Seit fast 500 Jahren wird die Geschichte "der" Reformation geschrieben, umgeschrieben, fortgeschrieben. Die Zeitbindungen dieser Darstellungen sind unbestreitbar. Der Erkenntnishorizont jeder Generation führt zu stets neuen Nuancen des vermeintlich vollständig rekonstruierbaren historischen Prozesses. Eine abschließende Darstellung des "eigentlichen" reformatorischen Geschehens kann es also nicht geben. Zugleich löst sich die Geschichte der Reformation damit nicht in lauter Einzelereignisse auf. Vielmehr wird in den Wandlungen des Bildes von der Reformation ein roter Faden darin sichtbar, dass stets nach einem die Ereignisse bündelnden Proprium gesucht wurde.
Epochenbegriff
Mit Beginn der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung verwies der Berliner Historiker Leopold von Ranke (1795–1886) auf die Bedeutung der Wechselwirkung zwischen politischer und religiöser Entwicklung im 16. Jahrhundert und benannte sie als Charakteristikum der Reformationszeit (1517–1555) als eigenständige Epoche der Geschichte. In seiner "Deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation" von 1839 charakterisierte er die Reformation erstmals auch als nationales Ereignis, als prägend für die deutsche Geschichte. Die Spannung zwischen Reich und Territorien, in die die Reformation eingebunden war, wurde für Ranke zu einer zentralen Verständnisachse, die auch für seine Gegenwart erklärende Kraft entfaltete. Das Wesen der von Luther ausgelösten reformatorischen Bewegung habe darin gelegen, dass sie den nationalen Kern zum Bewusstsein brachte, der die Deutschen jenseits von äußerer Einflussnahme (Kaiser und Papst) und territorialer Kleinstaaterei zusammenzuführen vermochte.
Im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde der epochenprägende Charakter der Reformation als feste Deutungsgröße eng verbunden mit der Rolle, die der reformatorischen Bewegung für die Herausbildung des modernen Staates zugeschrieben wurde. Im Kontext des 400. Geburtstages Martin Luthers 1883 positionierten sich zwei führende Historiker inhaltlich und methodisch in diesem Sinne: Max Lenz (1850–1932) und Erich Marcks (1861–1938). In ausdrücklicher Absetzung von ihrem nationalliberalen Kollegen Heinrich von Treitschke (1834–1896), der in seiner Luthergedenkrede vor dem Hintergrund des Kulturkampfes die Reformation ausdrücklich als nationale Befreiungstat charakterisierte, betonten beide die Notwendigkeit der Unparteilichkeit historischer Forschung. Dazu beriefen sie sich im methodischen Verfahren auf Ranke ("Rankerenaissance"), ohne aber inhaltlich nur dessen Epigonen zu sein. Denn anders als Ranke betrachteten sie nicht mehr die "religiöse Verankerung der leitenden Tendenzen und Ideen eines Zeitalters"
Die Instrumentalisierung der Reformation für aktuelle Gesellschaftskonflikte erschien dieser Generation von Historikern methodisch nicht als fragwürdig. Reformation und Staatsbildung gehörten aufs Engste zusammen, deren Verzahnung war identisch mit dem Übergang zur Moderne. An dieser Interpretation hielten zahlreiche Wissenschaftler über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus fest. Was sich änderte, waren die Kontexte der Wahrnehmung. Eine der prägenden Persönlichkeiten, die für die Fortführung der Deutungstraditionen stand, war der Freiburger Historiker Gerhard Ritter (1888–1967). Die Reformation charakterisierte er als Epochenwende mit nunmehr europa- und universalgeschichtlichen Konsequenzen. Sie habe "das geistige und politische Schicksal des ganzen Abendlandes" verändert.
