Für einen diesseitig orientierten Menschen haben Jahrestage keinerlei mythische oder mystische Qualität mehr. Dennoch kann man die Frage im Titel dieses Textes produktiv beantworten: Historische Jubiläen bilden Anreiz und Gelegenheit dafür, geschichtliche Ereignisse oder Entwicklungen in dem doppelten Sinne zu "vergegenwärtigen", dass einerseits ihrer gedacht, also ein Andenken gepflegt beziehungsweise eine Traditionslinie kultiviert sowie andererseits die Frage untersucht und geklärt wird, was sie heute bedeuten und wie sie aktualisiert werden können. Dabei hängen beide Seiten in der jeweiligen Gegenwart deutlich zusammen: Traditionslinien sind immer erst herauszuarbeiten und oft geradezu auch zu "erfinden". Zugleich sind alle Vergegenwärtigungen entscheidend dadurch bestimmt, wie versucht wird, die jeweilige Gegenwart zu begreifen und zu artikulieren.
Dabei muss sich die Gegenwartsbedeutung jedes derartigen Jubiläums daran messen lassen, was es wirklich für die "Selbstverständigung" dieser Gegenwart beitragen oder sogar leisten kann. Mit Blick auf das Reformationsjubiläum 2017 und die seit 2008 zur "angemessenen Vorbereitung und Hinführung auf das Jubiläumsjahr"
Denn nicht nur vernachlässigen wir damit die anderen Reformatoren – bekanntlich waren etwa Johannes Calvin, Ulrich Zwingli, Martin Bucer, Thomas Müntzer und William Tyndale durchaus eigenständig – und sehen auch von den sich etwas später durchsetzenden Modernisierungsprozessen der katholischen "Restkirche" ab.
So waren etwa die Ausbreitung von Schriftkundigkeit, Buchdruck, "Kolportage" und Lesekreisen Teil des allgemeinen Hintergrunds dieser Zeit und damit auch ein einsetzender Prozess der Aufklärung durch die Verbreitung neuen Wissens und das Hinterfragen von Traditionen und Autoritäten. Selbst die Tendenzen zur Subjektivierung und Individualisierung auch der religiösen Massenkultur und damit der Kirchen lassen sich nicht auf die eigentlichen Reformations- und Gegenreformationsprozesse reduzieren, in denen sie damals ihren zugespitzten Ausdruck fanden. Ähnliches gilt für die Etablierung des souveränen Territorialstaates als vorherrschendes politisches Gebilde oder gar für die Durchsetzung eines sich auf eigener Grundlage entfaltenden Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital.
Aber auch wenn wir uns auf das Thema "Luther und die Reformation"
Warum der historische Stellenwert zu relativieren ist
Die Begrenztheit und zum Teil auch Problematik der Bedeutung des historischen Martin Luther lässt sich beispielhaft an drei Punkten verdeutlichen: Erstens an der von Luther erneuerten und zugespitzten These von der "Gnadenwahl" durch einen fremden, an nichts Menschliches gebundenen Gott, wonach es allein in Gottes vollkommen grundloser Dezision liegt, ob jemand Gnade erfährt oder verdammt wird. Diese These geht auf den Kirchenlehrer Augustinus (354–430) zurück und ist historisch also in der Phase des Untergangs des Römischen Reiches zu verorten. Aus dieser ging in Westeuropa eine "Reichskirche" hervor, die sich gegenüber den sich bildenden Einzelreichen verselbstständigte. Luther greift die These in einer historischen Phase auf, in der der Untergang des alten, feudal geprägten Europa bereits unumkehrbar im Gange ist, aber die neuen Strukturen des europäischen Systems der absolutistischen Monarchien allenfalls angelegt sind.
