"Fünf Stunden Selbstmitleid" titelte "Spiegel Online" am 15. Januar 2014, und fasste damit das Urteil US-amerikanischer Rezensenten über den ZDF-Dreiteiler "Unsere Mütter, unsere Väter" (Deutschland 2013) zusammen.
Debatten um Historienfilme
Dass gerade ein Format wie der Historienfilm Geschichtsdebatten auslöst, scheint zunächst befremdlich. Wird hier doch Geschichte in erkennbar fiktionalen Spielhandlungen thematisiert, die von vornherein gar nicht die Ansprüche an Authentizität stellen, die von Dokumentationen und fachhistorischen Abhandlungen üblicherweise eingefordert werden. Erklärbar ist das "Debattenpotenzial" der Historienfilme daher nicht allein aus der Popularität des Massenmediums – Historienfilme im Fernsehen erreichen oftmals hohe Einschaltquoten –, sondern vor allem aus dem spezifischen Zugang dieses Formates zur historischen Wirklichkeit. Der Fokus ihrer Geschichtsdarstellung liegt weniger auf einer exakten Rekonstruktion historischer Ereignisse als vielmehr auf der Bewertung und Deutung geschichtlicher Prozesse und Personen.
Sie stellen dabei Fragen, die die Fachhistorik in ihrem Selbstverständnis als positive Wissenschaft weitgehend aus ihrem Aufgabenbereich verbannt hat: Wer sind die treibenden Kräfte historischer Prozesse? Einzelne herausragende Persönlichkeiten, gesellschaftliche Gruppen, Nationen, Ideen oder ökonomische und ökologische Bedingungen? Sind Menschen nur Produkte ihrer Zeit, oder gibt es überhistorische moralische Normen, an denen das Agieren der Einzelnen gemessen werden kann? Gibt es hinter den permanenten Veränderungsprozessen in Kunst, Kultur und Politik einen Sinn oder gar einen verborgenen Plan?
Auf der Suche nach dem Sinn der Geschichte
Historienfilme, so die These, die ich hier näher begründen möchte, knüpfen damit unter den Bedingungen gegenwärtiger Medialität an ein geschichtsphilosophisches Denken an, das im 18. und 19. Jahrhundert die Beschäftigung mit Geschichte überhaupt erst legitimiert hatte. Die Geschichte, so Immanuel Kant, lasse, obgleich sie auf den ersten Blick "aus Torheit, kindischer Eitelkeit, oft auch aus kindischer Bosheit und Zerstörungssucht zusammengewebt" sei, doch hoffen, "einen regelmäßigen Gang derselben entdecken" zu können.
Während Hegel den Sinn der Geschichte in einer dialektischen Selbstentfaltung der Vernunft, mithin als einen Plan Gottes sah, der im modernen Staat kulminierte und diesen zugleich legitimierte, entwarf Karl Marx dazu einen materialistischen Gegenentwurf: Anstelle der göttlichen Vernunft waren für ihn die materiellen, ökonomischen Bedingungen jeder Gesellschaft und der Antagonismus der Klassen die treibenden Kräfte des Fortschritts. Und wo für Hegel die Vollendung der Freiheit als göttliche Vernunft der Zweck beziehungsweise das Telos der Geschichte war, verlegte Marx es in eine künftige klassenlose und kommunistische Gesellschaft.
Die Geschichtswissenschaft, wie sie sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts als eigene Wissenschaftsdisziplin – nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Aufstiegs der Naturwissenschaften – begründete, wollte dagegen mit jedweder Geschichtsphilosophie nichts mehr zu tun haben. Historiker wie Gustav Droysen, Jacob Burckhardt oder Leopold von Ranke verwarfen sie als bloße Spekulation und setzten auf eine methodisch begründete und strikt quellenbasierte Rekonstruktion der Vergangenheit.
Die Fragen nach dem Sinn der Geschichte und nach Maßstäben der Bewertung der historischen Akteurinnen und Akteure sind deswegen freilich nicht aus dem gesellschaftlichen Diskurs verschwunden. Gerade in den modernen Industriegesellschaften mit ihren einschneidenden Veränderungsprozessen und den dadurch geschaffenen Problemen gesellschaftlicher und individueller Identität und Orientierung werden die philosophischen Fragen an die Geschichte wieder aktuell – wie sehr sie auch von der Fachhistorik als wissenschaftlich unbeantwortbar klassifiziert werden.