In den ausgehenden 1950er Jahren begann sich die dominante Interpretation der Reformation als Epochenzäsur langsam zu differenzieren. Dies war nicht zuletzt die Resonanz auf eine sich international und interkonfessionell öffnende Kommunikation unter (Kirchen-)Historikern. Erich Hassinger (1907–1992), Ritters Nachfolger in Freiburg, formulierte eine Zwischenposition, indem er die Zeitspanne zwischen 1300 und 1600 in seinem gleichnamigen Werk von 1959 als "Werden des neuzeitlichen Europa" beschrieb, in der dennoch die Reformation zu einer bedeutenden Veränderung beigetragen habe, wenn auch zu keiner "bis in die letzten Tiefen reichende[n] Veränderung im Abendland".
Protestantische kirchengeschichtliche Deutung
Die Vorstellung, dass die Reformation das Mittelalter und damit die Autoritätsgläubigkeit des Einzelnen überwunden habe, sodass sich der Aufbruch in die Neuzeit zielgerichtet habe vollziehen können, prägte lange das Selbstverständnis der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung. Im Kaiserreich verband sich damit auch die Hoffnung auf Überwindung einer Krise der protestantischen Frömmigkeit. Unter anderem deshalb dominierte die Frage nach der Bedeutung der Reformation für die Gegenwart.
Scharfe Kritik an dieser Engführung des Blickwinkels kam zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus den eigenen Reihen vonseiten des Berliner Theologen und Religionssoziologen Ernst Troeltsch (1865–1923). Anders als die bis dahin dominante Forschung befasste er sich intensiv mit den sozialen Aspekten der Reformation. Dazu gehörte nicht zuletzt die Erforschung sogenannter "Außenseiter der Reformation" wie die Täufer und Spiritualisten. Aus diesen unterschiedlichen Gruppen sei, so Troeltsch, die reformatorische Bewegung entstanden, sie sei eingebunden gewesen in eine spätmittelalterliche Autoritätskultur, die "auf dem Glauben an eine absolute und unmittelbar göttliche Offenbarung (…) in der Erlösungs- und Erziehungsanstalt der Kirche beruht".
Die deutsche Moderne habe deshalb, so Troeltsch, erst mit der aufklärerischen Forderung nach Gewissensfreiheit begonnen, die im Ergebnis auf die Trennung von Religion und Politik gezielt habe. Was für die Reformation insgesamt gelte, treffe erst recht auf Luther zu. Mit seinen politischen Ordnungsvorstellungen sei er dem spätmittelalterlichen patriarchalisch-ständischen Denken zutiefst verhaftet geblieben. Das sei auf seine "weltindifferente" Ethik zurückzuführen, "die vom einzelnen Christen nur den Glauben und die unmittelbare Nächstenliebe forderte, die Dinge der Welt aber ihren eigenen Gesetzen, d.h. einem rein positivistisch verstandenen Naturrecht der Macht überlässt".
Mit dieser Deutung war Troeltsch Teil eines zeitgenössischen internationalen "Denkkollektivs" aus Soziologen, Juristen, Historikern, Geografen und Nationalökonomen, denen es um eine methodisch nachvollziehbare Festlegung für den Beginn der Moderne ging. So verortete etwa der Berliner Jurist Georg Jellinek (1851–1911) den Ursprung der Menschen- und Bürgerrechte im Ringen um die Religionsfreiheit des 16. Jahrhunderts, die zwar mit der reformatorischen Bewegung begonnen habe, sich dann aber vor allem in den calvinistischen Niederlanden und Frankreich identifizieren lasse. Im Zusammenhang von Calvinismus und Demokratie liege der Ursprung der Moderne. Methodisch vergleichbar ließ auch der Soziologe Max Weber (1864–1920) in der Verzahnung von protestantischer Ethik und Kapitalismus im 16. Jahrhundert die Moderne beginnen.
Diese Debatten waren kein Beitrag zur Kirchengeschichtsschreibung im engeren Sinne, sie belegen aber die Relevanz der Reformation für die Fragestellungen, die die noch jungen Disziplinen der Soziologie und Kulturgeschichte seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts bewegten. Die Behauptung einer wesenhaften Verzahnung von theologischer Aussage und Herrschaftsordnung und dementsprechend von Luthertum und Untertanengeist (Troeltsch) entstand in diesem Forschungskontext. Diese These wurde zwar bereits von zeitgenössischen Forschern kritisiert. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aber wurden ihre Annahmen aus verschiedenen Perspektiven grundsätzlich infrage gestellt, etwa durch den Nachweis, dass es sowohl im europäischen Luthertum als auch im Katholizismus theologische Begründungen für ein Recht auf Widerstand gegen eine ungerechte Obrigkeit gegeben habe.
