Für die Bewohner der westlichen Welt scheint es keinen natürlicheren Umgang mit bedeutenden Ereignissen und wichtigen Gestalten der Geschichte zu geben als das Jubiläum, die gemeinschaftliche Feier an runden Jahrestagen. So bringt der Kulturbetrieb unaufhörlich Feiern zum Gedächtnis von Entdeckungen und Erfindungen, Schlachten und Revolutionen und so weiter, von Komponisten, Dichtern, Wissenschaftlern, Kirchenmännern, Politikern und anderen hervor. Damit hält er sie als Schlüsselereignisse und Schlüsselfiguren der eigenen Geschichte im kulturellen Gedächtnis der Gesellschaft – und hält sich selbst in Bewegung. Doch der Eindruck, diese Art des Umgangs mit bedeutender Vergangenheit sei selbstverständlich, geradezu naturgegeben, täuscht. Der Brauch, geschichtlicher Ereignisse und Gestalten regelmäßig feierlich zu gedenken, ist selbst eine Hervorbringung der Geschichte, und er ist keine 500 Jahre alt. Er verdankt sich der Reformation.
Mutter aller Jubiläen
Erfunden wurde das historische Jubiläum von protestantischen Universitäten, die im 16. Jahrhundert begannen, das Gedächtnis ihrer eigenen Gründung an runden Daten festlich zu begehen. 1617 gelang der bis dahin akademischen und lokalen Praxis der Sprung auf die große gesellschaftliche und internationale Bühne: mit dem ersten Zentenar von Martin Luthers Thesenanschlag von 1517, dessen Bedeutung als Schlüsselereignis der Reformation sowie der von ihr geprägten Geschichte überhaupt damit fixiert war.
Dem Erfolg dieser neuen Form des Feierns und Gedenkens konnte sich auch der konfessionelle Gegner nicht entziehen, ebenso wenig Gruppen, die an nichtkirchliche Ereignisse erinnern wollten. So wurde das Jubiläum zu dem allgegenwärtigen Element des kulturellen Lebens, als das wir es kennen. Insbesondere seit dem 19. Jahrhundert, der Zeit des Historismus, die das Jubiläum ebenso liebte wie das historische Denkmal, fand man überall in der westlichen Welt immer neue Anlässe für festliches historisches Gedenken, wobei man bevorzugt nun auch biografisches, an den Geburts- und Todestagen bedeutender Männer und gelegentlich auch Frauen festgemachtes Gedenken pflegte.
Freilich war eine solche Bereicherung und Befestigung des kulturellen Gedächtnisses keine bloße Beschäftigung mit der Vergangenheit. Vielmehr feierte jede Epoche, was sie an Großem und Bedeutendem auf das gefeierte Vergangene zurückführte – und damit, was sie für groß und bedeutend hielt. So wurden die Jubiläen zu gesellschaftlichen Großereignissen, in denen die jeweiligen Zeiten sich selbst inszenierten und die gefeierten Gegenstände immer neu in Szene setzten. Wenn also die Reformation zu diesen Gegenständen gehörte, dann deshalb, weil die feiernden Gesellschaften darin ein Schlüsselereignis der eigenen Geschichte sahen, in dessen Gedächtnis sie sich entscheidender Züge ihrer Gegenwart zu vergewissern suchten.
Geschichtsbild
Für das kulturelle Gedächtnis von Gesellschaften gilt ebenso wie für das menschliche Gedächtnis im Allgemeinen, dass es besonders an Personen und ihren Taten haftet. Das war bei den Jubiläumsfeiern zum Gedächtnis der Reformation nicht anders. Einen wesentlichen Bestandteil bildete von Beginn an die Erinnerung an die Reformatoren. Dabei gab es Unterschiede; denn die verschiedenen evangelischen Konfessionen sahen sich mit unterschiedlichen Protagonisten spezifisch verbunden, zudem gedachten einzelne Länder und Regionen der Männer, die die Reformation bei ihnen eingeführt hatten, als eigener Reformatoren. Keiner jedoch wurde so nachdrücklich, in so vielen konfessionellen Kontexten und so international gefeiert wie Martin Luther. Mit ihm hatte die Reformation begonnen, mit ihm war der als Symbol für das Ganze gefeierte Thesenanschlag verbunden, seine Lebensgeschichte bot besonders reiches Gedächtnismaterial, und so spielte er bei den Reformationsjubiläen von Anfang an eine hervorgehobene Rolle.