Als zweites Argument lassen sich die Aporien anführen, in die das von Luther propagierte Prinzip sola scriptura, wonach der Mensch allein durch die Schrift, sprich durch die Bibel, Gottes Wort empfängt und dafür keiner Auslegung und Vermittlung durch eine zwischengeschaltete Instanz bedarf, die Interpretationslehre geführt hat. Die Verwirklichung dieses Prinzips konnte sich zwar auf die neuen Möglichkeiten der Verbreitung der Bibel stützen, die die noch junge Technologie des Buchdrucks und den neuen Wirtschaftszweig des Verlagswesens damals eröffneten. Doch stellte es als Lektüreauffassung und -praxis insofern keinen wirklichen Fortschritt dar, als es die vielfältigen mündlichen Prozesse, die für eine produktive Lektüre Voraussetzung bleiben, als solche nicht adäquat artikulieren konnte. So sehr es auch einleuchtet, den Dogmatismus der tradierten Interpretation immer wieder "am Text" zu hinterfragen, muss eine Beschränkung auf die je individuell erlebten Evidenzen zu neuen Dogmatismen führen, die nicht mehr intersubjektiv, historisierend und interkulturell aufgelöst werden können. Es war daher auch kein Zufall, dass diese von Luther ausgehende Lesepraxis schließlich in eine "Hermeneutik" mündete, deren Offenheit zugleich immer auch auf vorhandene dogmatische Festlegungen verwies, anstatt in einem offenen Lektüreprozess alle Potenziale der behandelten Texte ans Licht zu bringen und kritisch diskutierbar zu machen.
Drittens muss die Konzentration auf die lutherische Reformation im Hinblick auf eine adäquate Thematisierung des Übergangs zur europäischen Moderne zu einem "germanozentrischen Tunnelblick" führen.
Nun kann ein moderner Protestant oder eine moderne Protestantin einräumen, dass es derartige problematische Aspekte bei Luther zwar gegeben habe, diese historische Seite aber eben nicht diejenige sein könne, an die heute wieder anzuknüpfen sei – vielmehr gehe es darum, andere, wirklich moderne Seiten Luthers entsprechend zu aktualisieren.
Warum die Aktualisierung nicht gelingt
Zwar sind Martin Luther und seine Dimension der Reformation unbestreitbar ein Bestandteil des Übergangs zur europäischen Moderne – wenngleich insbesondere der in der geschichtswissenschaftlichen Deutung nach wie vor vorhandene Überlagerungseffekt, der das Weiterwirken humanistischer und "spätscholastischer" Strömungen in und vor allem auch neben dieser Reformation in den Hintergrund gedrängt hat, dringend einer Korrektur bedarf. Doch ist mit guten Gründen anzufechten, dass sich heute mit Luther als Ausgangspunkt ein tragfähiger kritischer Zugang zu dieser Moderne gewinnen lässt. Selbst diejenigen Momente bei Luther, die auf den ersten Blick als geradezu elementare Bestimmungen von Modernität erscheinen und vermeintlich zu einer selbstkritischen Perspektive auf die Widersprüche der Moderne und dem heute erneut notwendigen öffentlichen Umdenken beitragen könnten, erweisen sich bei näherem Hinsehen als nicht unproblematisch.
So ist etwa Luthers Betonung der "Priesterschaft aller Gläubigen" nicht geradewegs als Vorläufer eines demokratischen Postulats zu interpretieren, wonach alle Menschen gleich und frei an politischen Entscheidungen zu beteiligen sind: Die Gläubigen sind hier eine durch die "Gnadenwahl" eines fremden Gottes konstituierte Minderheit von Auserwählten, und ihre Priesterschaft ist weniger als freie Subjektivität zu begreifen denn als vollständige Abhängigkeit von der göttlichen Willkür.
Auch Luthers unerschütterliche Überzeugung von der unmittelbaren Evidenz der eigenen Lektüre, wie sie sich in seinem Konzept der Klarheit der Schrift ausdrückt, lässt sich nicht wirklich in das moderne Postulat übersetzen, dass jedes Subjekt selber prüfen und beurteilen muss, was es letztlich zu glauben bereit ist. Denn Luther lässt hier keinerlei Spielraum für Skepsis und damit für eine ernsthafte kritische Prüfung: Für Luther bedeutete Zweifel schlicht "Sünde und ewiger Tod".
Wer dennoch bei Luther die Vorbereitung der demokratischen Prinzipien der kritischen Urteilsfähigkeit und der zu respektierenden Gleichheit und Freiheit aller Menschen im Entscheidungsfindungsprozess sehen will, sei auf dessen Lehren von der gebundenen "Freiheit eines Christenmenschen" und von dem gebotenen unbedingten Gehorsam gegenüber der jeweils gegebenen christlichen "Obrigkeit" verwiesen und herausgefordert, bei Luther etwa Kriterien dafür zu finden, diejenigen zutiefst antidemokratischen Interpretationen seiner politischen Theologie argumentativ auszuschließen, wie sie im 20. Jahrhundert zum Beispiel bei den nationalsozialistischen Deutschen Christen zu finden waren.