Troeltschs Lutherdeutung stieß im zeitgenössischen Luthertum auf überwiegend vehemente Kritik, widersprach er doch damit dessen Interpretation der Reformation als Beginn der protestantischen Moderne. Troeltsch ging es mit seiner Deutung nicht mehr um den Nachweis der Legitimität der nationalen Einheit des Kaiserreiches. Ihm lag vielmehr an einer Erneuerung des zeitgenössischen Protestantismus im Sinne einer Hinwendung zu seinen frömmigkeitsbezogenen und gemeindechristlichen Wurzeln. Ablehnung kam nicht nur vonseiten der konservativen Protestanten in Gestalt des Berliner Theologen Reinhold Seeberg (1859–1935), sondern auch der liberalen in Gestalt des Berliner Theologieprofessors Karl Holl (1866–1926). Damit begann die kirchengeschichtliche Neuorientierung der "Lutherrenaissance".
In einer Gedenkrede zum "Lutherjahr" 1917 untersuchte Holl die Gestalt des Reformators und wandte sich auch den reformatorischen Bewegungen unter der methodischen Prämisse zu, dass diese und Luther selbst nur unter den eigenen zeitgenössischen Rahmenbedingungen charakterisiert werden können.
Trotz des strikt auf Luther konzentrierten Reformationsbegriffs bei Holl fand eine Rückkehr zur nationalen Einbindung des Reformationsgedächtnisses im Sinne Treitschkes oder auch der Historiker der "Rankerenaissance" nicht statt. Zwar betonte Holl wie fast alle Zeitgenossen, dass das Luthertum für das deutsche Staatswesen integrierende Kraft besitze. Diese aber sah er in der gemeindezentrierten volkskirchlichen Tradition, die Luther mit seinem reformatorischen Aufbruch begründet habe. Damit argumentierte Holl ausdrücklich gegen jene Auffassungen, die die politische Ordnung des lutherischen Protestantismus stets mit der Obrigkeitskirche gleichsetzten.
Die protestantische Kirchengeschichtsschreibung der Zwischenkriegszeit hat an diesen Positionen keine wesentlichen Änderungen vorgenommen. Eine Lösung von der lutherzentrierten Arbeit und Hinwendung zur Epochendiskussion, die die Profanhistoriker intensiv führten, setzte erst nach 1945 ein. Forschungsprägend war hier gewiss die Studie "Reichsstadt und Reformation" des Göttinger Historikers Bernd Moeller von 1962. Die Frage, warum die reformatorische Theologie gerade im Stadtbürgertum des 16. Jahrhunderts eine so beeindruckende Resonanz fand, war neu, weil sie den Blick auf die Verzahnung von politischer Ordnung und reformtheologischer Kernaussage als frühneuzeitspezifisches Phänomen bezeichnete und sie nicht mehr als wesenhaft beschrieb. Mit der Charakterisierung der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Stadt als "corpus christianum im Kleinen" fasste Moeller seine kontextbezogene These prägnant zusammen. Kirchengemeinde und Bürgergemeinde waren identisch, das Teilhaberecht des Bürgers an der genossenschaftlichen Ordnung der Stadt entsprach dem gemeindechristlichen Verständnis der reformatorischen Theologie Luthers, das ohne klerikale Vermittlungsinstanzen sola fide, sola gratia (allein durch den Glauben, allein durch die Gnade) auskam. Die Kritik an dieser als "harmonisierend" beschriebenen Deutung der stadtbürgerlichen Realität des 16. Jahrhunderts kam besonders scharf vonseiten der angelsächsischen Forschung.