Mit der Zuspitzung der allgemeinen Jubiläumskultur auf biografische Daten und ihrer damit einhergehenden Personalisierung, die das 19. Jahrhundert brachte, wurde die Zentrierung auf Martin Luther im Luthertum, zum Teil auch darüber hinaus, umfassend; nicht allein die nun aufkommenden biografischen Lutherjubiläen, sondern alle Reformationsjubiläen wurden zu großen "Lutherevents". Luther wurde zum Spiegel, in dem Epoche um Epoche ihre höchsten Werte und Ziele zelebrierte und beschwor. Kurz, aus einer Gestalt der Geschichte wurde ein Geschichtsbild – oder besser, eine lange Bilderreihe.
Rettender Kirchenlehrer
Die ersten Jubiläen des 17. und 18. Jahrhunderts waren gesellschaftliche Großereignisse, in denen die Symbiose von Kirche, Kultur und politischem Gemeinwesen, die für das nachreformatorische Konfessionelle Zeitalter kennzeichnend war, in einer überbordenden Fülle von Gottesdiensten, akademischen Reden, Festschriften, sozialen Aktivitäten, Musikaufführungen, Theaterspielen, Feuerwerken, Dekorationen von Kirchen und Häusern und vielem mehr zur Darstellung kam. Gefeiert wurde so die evangeliumsgemäße Erneuerung der Kirche, die Befreiung von päpstlichem Irrtum und Joch.
Martin Luther war hier der neue Mose, der mit der wiederhergestellten wahren Lehre diese Erneuerung und Befreiung in die Wege geleitet hatte: "Alle Menschen groß und klein, die zur Erkenntnis gekommen sein des Evangeliums, Luthers Lehr’, die sagen Gott herzlich Lob und Ehr, daß sie erlebt dies Jubeljahr."
Aufklärer und Revolutionär
Bei dem Jubiläum von 1817, das mit derselben Fülle kirchlicher, akademischer, musikalischer und volksfestlicher Aktivitäten begangen wurde, war es nicht mehr der Kirchenlehrer Luther, den man rühmte. Die Aufklärung hatte ein neues Bild der Reformation gezeichnet und festgestellt, dass das Entscheidende an diesem Ereignis nicht auf religiös-kirchlichem Gebiet liege, sondern in seinen Wirkungen – die sich zunächst innerhalb der evangelischen Kirchen niedergeschlagen, aber längst von diesen gelöst und außerhalb ihrer weiter entfaltet, ja die ganze Menschheit ergriffen hätten:
Mit seiner in den Ablassthesen erstmals öffentlich vorgebrachten Kritik an der oktroyierten kirchlichen Lehre habe Luther die Aufklärung angestoßen, mit seiner Ablehnung der klerikalen Hierarchie die Mündigkeit aller befördert, mit seiner Bibelübersetzung zur allgemeinen Bildung angespornt, mit seiner Berufung auf das Gewissen vor dem Kaiser zu Worms Gewissensfreiheit und Toleranz das Tor geöffnet. Kurz, mit Luther "[brach] die Morgenröte eines freien Glaubens hervor".
Das heißt nicht, es hätte keine anderen Stimmen gegeben. Konfessionell-lutherische Kreise wiesen jenes Bild als Verzeichnung zurück, forderten eine entschlossene Orientierung an dem Theologen und Kirchenmann. 1817 war das erste Jubiläum, bei dem eine gewisse Pluralisierung des Bildes von Luther und der Reformation zum Ausdruck kam.
Doch aufs Ganze gesehen beherrschte in Europa, zumal in Deutschland, das Bild jenes Reformators das Feld, der mutig gegen die Tyrannei von Papst und Kaiser aufgestanden war und den Weg für Aufklärung, allgemeine Bildung, Gewissensfreiheit, Toleranz und Mündigkeit eröffnet hatte. Landauf, landab trat dieser Held in Statuen aus Erz und Stein den Menschen sichtbar vor Augen. Der Thesenanschlag vom 31. Oktober 1517, eigentlich nichts anderes als das reguläre Anbringen von Disputationsthesen am Schwarzen Brett der Wittenberger Universität, als welches die Tür der Schlosskirche diente, wurde zum expressiven Akt eines hammerschwingenden Revolutionärs stilisiert.