Wenn Historienfilme diese philosophischen Themen neu verhandeln, dann tun sie das freilich nicht mit den Mitteln der klassischen Geschichtsphilosophie. Zielte diese darauf, die Komplexität der historischen Wirklichkeit "auf den Begriff zu bringen", also Geschichte im Medium der Sprache zu interpretieren, geht es beim Historienfilm um die visuelle Repräsentation der Geschichte als sinnhaften Prozess als solchen. Natürlich steht dem Film auch die Sprache zur Verfügung, etwa in Form von Erzählern aus dem Off oder in den Aussagen der Protagonistinnen und Protagonisten, aber spezifisch für das Medium sind die filmsemiotischen Mittel der Narration und der mise en scène durch Kameraführung, Beleuchtung und Perspektivenwahl. Der erzählerischen Struktur kommt in Historienfilmen dabei eine besondere Bedeutung zu. Diese selektiert dabei zunächst – wie das im Übrigen die Geschichtswissenschaft auch tut – die Fakten aus der historischen Überlieferung, die sie für bedeutend hält. Diese werden dann, oft entlang klassischer fünfaktiger oder dreiaktiger dramaturgischer Schemata, in einer prozessualen Abfolge angeordnet, die für die Zuschauerinnen und Zuschauer aus den einzelnen Ereignissen nachvollziehbare Geschichtsverläufe macht. Das heißt: Erst durch die narrative Struktur wird aus einzelnen Ereignissen eine Geschichte, die der Film erzählt und die zugleich auf die Geschichte als außerfilmische Wirklichkeit referiert.
Indem diese Geschichtserzählungen einen definierten Ausgangspunkt haben, meist eine Konfliktsituation oder ein bestimmtes Ereignis, und diese zu einem ebenso definierten Endpunkt entwickeln, postulieren Historienfilme Voraussetzungen, Strukturen und vermeintliche Ziele historischer Prozesse. Geschichte wird dadurch zu einem sinnhaften Ganzen, in dem die einzelnen Ereignisse und Personen in einem logisch konsistenten Zusammenhang miteinander verbunden sind. Zugleich zeigen die Filme in der Interaktion der Protagonisten untereinander und mit ihrer Umwelt Prozesse der Wandlung, Entwicklung, aber auch des Scheiterns, die auf die in der Geschichte insgesamt wirksamen Kräfte und Akteure verweisen.
Beispiele filmischer Geschichtsphilosophie
Dies lässt sich exemplarisch an dem von Sergej Eisenstein 1925 inszenierten Historienfilm "Panzerkreuzer Potemkin" zeigen. Im Rückblick und aus der Perspektive der erfolgreichen Revolution von 1917 schildert Eisenstein in seinem 70-minütigen Stummfilm eine Episode der gescheiterten Revolution von 1905. Erzählt wird die historisch verbürgte Geschichte des Panzerschiffes "Potemkin", auf dem es unter anderem aufgrund der schlechten Versorgung der Matrosen zu einer Meuterei kam. Nach Übernahme des Schiffes durch die Matrosen lief die "Potemkin" zunächst den Hafen in Odessa an, wo es bereits zu ersten Aufständen von Arbeitern und Bürgern gekommen war. Die geplante Unterstützung der lokalen Revolution, die bald von zaristischen Truppen niedergeschlagen wurde, scheiterte aber kläglich an der Konzeptionslosigkeit der rebellierenden Matrosen. Die "Potemkin" verließ Odessa und erreichte schließlich den rumänischen Schwarzmeerhafen Konstanza, wo die Meuterer Zuflucht suchten.
Eisenstein macht aus den Ereignissen ein filmisches Epos, das in komprimierter Form die Geschichtsphilosophie des Marxismus visualisiert. Die "Potemkin" wird zum Modell der vorrevolutionären Gesellschaft, in der sich zwei Klassen – die Matrosen und die Offiziere – unversöhnlich gegenüberstehen. Diese repräsentieren den Antagonismus der kapitalistischen und proletarischen Klasse, der für die marxistische Geschichtsauffassung konstitutiv ist. Die Meuterei zeigt den Konflikt zwischen den Klassen, der auf dem Schiff wie in der realen Geschichte weniger das Resultat der freien Entscheidung der handelnden Individuen als eine zwangsläufige Entwicklung auf Basis der materiellen Verhältnisse ist. Die Verelendung der proletarischen Massen wird in Eisensteins Film visuell eindrucksvoll durch das madenbefallene Fleisch symbolisiert, das die Offiziere den hungernden Matrosen geben. Und wie die reale Revolution gesetzmäßig mit dem Sieg der proletarischen Klasse endet, führt auch die Meuterei auf der "Potemkin" zwingend zum Sieg der Matrosen und zum Sturz der Offiziere. Die Analogie zwischen filmischer und realer Revolution illustriert Eisenstein mit einer roten Flagge, die auf dem Panzerschiff gehisst wird – ein besonderer Effekt im ansonsten schwarzweiß gedrehten Film. Für die nicht in der Theorie des Marxismus vorgebildeten Rezipienten, an die sich die Machthaber in der Sowjetunion mit dem Massenmedium Kino vor allem wandten, zeigt der Film den gesetzmäßigen Vollzug der Geschichte, ohne dass es dazu ein Verständnis philosophischer Begriffe bräuchte.