Damit war auch die kirchenhistorische Reformationsforschung in der international dominant werdenden Sozialgeschichtsschreibung der ausgehenden 1960er und 1970er Jahre angekommen. Dieses Forschungsinteresse war nicht zuletzt eine Antwort auf die zeitgleich in Ostmitteleuropa herrschende orthodox-marxistische Geschichtsforschung. Für die Debatten erwiesen sich die neue Vielfalt der Perspektiven und die methodische Konkurrenz als förderlich. Allerdings wurde rasch die Sorge der Kirchenhistoriker vor dem Verlust des theologischen Kerns des reformatorischen Geschehens laut: "Plakativ zusammengefasst wird jeweils das Geschehen der Reformation mit einem anderen sola gekoppelt, einem jeweils wechselnden Postulat nachgeordnet: Ohne Reich und Fürsten keine Reformation. Ohne soziale Krise keine Reformation. Ohne Stadt keine Reformation. Selbstverständlich muß dementgegen wieder Grundverständnis werden: Ohne Reformatoren keine Reformation."
Damit war das methodische Dauerthema der Reformationsforschung des 20. und 21. Jahrhunderts angeschlagen: Die strenge Kontextualisierung der reformatorischen Bewegung zeigt, dass jede Generation beansprucht, ihr eigenes Reformationsbild zu schreiben. Für die Historiker ist dies eine Grundeinsicht des Historismus, die Kirchenhistoriker aber beharren darauf zu fragen, was den Kern des reformatorischen Geschehens als epochenübergreifendes Phänomen ausmacht. Die Debatte um die Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zum 500-jährigen Jubiläum 2017 kreist exakt um diese Frage.
Katholische Perspektive
Die Erforschung der Reformation aus der Sicht des Katholizismus war lange fast ausschließlich eine Domäne der katholischen Kirchengeschichtsschreibung. Das änderte sich erst Mitte des 20. Jahrhunderts. Der protestantischen Forschung vergleichbar konzentrierte man sich zunächst auf die Person Luthers, dessen Bild durch die zeitgenössischen negativen Wertungen des Johann Cochläus (1479–1552) stark verzerrt war. Erschwert wurde eine objektivere Bewertung des Reformators auch dadurch, dass die Mehrzahl der katholischen Laien und der Klerus durch die "kleindeutsche Lösung" der Frage der staatlichen Organisation Deutschlands nach dem Krieg gegen Frankreich 1870/71 aufgrund der preußisch-protestantischen Dominanz konfessionell ausgegrenzt waren. Ihre Reserviertheit gegenüber dem neuen Staat änderte sich in der Kulturkampfatmosphäre der 1890er Jahre keineswegs. Die Forschungen zur Geschichte der Reformation sind ein getreues Abbild dieser Spannungen. Zum katholischen Historiker der Reformation wurde Johannes Janssen (1829–1891), der mit seiner achtbändigen "Geschichte des deutschen Volkes" eine vielgelesene Darstellung auch des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit vorlegte. Die Reformation erschien darin als Kontinuitätsbruch mit negativen Zügen: Der Niedergang des Alten Reiches und der Aufstieg der Territorialfürsten seien beschleunigt worden, doch habe die spaltende und zerstörerische Wirkung der reformatorischen Bewegung die spätmittelalterliche geistig-kulturelle Blüte beendet; Luther sei ein Ketzer und verantwortlich für den sozialpolitischen Aufruhr nach 1517.
Janssens Darstellung traf auf erbitterte Kritik durch die protestantische Reformationsgeschichtsschreibung. Seine methodisch interessanten Ansätze zur Berücksichtigung frömmigkeits- und sozialgeschichtlicher Überlieferung wurden vollständig verkannt. Auch die Bewertung der Folgen der Reformation, die für Janssen als entwicklungshemmende Teilung der deutschen kirchlichen Kultur erschien, wertet die Forschung heute, anders als seine Zeitgenossen, als bedenkenswert. Das gilt im Übrigen auch für die Ergebnisse der viel gelesenen katholischen Lutherdarstellungen durch den Dominikaner Heinrich Denifle (1844–1905) und den Jesuiten Hartman Grisar (1845–1932),
Die polemischen, kirchenpolitisch legitimierten Verurteilungen durch beide Seiten endeten erst ab den 1930er Jahren mit den Arbeiten der Bonner Theologen Hubert Jedin (1900–1980) und Joseph Lortz (1887–1975).