"Deutscher Luther"
Zu Luthers 400. Geburtstag 1883, dem ersten ausdrücklich seiner Person geltenden Großjubiläum, wurde dieser Revolutionär in Kirchen und Auditorien, auf Straßen und Plätzen, in mündlicher und schriftlicher Rede und mit viel Musik gefeiert. Dabei verband sich mit dem Lobpreis für die Früchte seines aufklärerischen Wirkens in Deutschland ein neues Motiv, das bislang allenfalls am Rande eine Rolle gespielt hatte: der "deutsche Luther", die Identifikationsfigur für das gerade zum Nationalstaat geeinte deutsche Volk. "Keine andere der neueren Nationen hat je einen Mann gesehen (…), der so in Art und Unart das innerste Wesen seines Volkes verkörpert hätte. (…) Wir Deutschen finden in alledem kein Räthsel [sic!], wir sagen einfach: Das ist Blut von unserem Blute", tönte der Berliner Historiker Heinrich von Treitschke in seinem Jubiläumsvortrag.
Der "deutsche Luther" drang in den folgenden Jahrzehnten immer stärker in den Vordergrund, bis er im Ersten Weltkrieg, in dessen Entscheidungsjahr 1917 die 400-Jahr-Feier der Reformation fiel, allgegenwärtig war. Es mangelte nicht an kritischen Stimmen, die die primär religiöse Rolle des Reformators herausstellten – "Nicht das Deutsche an Luther war die Hauptsache. Die Hauptsache war sein Evangelium"
Einer von vielen
Anders entwickelte sich der Lutherbilderreigen in den USA. Hier feierten die Lutheraner erstmals 1817 mit großem Aufwand ein Reformationsjubiläum und waren damit die ersten, die in dem noch jungen Staat die Geschichte der eigenen Konfession "zum Gegenstand der Erinnerungskultur machten".
Es war der der Jubiläumstradition des 17. und 18. Jahrhunderts entsprechende Kirchenlehrer Luther, der in solchen Tönen, überwiegend in deutscher Sprache und von Gemeinden, die an der Verbindung zu Deutschland festhielten, gepriesen wurde. Doch bei der Feier von 1817 hatte auch der "Aufklärer Luther" seine Advokaten und das ebenfalls in charakteristischer, dem US-Kontext angepasster Manier: Der als "glorious revolution" gepriesenen Reformation verdanke man die "happy effects" von Glaubensfreiheit, Mündigkeit und allgemeiner Bildung, und da die Glaubensfreiheit "parent of civil freedom" sei, verdanke man der Reformation indirekt auch die politische Freiheit – welche vor allem in den Vereinigten Staaten verwirklicht sei.
"This nobler German"
Das war beim Jubiläum von 1883 ganz anders. Der Grund lag nicht nur darin, dass es hier um die Feier von Martin Luthers Geburtszentenar ging, sondern auch in der Tatsache, dass die amerikanischen Lutheraner mittlerweile an Zahl und öffentlichem Gewicht zugenommen hatten. So wurde der Wittenberger Reformator nun in zahllosen Schriften und Reden gepriesen, von Lutheranern ebenso wie von Protestanten aus anderen Kirchen und auch, wenngleich nicht ohne Widerspruch, von US-amerikanischen Juden.
Dass man bei aller Betonung der internationalen und die Vereinigten Staaten besonders betreffenden Bedeutung Luthers immer die deutsche Herkunft des Reformators gewürdigt hatte, machte es 1917 beim Jubiläum schwieriger, in den USA enthusiastisch von Luther zu sprechen. Denn seit einem halben Jahr standen Deutschland und die Vereinigten Staaten miteinander im Krieg. Das Jubiläum wurde durchaus begangen, doch der Überschwang von 1883 war dahin. Vielfach wurde nun der Akzent mehr auf die religiös-theologische Seite von Luthers Wirken als auf die gesellschaftlichen "happy effects" gesetzt. Diese konnten gleichwohl auch weiterhin herausgestellt werden – nun freilich als solche, die sich in den Vereinigten Staaten und nicht in Deutschland durchgesetzt und die die USA, nicht Deutschland, zum wahren Erben Luthers gemacht hätten. Das zu betonen, war ein besonderes Anliegen der amerikanischen Lutheraner skandinavischen Hintergrunds, die ihren Glauben nicht als spezifisch deutsche Konfession kompromittiert und sich selbst nicht dem Verdacht politischer Illoyalität ausgesetzt sehen wollten. So mahnten sie ihre Glaubensgenossen, sich den übernationalen Luther nicht durch "intellektuellen Raub" nehmen zu lassen, und betonten, dass Luther und Thomas Jefferson "kinsmen" seien: "The religious liberty, which was won by the heroism of Martin Luther, was a precursor of the civil liberty which (…) 1776 has become our heritage."
