hierarchisch und dogmatisch verhärtet kritisierte und deshalb für einen "Islamischen Protestantismus" warb. Als er 2002 von den theokratisch orientierten geistlichen Eliten des Staates angegriffen, dann verhaftet und zum Tode verurteilt wurde, avancierte er rasch zu einer weltweit gefeierten Ikone all jener Muslime, die sich mehr oder minder "liberal" für elementare Reformen ihrer Religionskulturen einsetzten. "Aghajari’s case was unusual in its setting: a Shi’i country with a constitution placing religious scholars at the head of the state. But his argument was far from unique. Around the world, numerous Muslim authors made use of the analogy with the Christian Reformation, and have done so since the nineteenth century, as have Western observers of Islamic reform movements."
Massive internationale Proteste führten dazu, dass das Todesurteil in eine Haftstrafe von fünf Jahren abgemildert wurde. Doch zeigt der Konflikt, dass der Ruf nach einer "Reformation des Islams" unter den Bedingungen modernitätsspezifischer innermuslimischer Pluralisierung und Ausdifferenzierung von konkurrierenden Glaubensmilieus immer auch starke Gegenbewegungen provoziert. Wer diese Reformation fordere oder von der "Current Islamic Reformation" spreche,
Doch so unterschiedlich all die "liberalen" Positionen, Reformkonzepte und religionspolitischen Visionen im Einzelnen sind
Perspektive mit Geschichte
In den deutschsprachigen Debatten ist nur selten gesehen worden, dass die Rede von der "Reformation des Islams" oder einer "islamischen Reformation" bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Die Reformatoren selbst, also Luther, Melanchthon, Calvin und Zwingli, hatten auch aufgrund ihrer Koranlektüre den Islam nicht als eine andere, fremde Religion neben dem Christentum und Judentum, sondern als eine spätantike innerchristliche Häresie gedeutet.
Schon im 19. Jahrhundert bezeichneten westliche Religionsdeuter neue reformerische beziehungsweise "modernistische" Strömungen im Islam
Heute wird diese vergleichende Perspektive von dem an der Universität Wien lehrenden Islamwissenschaftler Rüdiger Lohlker eingenommen. Lohlker vergleicht den modernen Salafismus mit anderen Frömmigkeitsbewegungen und kommt so zu der These, dass der Salafismus "gewissermaßen die islamische Ausprägung eines Evangelikalismus" sei, "in der Form der Gemeinschaftsbildung, die gegen die Auflösung bestehender Bindungen gerichtet ist". Nicht nur habe "die Art der Konversion (…) sehr große Ähnlichkeit mit Erweckungsbewegungen christlicher Prägung". Vielmehr gebe es auch in der "konservative[n] Kritik moderner Art an der Moderne" vielfältige strukturelle Analogien. "Sie übt Kritik am Fernsehen im Fernsehen, am Internet im Internet. In solche Milieus wird man schließlich nicht hineingeboren, sondern man muss sich ihnen zuwenden. Diese persönliche bewusste Entscheidung für einen Glauben, das ist eine sehr individuelle moderne Erscheinung. Und gleichzeitig hat es etwas sehr Pietistisches."
Lohlker kann die ausnahmslos sunnitischen Salafisten, die schiitische Positionen entschieden ablehnen, deshalb auch als die "Reformatoren des Islams" bezeichnen. "Salafismus bedeutet Rückwendung zur islamischen Frühzeit. Er will eine neue Gemeinschaft unter den Menschen stiften. Eine Gemeinschaft, die auf der Gleichwertigkeit aller Gläubigen beruht. Jeder Gläubige kann und darf sich religiöses Wissen aneignen, die Texte des Korans und des Hadith sind allen zugänglich. Darin steckt ein Gleichheitsideal, das zu einem gewissen Teil die Attraktivität des Salafismus ausmacht. (…) Reformatoren und Salafisten vereint der Gedanke der Reinigung, der Befreiung der Religion von allen historischen Anhaftungen. Es ist ein Protestantismus im Widerstand gegen die Verfasstheit der Welt, könnte man überspitzt sagen, eine Reformation eigener Art."
"Reformation" als Analytische Kategorie
Sowohl an den Universitäten der englischsprachigen Welt als auch in akademischen Institutionen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz ist von der "islamischen Reformation" nicht im Sinne eines Postulats beziehungsweise einer Sollensforderung die Rede, sondern als analytische Kategorie zur Deutung der vielen Erneuerungs- und Reformbewegungen in islamischen Lebenswelten des 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Islamwissenschaftler wie Roman Loimeier und Olivier Roy sowie der Sozialanthropologe Dale F. Eickelman vertreten die These, dass man im systematischen Vergleich mit den reformatorischen Protestbewegungen des 16. Jahrhunderts, also jener Kritik der spätmittelalterlichen Kirche als autoritärer Heilsanstalt, wie sie von den Reformatoren in der Absage an Ablasshandel und Heiligenkult theologisch formuliert wurde, und protestantischen Erneuerungsbewegungen wie insbesondere dem Pietismus das religiöse Selbstverständnis und die theologisch begründeten Ziele moderner islamischer Reformbewegungen besonders prägnant erfassen kann. In ihren Vergleichsstudien nehmen sie unterschiedliche Ausprägungen des modernen Islams in den Blick.