Marxistische Interpretation
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert hielt vor allem auch das Deutungsmuster der Reformation als "frühbürgerliche Revolution" die Forschung beständig in Bewegung. Die Fülle der durch die marxistische Herausforderung entstandenen Einzelforschungen hat den Kenntnisstand zur sozialen, wirtschaftlichen und theologischen Basis der Reformation erheblich gestärkt. Die Diskussion verschiedener Phasenmodelle, die im Laufe der Differenzierung des Konzepts vorgelegt wurden (etwa Volksreformation contra Fürstenreformation) hat den Blick für den Wandel von Trägergruppen und die unterschiedliche Intensität der Rezeption des theologischen Kernanliegens geschärft. Doch ist das Konzept der "frühbürgerlichen Revolution" Teil des universalistischen Geschichtsverständnisses des Historischen Materialismus, der sich als Weltanschauung versteht und eine begrenzte Diskussionsbereitschaft aufbringt. Für den heutigen Betrachter des Deutungsmusters wird deutlich, dass es bemerkenswert klare Zeitbindungen der verschiedenen Varianten des Konzepts gab. Die Diskussion unter den beteiligten Historikern, die sich zunächst als innerwissenschaftliche Differenzierung darstellte, erweist sich als Anpassungsleistung an Sachzwänge, die durch die politischen Vorgaben in der DDR produziert wurden.
Ausgangspunkt zur Bewertung von Reformation und Bauernkrieg als Elemente der weltgeschichtlichen Phase des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus, die sich in krisenhaften Zuspitzungen äußerte, waren die "Klassiker" des Historischen Materialismus, Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895); insbesondere Engels’ Arbeit "Der deutsche Bauernkrieg" von 1870 prägte das marxistische Bild von Luther und der Reformation. Marx und Engels betrachteten die deutsche Geschichte generell als eine "fortlaufende Misere",
Diese Grundthemen der marxistischen Reformations- und Lutherdeutung entfalteten sich nach dem Zweiten Weltkrieg insbesondere in der DDR. Aus der Gesamtschau auf 40 Jahre sozialistische Staatlichkeit und darin eingebundene Geschichtswissenschaft zeigt sich: Die Reformationsdeutung und die Luthermemoria sind ein fast makelloser Spiegel des sich wandelnden Verhältnisses der politischen Führung der DDR zu Begriff und Phänomen der deutschen Nation. Die drei Phasen, die sich grob unterscheiden lassen, sind den jeweils veränderten Bedingungen der staatlich-nationalen Identitätssuche zuzuordnen.
In der ersten, "antifaschistisch-demokratischen" Phase besaß das von Engels skizzierte Bild unveränderte Gültigkeit. Ab Beginn der 1960er Jahre veränderte sich die Reformations- und Lutherforschung im Zuge der Wendung zur nationalen Geschichtsschreibung: In dieser zweiten Phase wurde die unter Luthers Assistenz vollzogene "Fürstenreformation" der "Volksreformation" gegenübergestellt, die Thomas Müntzer angeführt habe. Die Einheit von Reformation und Bauernkrieg habe zur frühbürgerlichen Revolution geführt, die als Aufbruch der noch nicht ganz ausgereiften und deshalb "frühbürgerlichen" Kräfte etwa in den Städten und im Bergbau stattgefunden habe. Das aber galt nur für Deutschland. Mit dieser Interpretation vollzog sich eine sichtbare Veränderung gegenüber der Darstellung aus der ersten Phase: Sie betonte die nationale deutsche Komponente im historischen Prozess und ordnete Luthers reformatorisches Handeln in einen Traditionszusammenhang ein, der als positiv gelten konnte. Die subjektive Tat eines Einzelnen habe "objektiv fortschrittliche" Konsequenzen gehabt. Die dritte Phase begann um 1970, als sich in der Politik der Abgrenzung der DDR die "Nation neuen Typs" etablierte. Für die Historiker führte dies zur Veränderung ihres Verhältnisses zur Nationalgeschichte mit Konsequenzen auch für die Bewertung der reformatorischen Bewegung und der Person Luthers. Reformation und Bauernkrieg blieben in ihrer engen Verbindung zwar spezifisch deutsche Phänomene, ihre Wirkungen aber auf den Calvinismus und damit auf die europäische Geschichte seien nicht zu leugnen. Die frühbürgerliche Revolution verlor ihren nationalen Charakter, sie wurde zur "welthistorischen Etappe", die zudem nicht sogleich wieder gescheitert sei. In dieser Linie erhielt auch Luther eine neuerlich positive Bewertung – das "Lutherjahr" 1983 wurde gerade auch in der DDR aufwendig gefeiert.