Was Deutschland betraf, ließ sich in dieser Perspektive ein gutes, an Luther orientiertes von dem schlechten, jetzt Krieg führenden Deutschland unterscheiden. So konnten die Amerikaner von einem methodistischen Landsmann aufgefordert werden, "this nobler German" zu folgen und nicht "the modern sceptical and superstitious Germany which would germanize mankind with the help of Krupp guns, poison gases, and liquid fire"; in Erinnerung an "Luther, Kant, Lessing, Goethe, Schiller, Bach, Mendelssohn and Beethoven, Steuben, Herkimer, De Kalb, Carl Schurz und Franz Sigel" sollten sie aufschreien "against Kaiserism and despotism", wie Luther es mit seinen Worten "Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir" in Worms getan habe.
"Prophet der Deutschen"
In Deutschland schritt indessen der "deutsche Luther" weiter fort. Bei den Jubiläen der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, insbesondere 1921 bei der großen 400-Jahr-Feier von Luthers Auftritt auf dem Wormser Reichstag, sollte der "Held von Worms" dem militärisch geschlagenen, sich durch den Versailler Vertrag gedemütigt fühlenden, wirtschaftlich am Boden liegenden deutschen Volk Halt und Zuversicht geben.
Eine marginale Rolle spielte bei dem Jubiläum die sogenannte Judenfrage, was das antisemitische Hetzblatt "Der Stürmer" beklagte und mit dem wiederholten Vorwurf an die evangelische Kirche verband, sie "schweige" Luthers antijüdische Schriften wie schon immer auch jetzt "tot".
So verhallten jene Stimmen nicht ungehört, die den deutsch-völkischen Luther zurückwiesen und die ganze Tendenz, die Bedeutung Luthers an politisch-kulturellen Wirkungen zu bemessen, für unsachgemäß erklärten: Luther sei vielmehr, wie das unter anderem von dem Theologen Dietrich Bonhoeffer erarbeitete "Betheler Bekenntnis" betonte, "ein treuer Zeuge der Gnade Jesu Christi", und sein Dienst sei "nicht auf das deutsche Volk beschränkt".
Wegbereiter der proletarischen Revolution
Es verwundert nicht, dass das erste Lutherjubiläum nach dem Untergang des "Dritten Reiches", der wenige Monate nach der Niederlage erstaunlich festlich begangene 400. Todestag des Reformators 1946, ganz von diesem kirchlich-theologischen Lutherbild bestimmt war. Der "deutsche Luther" hatte gründlich ausgedient, nun erwartete man von dem Ausleger der Heiligen Schrift Aufrichtung im allgemeinen Zusammenbruch. Doch im selben Jahr begann mit der Neuauflage von Friedrich Engels "Der deutsche Bauernkrieg" von 1870 in der entstehenden DDR eine andere Linie, die Verbreitung und Prägung sozialistischer Lutherbilder. Zunächst im Gefolge Engels’ als "Fürstenknecht" denunziert, dem Thomas Müntzer als plebejischer Revolutionär gegenüberstand, wurde der Wittenberger Reformator in dem Maße, in dem der sozialistische deutsche Staat zu seiner Legitimierung positiver historischer Anknüpfungspunkte bedurfte, neu bewertet.
Der 450. Jahrestag der Reformation 1967 und vollends der 500. Geburtstag Martin Luthers 1983 wurden nicht nur von der Kirche begangen, sondern auch von staatlicher Seite mit großem Aufwand gefeiert.
"Vater im Glauben"
Was sich gleichzeitig im Westen diesseits und jenseits des Atlantiks abspielte, kann kaum auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden. Das Jubiläum von 1983 wurde auf allen Ebenen und mit Veranstaltungen aller Art gefeiert. Vielerorts gab es ebenfalls Lutherbriefmarken, nicht allein in der Bundesrepublik, sondern auch in anderen europäischen Ländern, darunter solche ohne lutherische Tradition, sowie in mehreren Staaten des amerikanischen Kontinents. Darin kam bildlich einmal mehr zum Ausdruck, dass man in dem Wittenberger Reformator eine Gestalt würdigte, die über den Raum der Kirche hinaus von weltweiter Bedeutung sei; welches Bild von Martin Luther genau hinter der Würdigung stand, konnte offen bleiben.
Zugleich wurden kritische Töne laut: In der Bundesrepublik prangerten evangelische Pfarrer und Medien besonders Luthers antijüdische Schriften an, und in den USA wurden diese nun erstmals einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Auffällig war die starke Beteiligung von Katholiken an diesem Jubiläum. Und sie prägten nochmals ein neues Lutherbild: Luther, der überkonfessionell gemeinsame "Vater im Glauben".