Für die mehr als eine Milliarde Muslime auf der Welt sei die Gegenwart eine Zeit so dramatischen religionskulturellen Wandels wie einst das 16. Jahrhundert für die Christen in Europa, behauptet Eickelman. In seinen Feldstudien bezieht er sich auf die engen Zusammenhänge zwischen technologischem Wandel und Transformationen der religiösen Praxis und überhaupt des Glaubens, wie er sie zunächst in Al-Hamra, einer kleinen Provinzhauptstadt im nördlichen Oman von 1978 bis 1998 beobachten konnte.
Die Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht habe es fast allen Bewohnern ermöglicht, selbst den Koran zu lesen und sich ihre eigene Meinung in Glaubensfragen zu bilden. Die neuen Kommunikationsmittel, die in der muslimischen Welt jetzt mehr Menschen als je zuvor zugänglich seien, hätten zudem eine sehr viel breitere und intensivere Diskussion von Glaubensfragen erlaubt. Weder religiösen Autoritäten noch staatlichen Institutionen sei es mehr möglich, irgendeine Deutungshoheit über Glaubenswissen aufrechtzuerhalten und religiöse Kommunikation zu monopolisieren. Dank des starken Interesses der lesenden Öffentlichkeit an der produktiven Bearbeitung der elementaren Spannungen zwischen der Glaubensüberlieferung einerseits und den kulturellen Alltagsroutinen der modernen Welt andererseits sei ein Massenmarkt für religiöse Reformliteratur entstanden, die durch Interpretationsarbeit an den überkommenen Heiligen Schriften die Vereinbarkeit von Glaube und Vernunft zu erweisen suche. Dank Hunderten von Ratgebern zu der Frage, wie man das Leben einer frommen muslimischen Frau in einer modernen Stadt zu führen habe, wie man seine Kinder gemäß dem "Islamic way of living" erziehen solle oder wie man in der Finanzindustrie und überhaupt der modernen kapitalistischen Wirtschaft genuin muslimischen ethischen Regeln folgen könne, seien alle Sphären des Lebens mit neuer spiritueller Ernsthaftigkeit durchdrungen worden.
Ein Autor wie der syrische Ingenieur Muhammad Shahrur habe mit seinem 800 Seiten starken, erstmals 1990 erschienenen Wälzer "The Book and the Qur’an. A Contemporary Interpretation", in dem eine Analogie zwischen der Kopernikanischen Revolution und der gebotenen Neuorientierung der Koranexegese hergestellt wird, ein Millionenpublikum erreichen können – trotz des Verbots in vielen arabischen Ländern. Eickelman vergleicht Shahrurs Neudeutung der islamischen Tradition mit Luthers 95 Thesen und betont, dass wie im 16. Jahrhundert der Erfolg der Glaubensreform stark durch eine Medienrevolution bedingt sei: So wie Luthers Ideen einst in Tausenden von vielfältig aufgelegten Flugschriften mit großer Wirkmacht verbreitet worden seien, sorgten in der Gegenwart die Fernsehsender von Al-Jazeera, Videobotschaften und Internetplattformen für die Verbreitung einer neuen Sicht des Glaubens.
Auch im entschiedenen Interesse an Bildung ließen sich zwischen den protestantischen Reformatoren und muslimischen Reformern der Gegenwart wie Fethullah Gülen aus der Türkei, Sa’id Binsa’id aus Marokko und Abdolkarim Soroush aus Iran elementare Wahlverwandtschaften beobachten. So habe etwa der pakistanische Glaubensdenker Nazir Ahmad, Autor des 1997 erschienenen, seitdem mehrfach in hoher Auflage neu aufgelegten Buches "Qur’anic and Non-Qur’anic Islam", seine Nähe zum reformatorischen Protest in Wittenberg, Genf und Zürich betont.
Durch die Intensivierung religiöser Kommunikation und die Offenheit für den Dialog auch mit Andersdenkenden und -gläubigen speziell aus "dem Westen" habe sich die Art des Glaubens beziehungsweise die Frömmigkeitspraxis der Gläubigen grundlegend gewandelt. Um ein guter Muslim zu sein, reiche es nun nicht mehr aus, im Sinne der Tradition zu fasten und die fünf täglichen Gebete zu sprechen. Vielmehr müsse man nun auch imstande sein, das eigene Selbstverständnis als Muslim zu erläutern: "One must reflect upon Islam and defend one’s views."