Herausforderung Kontextualisierung
Seit den ausgehenden 1980er Jahren traten die sozialwirtschaftlichen Aspekte der Reformation zugunsten neuer Schwerpunkte in den Hintergrund. Gerade die intensive Auseinandersetzung mit der marxistischen Geschichtsschreibung, die nach 1989 an Bedeutung verlor, hatte die Grenzen des interessenfunktionalen Interpretationsmodells aufgezeigt. Es mehrten sich solche Arbeiten, die die mentalen Seiten entweder von Beteiligten oder von Abläufen des reformatorischen Geschehens in ganz Europa untersuchten,
In einem Streitgespräch zwischen Bernd Moeller, dem seinerzeitigen Erlanger Kirchenhistoriker Berndt Hamm und der Berliner Kirchenhistorikerin Dorothea Wendebourg ging es um die zentrale Frage nach dem theologischen Kern, der die Reformation "im Innersten" zusammenhält.
Für die zeitgenössische historische Reformationsforschung existiert unter dieser Voraussetzung ein grundsätzliches methodisches Problem. Selbst wenn die reformatorische Kernaussage eine bemerkenswerte Ausstrahlung in politische, rechtliche und soziale Problemfelder des 16. Jahrhunderts hatte, so gilt doch auch für sie, dass sie aus einem zeitgenössischen Kontext, der Frage nach dem gnädigen Gott, entstanden ist. Auch theologische Aussagen unterliegen historischem Wandel. Gerade daraus erhielt Luthers sola scriptura (allein durch die Schrift) seine befreiende Wirkung, wurde doch damit die Kritik an den Dogmen der römischen Kirche legitim. Unter dieser Hypothese kann es keine unmittelbaren Wirkungen der reformatorischen Theologie über Generationen hinweg und in andere geografische Räume hinein geben.
So lassen sich manche Entwicklungen seit dem 16. Jahrhundert mittelbar auf Anstöße aus der Reformationszeit zurückführen. Das gilt etwa für die mit der Sola-Theologie freigesetzte Unmittelbarkeit des Gläubigen zu seinem Gott, mit deren Hilfe einerseits die Kirchenhierarchie fragwürdig, andererseits eine Individualisierung der Religion beschleunigt und erleichtert wurde.
Die Historisierung der Ereignisabfolgen erscheint als eines der wichtigsten Ergebnisse der Forschung der vergangenen Jahrzehnte. Der Blick auf die Geschichte, für den Wandel und Kontexte entscheidend sind, lassen "Wesensmäßigkeiten" historischer Entwicklungen fragwürdig erscheinen. Damit öffnet sich manche Debatte des 20. Jahrhunderts erneut, etwa jene über das Gewicht vorreformatorischer Frömmigkeitsformen, über die Kontinuitäten zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit oder über die Frage, ob die Menschenrechte in der reformatorischen Theologie begründet wurden. Dogmatische Deutungen, ob von marxistischen Historikern oder Modernisierungstheoretikern, erleben in der aktuellen Debatte eine Relativierung.