Grenzen von Jubiläen
Gemeinwesen können ihren Zusammenhalt nicht allein durch das Begehen entsprechender Jubiläen reproduzieren. Das ist ein komplexerer Prozess, in den Lebensperspektiven und materielle Interessen durchaus gewichtiger eingehen als die traditionale oder auch gegenwärtige Weitergabe und Verbreitung vorherrschender Deutungsmuster. Vermutlich wird es im Zuge der Lutherdekade allem staatlich geförderten Aufwand zum Trotz nicht einmal gelingen, durch eine top down organisierte Aktualisierung Luthers und der Reformation den schwächelnden protestantischen Kirchen in Deutschland eine neue Vitalität einzuhauchen, geschweige denn ihnen eine erneute Expansion in den Bevölkerungsschichten oder auch Regionen zu ermöglichen, die den christlichen Kirchen verlorengegangenen sind. Auch die vielen und durchaus eindrucksvollen Veranstaltungen des Jubiläumsjahres 2017 werden in dieser Hinsicht nicht mehr leisten können, als den längst vollzogenen Abschied von der kulturellen Hegemonie des Protestantismus in großen Teilen Deutschlands noch einmal fulminant zu illuminieren.
Und es ist, nüchtern betrachtet, auch keineswegs schade darum: Denn erst angesichts der letztlich zu relativierenden Bedeutung "Luthers und der Reformation" für die europäische Moderne einerseits und seiner Nachtseite mit ihrem Potenzial gerade für die schwarzen Linien der deutschen Geschichte andererseits wird überhaupt der Raum dafür frei, ernsthaft die Frage zu stellen, was wir heute aus der Aufarbeitung der europäischen Moderne für Kultur, Politik und Orientierungen einer globalisiert vernetzten Menschheit gewinnen können. Und für die Überwindung der vermeintlichen Alternative zwischen einem naiv liberalen Verständnis von Freiheit und einer einseitigen Betonung der Eingebundenheit moderner Subjektivitäten ist von Luther und der Reformation bestenfalls bedingt etwas zu lernen.
Noch einmal deutlich zusammengefasst: Vielleicht gibt es gute Gründe dafür, mit dem Reformationsjubiläum 2017 den Beginn der Moderne zu feiern. Aber Martin Luther war weder ein eindeutiger Pionier der Moderne noch der in ihr durchaus widersprüchlich angelegten Befreiungsperspektiven. Nichtprotestanten hat dieses Jubiläum daher nichts zu sagen. Selbst nichtlutherischen Protestanten wird durch die Feierlichkeiten eine irreführende Zentralperspektive aufgedrängt. Und die dringenden Probleme unserer Gegenwart würden auch durch eine "Reformation der Reformation" nicht einmal angegangen – also weder die globale ökologische Krise noch die neoliberale Zerstörung der westlichen Wohlfahrtsstaaten oder gar die Durchlöcherung der Weltfriedensordnung.
Etwa 500 Jahre nach dem Beginn der europäischen Moderne wäre es vielmehr geboten, zu reflektieren, welche Zerstörungen global und innerhalb der "westlichen" Gesellschaften mit dieser Moderne einhergegangen sind und wie sie überwunden werden können. Es gibt protestantische Befreiungstheologen, die an diesen Fragen arbeiten und dabei Anknüpfungspunkte bei Luther finden.
Deswegen lässt sich die Lutherdekade eben nicht als eine wirksame Aktualisierung der historischen Beiträge Luthers und der Reformation begreifen, für die er historisch steht – sondern eben nur als eine weitere Gelegenheit zum Diskurs. Und hier kann darauf vertraut werden, dass sich zwar große ideologische Apparate immer auch durch ihre materielle Ausstattung als solche reproduzieren können, dass sich aber Hegemonie für Diskurspositionen eben nicht durch Mitteleinsatz erreichen lässt: Sofern sie überhaupt Zugang zu öffentlichen Diskursräumen finden, entfaltet sich immer wieder die Kraft der guten Argumente.