In dieser Tendenz zu Selbstdenken und Individualisierung ist unausweichlich eine Pluralisierung muslimischer Glaubenswelten angelegt. Auch Loimeier betont in seinen Arbeiten zum "Protestantischen Islam"
Vielfältige "Reformationen"
Der aus den reformatorischen Bewegungen des 16. Jahrhunderts hervorgegangene Protestantismus ist nicht nur ein höchst komplexes, vielfältig differenziertes europäisches Phänomen, sondern hat früh schon die Grenzen Europas überschritten und in anderen Kontinenten neue und je eigene protestantische Lebenswelten begründet. Man kann die Geschichte der diversen frühneuzeitlichen und speziell der modernen Protestantismen auch als eine Globalisierungsgeschichte schreiben, etwa mit Blick auf die protestantischen Gründungsmythen der USA oder die rasche Ausbreitung der neuen Pfingstchristentümer im 20. und frühen 21. Jahrhundert. Vor allem in ihrer westeuropäisch-reformierten, calvinistischen Gestalt haben moderne Protestantismen in manchen Teilen der Welt die Durchsetzung von Menschenrechten, Bürgerfreiheit und Demokratie gefördert und in ihren stärker autoritär-sozialpaternalistischen lutherischen Konfessionskirchen Ideale eines gemeinwohlorientierten Sozialstaates. Protestantismus kann avantgardistisch elitärer Denkglaube intellektueller und künstlerischer Eliten sein, aber auch moralstolzer, hart bindender Gegenentwurf zu einer toleranten, offenen Gesellschaft der Vielen, die ihren je eigenen Lebensentwurf realisieren, also modern-antimoderner Fundamentalismus.
Diese höchst spannungsreiche Vielfalt des Protestantischen, die bereits in den diversen Eigenwegen des entscheidend von Luther inspirierten reformatorischen Protestes im frühen 16. Jahrhundert angelegt ist, bestimmt auch die aktuellen Debatten über die "islamische Reformation". So vielfältig "die Reformationen" des 16. Jahrhunderts sind, so plural zeigen sich auch die "islamischen Reformationen" der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart. Im Diskurs der deutschsprachigen Islamwissenschaftler werden nicht nur diverse reformorientiert "liberale", an universalistischem Menschenrechtsethos und freiheitlicher Demokratie interessierte neoislamische Bewegungen auf die Reformation des 16. Jahrhunderts bezogen, sondern auch Gegenbewegungen aus dem Spektrum des modern-antimodernen "fundamentalistischen" Islams. In der Tat lassen sich vielfältige neue und zunehmend dichtere Austauschprozesse zwischen protestantischen "Fundamentalisten" und neoislamischen Hardcore-Aktivisten beobachten.
Begriffe wie "die Reformation", "reformieren" und "Reform" sind interpretationsoffen und können von unterschiedlichen Sprechern in je besonderen Kontexten mit je eigenem Bedeutungsgehalt gefüllt werden. Dies zeigt gerade die immer wieder auf Geschlechterordnung und Genderfragen bezogene Rede von gebotener "islamischer Reform". Hier geht es nicht nur um das elementare Recht der Frau auf Selbstbestimmung und gleiche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. In den vergangenen Jahren wurde der Reformdiskurs vielmehr auch mit Blick auf die repressive Marginalisierung und oft evidente Diskriminierung vor allem männlicher Homosexueller in muslimisch geprägten Gesellschaften verstärkt geführt.
Der in Münster lehrende Islamwissenschaftler Thomas Bauer hat gezeigt, dass "im Falle gleichgeschlechtlicher Lebensweisen (…) das islamische Recht mit Ausnahme" einiger "auf zweifelhafter Basis beruhender Strafvorschriften" der Scharia "bislang so gut wie nichts dazu zu sagen hat".
So behauptete Tariq Ramadan im Juli 2013, dass sich die islamischen Gelehrten darin einig seien, im Islam werde Homosexualität ähnlich wie in den beiden anderen großen monotheistischen Religionen Judentum und Christentum abgelehnt. Daraus dürfe aber nicht gefolgert werden, jemand könne kein wahrer Muslim sein, nur weil er homosexuell sei.
Viele der Muslime, die in dominant islamischen Ländern oder in europäischen Gesellschaften mehr oder minder offen ihre Liebe zu Menschen des gleichen Geschlechts leben, votieren religiös für einen irgendwie reformierten Islam.
Schluss
Im deutschen Islamdiskurs verbinden sich ganz unterschiedliche Hoffnungen und Erwartungen mit einer "Islamischen Reformation". Nicht selten wird auch unhistorisch abstrakt argumentiert und das Problem eskamotiert, ob sich eine höchst komplexe und vielgestaltige religiöse Protestbewegung des 16. Jahrhunderts überhaupt zum Modell für religionskulturelle Prozesse in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts erklären lässt. Oft bleibt zudem außen vor, dass der Islam einer heilsrelevanten Institution in der Welt entbehrt, ihm also ein Analogon zur Kirche fehlt, und sich die Rede von der "Reformation" deshalb nicht auf eine religiöse Institution beziehen lässt.
Der Islam in Deutschland ist in sich differenzierter, pluraler, als von Meinungsführern der Mehrheitsgesellschaft oft gesehen wird. Rufe nach mehr Reform werden bei den muslimischen, aufstiegsorientierten Mittelschichten Resonanz finden. Aber wo in den Moscheen ein "protestantisierter Islam" gelebt wird, werden zugleich die Auseinandersetzungen mit konservativen, "orthodoxen" Muslimen an Gewicht gewinnen.