Nicht weniger vom Glauben an den Fortschritt bestimmt ist auch ein anderer Klassiker des Historienfilms, wenn auch unter anderen Prämissen: Stanley Kubricks "Spartacus" (USA 1960). Auch Kubrick orientiert sich an einer historisch verbürgten Geschichte, dem Sklavenaufstand im Römischen Reich unter Spartacus im Jahr 73 v. Chr. Diesem war es gelungen, mit anderen Gladiatoren aus der Gladiatorenschule in Capua zu fliehen und in ganz Italien Tausende von Anhängern zu finden. Nach einigen Erfolgen wurden die Aufständischen schon im folgenden Jahr in einer Schlacht in Süditalien besiegt, wo auch Spartacus fiel. Während sich Historiker bis heute mit der Einordnung des Aufstandes schwertun, macht Kubrick Spartacus zum Helden eines historischen Prozesses, dessen Ziel die Entfaltung der individuellen Freiheit ist. Zwar scheitert Spartacus, indem er – anders als in der historischen Realität – am Kreuz hingerichtet wird, aber er verpflichtet in einer pathetischen Schlussrede künftige Generationen dazu, für diese Freiheit zu kämpfen.
"Spartacus" und "Panzerkreuzer Potemkin" unterscheiden sich aber nicht nur im Telos, das sie für die Geschichte annehmen, sondern vor allem auch in der Einschätzung der geschichtswirksamen Kräfte. Sind es im Film von Eisenstein die materiellen Bedingungen, die den Prozess der Geschichte bestimmen, treiben bei Kubrick individuelle, von Idealen geleitete Persönlichkeiten den erhofften Fortschritt voran. Sie repräsentieren damit zugleich eine grundlegende Differenz zwischen einer materialistischen und einer idealistischen Geschichtsauffassung.
Eine zu beiden Konzeptionen gegensätzliche Geschichtsphilosophie vertritt dagegen, um ein drittes Beispiel zu nennen, Buster Keaton in seiner Komödie "Drei Zeitalter" (USA 1923). Für ihn gibt es in der Geschichte weder Fortschritt noch Verfall. Vielmehr ist es immer die gleiche Natur des Menschen, bestimmt durch die konkurrierenden Gefühle Liebe und Neid, die Menschen immer gleich handeln lässt. Dreimal erzählt er die gleiche Liebesgeschichte mit den gleichen Protagonisten, einmal in der Steinzeit, einmal in der römischen Antike und ein drittes Mal in seiner Gegenwart. Akteure der Geschichte sind weder Kollektive noch Individuen, sondern allein die Triebkräfte der menschlichen Natur, die keiner historischen Veränderung unterliegen. Buster Keaton vertritt damit einen anthropologischen Zugang zur Geschichte, wie er von vielen antiken Historikern, etwa Thukydides oder Herodot vertreten wurde: Nicht die historischen Wandlungen als solche sind in dieser Konzeption von Interesse, sondern die unveränderliche Natur des Menschen, die in ihnen sichtbar wird.
Auch in dem eingangs erwähnten "Unsere Mütter, unsere Väter" werden geschichtsphilosophische Fragen thematisiert. Wenn gezeigt wird, wie die Jugendlichen vom NS-System manipuliert und zu Täterinnen und Tätern "gemacht" werden, dann wird damit die moralische Verantwortung des Einzelnen in der historischen Situation relativiert, und werden zugleich politische Strukturen und Ideologien als die geschichtsbestimmenden Kräfte behauptet. Und wenn die Diktatur des "Dritten Reiches" und der Zweite Weltkrieg ohne Vorgeschichte als plötzliche Katastrophen in das Leben der Menschen treten, dann wird Geschichte nicht als kontinuierlicher, gar sinnhafter Prozess begriffen, sondern als Abfolge kontingenter Ereignisse, dem die Individuen weitgehend passiv ausgeliefert sind.
Historienfilme als geschichtsphilosophische Modelle
Historienfilme sind dabei freilich mehr als bloße Visualisierungen philosophischer Ideen – wenngleich sie das natürlich auch sind. Wie der Literaturwissenschaftler Jurij Lotman kann man den fiktionalen Film vielmehr als ein komplexes "modellbildendes System" sehen,
Indem sie Ereignisse und Personen nach diesen Prinzipien anordnen und daraus historische Prozesse gestalten, unterziehen sie geschichtsphilosophische Konzepte einer Art empirischem Plausibilitätstest: Nur wenn die Zeichnung der historischen Akteure psychologisch nachvollziehbar ist und die daraus folgenden Handlungen in sich konsistent sind und dabei den gesicherten Fakten nicht widersprechen, erscheint das zugrunde liegende philosophische Konzept auch denkbar. Damit können sie freilich keine Geschichtsphilosophie be- oder widerlegen, aber sie können sie als eine mögliche und damit auch zulässige Interpretation der Geschichte aufzeigen, die mit den Erkenntnissen der Fachwissenschaft zumindest vereinbar ist.
Dabei gelingt den Filmen, was keine begrifflich noch so fundierte Theorie vermag: Indem sie mit ihren Protagonisten den Zuschauern Identifikations- und Distanzierungsangebote machen, werden diese zu Augenzeugen, Miterlebenden und Mitakteuren von historischen Prozessen. Das Phänomen ist in der Medienforschung seit Langem als "Immersion" und "parasoziale Interaktivität" konzeptualisiert.
Aus Geschichte als abstrakter begrifflicher Konstruktion wird so ein emotional erlebbarer und moralisch klassifizierbarer dynamischer Prozess. Gegenüber der klassischen Geschichtsphilosophie vollzieht der Historienfilm damit gewissermaßen eine Umkehrung der Perspektive. Versucht die Geschichtsphilosophie von einzelnen Daten und Ereignissen möglichst zu abstrahieren und Begriffe zu bilden, die die empirische Vielfalt der Wirklichkeit subsumieren, zeigen Historienfilme die singuläre Wirklichkeit, die durch philosophische Prinzipien gestaltet wird. Und: Während Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie Geschichte als rationale Rekonstruktion begreifen, konzipieren Historienfilme sie als Erfahrungen einzelner Individuen, die die geschichtliche Wirklichkeit erleben.
Entsprechend werden von den Rezipienten unterschiedliche Perspektiven eingefordert: Während die klassische Geschichtsphilosophie von ihrer Leserschaft verlangt, dass sie die abstrakten Begriffe durch empirische Beispiele mit Leben füllt, fordern Historienfilme die Betrachter auf, aus den erzählten Geschichten die grundlegenden Prämissen abzuleiten und die begriffliche Abstraktion selbst zu leisten.
Der Geschichtsdidaktiker Rolf Schörken hat dieses Wechselverhältnis zwischen Narration und abstrakter Begriffskonstruktion, wenn auch nicht exklusiv für den Film, in Anlehnung an Paul Ricœur als das Verhältnis von "Refiguration" und "Rekonstruktion" vergangener Wirklichkeiten beschrieben, die aufeinander bezogen sind. Während die Geschichtswissenschaft die methodisch überprüfbare Rekonstruktion der Vergangenheit leistet, erbringen die Narrationen Vergegenwärtigung – die Refiguration –, ohne die ein individuelles Verstehen und Erfassen der Geschichte gar nicht möglich ist. Die Refiguration der Geschichte im Historienfilm bleibt damit auf die wissenschaftliche Rekonstruktion als nicht hintergehbare Basis jeder Geschichtsdarstellung angewiesen, geht aber zugleich darüber hinaus.
Fazit
Historienfilme sind, darin ist dem Geschichtsdidaktiker Hans-Jürgen Pandel zuzustimmen, wie alle Geschichtserzählungen "imaginierte Welten"
Insofern vertreten Historienfilme eine der Posthistoire adäquate Form der Geschichtsphilosophie. Jeder einzelne Film entwirft eine spezifische geschichtsphilosophische Idee, in ihrer Gesamtheit repräsentieren sie einen der pluralen Gesellschaft adäquaten, multiperspektivischen Zugang zur Geschichte. Historienfilme können so auch für die Geschichtswissenschaft Impulse für eine vertiefte Beschäftigung mit ihren Grundlagen liefern. Denn letztlich gilt für sie wie für die Historienfilme das Diktum des Historikers Hayden White: "Es gibt keine Geschichtsschreibung im eigentlichen Sinne, die nicht gleichzeitig Geschichtsphilosophie ist."