Europäische Union in der Krise
Sichtweisen und Bewertungen in acht Mitgliedstaaten
Wolfgang Franzen
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Die Sicht der Europäer auf die EU unterscheidet sich von Land zu Land. Der europäische Vergleich verdeutlicht die britische Sonderrolle und ein Nord-Süd-Gefälle, das geprägt ist von den unterschiedlichen Auswirkungen der Finanz- und Eurokrise.
Die Entscheidung der britischen Bevölkerung für einen Austritt aus der Europäischen Union kam für viele überraschend. Einige politische Kommentatoren sahen die Ursachen für den Austrittswunsch in der emotional geführten "Vote Leave"-Kampagne und den Protestaktionen gegen die politische Elite Londons – als hätte die Bevölkerung gegen ihre ureigenen Überzeugungen gestimmt. Doch wie denken die Menschen in Großbritannien wirklich über die EU? Stehen sie ihr wohlwollend, gleichgültig oder skeptisch gegenüber? Hat sie in anderen Mitgliedstaaten ein besseres oder ein schlechteres Image? Wie haben sich die Einstellungen im Zuge der Finanz- und Eurokrise der vergangenen Jahre verändert?
Antworten auf diese Fragen bietet das Eurobarometer, die repräsentative Bevölkerungsumfrage der Europäischen Kommission zur Dauerbeobachtung der öffentlichen Meinung in der EU. Mithilfe der Befragungsdaten wurden Einstellungen zur EU und ihren Institutionen in acht europäischen Ländern verglichen, die exemplarisch für die unterschiedlichen Regionen in Europa stehen: Skandinavien wird durch Schweden repräsentiert, Mitteleuropa durch Großbritannien, Deutschland und Frankreich, das postsozialistische Mittelosteuropa durch Tschechien und Südeuropa durch Spanien, Italien und Griechenland. Die Auswahl umfasst fünf Länder der Eurozone und drei Staaten mit nationaler Währung (Schweden, Großbritannien und Tschechien); somit berücksichtigt sie neben regionalen Unterschieden auch verschiedene Grade der europäischen Integration. Der Ländervergleich erstreckt sich über den Zeitraum der Eurokrise, von Januar 2009 bis Mai 2016.
Eurokrise: Image- und Vertrauensverlust
In den meisten Staaten hat sich das Image der EU mit Beginn der Eurokrise 2009 verschlechtert (Abbildung 1). Seit 2013 gewann die EU jedoch in allen Ländern wieder an Ansehen. In Großbritannien fiel das Urteil über die EU bereits Anfang 2009 deutlich schlechter aus als in den übrigen Staaten. Die griechische Bevölkerung hatte anfangs noch ein positives Bild von der EU. Es verschlechterte sich im Verlauf der Krise aber zunehmend – seit 2013 ist das Image der EU im europäischen Vergleich nirgendwo schlechter.
Auch das Vertrauen in die EU hat in den Krisenjahren zunächst deutlich nachgelassen, bevor es zwischenzeitlich wieder gestiegen ist. Während 2009 in den meisten Staaten zwischen 50 und 70 Prozent der Befragten der EU ihr Vertrauen ausgesprochen hatten, taten dies 2012 noch 20 bis 40 Prozent. Seit 2014 steigen die Werte wieder – in Schweden sogar bis zum Ausgangsniveau 2009. In Großbritannien hingegen hatten 2009 weniger als 30 Prozent der Befragten Vertrauen in die EU. Bis 2012 sank der Anteil auf knapp 18 Prozent, stieg aber in der Folgezeit und lag im Mai 2016 bei 34 Prozent.
Heute genießt die EU den größten Rückhalt in Schweden, Deutschland und Tschechien: Hier hat sich das Image der EU nach der Eurokrise wieder verbessert und der Vertrauensschwund konnte größtenteils ausgeglichen werden. Allerdings nahm Ende 2015 in allen acht untersuchten Staaten das Vertrauen angesichts der Flüchtlingspolitik erneut ab.
Der Stimmungswandel der Jahre 2012/13 zeigt sich auch in der Beurteilung der europäischen Politik (Abbildung 2): Zwischen 2009 und 2011 wuchs in allen untersuchten Ländern krisenbedingt der Anteil derer, die glaubten, dass sich die Dinge in der EU in die falsche Richtung entwickelten – in Großbritannien von 47 auf 78 Prozent und in Griechenland sogar von 32 auf 77 Prozent (im Mai 2012).
Zwischen 2012 und Mai 2015 nahm die Kritik am Kurs der EU in den meisten Ländern wieder ab, um anschließend bis Mai 2016 in die Höhe zu schnellen – in Reaktion auf die europäische Flüchtlingspolitik. In Griechenland und Frankreich war die Unzufriedenheit mit der EU seit 2013 vergleichsweise hoch. Während die griechische Bevölkerung weiterhin unter den Auswirkungen von Rezession und Reformmaßnahmen leidet, blicken die Menschen in Frankreich mit Sorge in die Zukunft: Im Mai 2016 befürchteten 71 Prozent der befragten Franzosen, die Wirtschaftskrise habe ihren Höhepunkt noch nicht erreicht und das Schlimmste stehe noch bevor. Nur in Griechenland war dieser Anteil mit 78 Prozent noch höher.
In Großbritannien hat sich die anfänglich weit verbreitete Ansicht, in der EU entwickelten sich die Dinge in die falsche Richtung, seit 2014 verringert. Die Entscheidung für den Brexit resultiert indes weniger aus einer Unzufriedenheit mit der europäischen Tagespolitik, sondern ist grundsätzlicher Natur. Während in Deutschland, Spanien und Schweden 2009 rund 60 Prozent der Befragten angaben, die EU-Mitgliedschaft sei gut für ihr Land, war in Großbritannien lediglich ein Drittel dieser Meinung – in keinem anderen EU-Staat war der Wert so gering. Das Gleiche gilt für die Identifikation mit Europa: Während sich die Menschen in Schweden, Deutschland, Tschechien und Spanien seit 2007 zunehmend auch als Europäerinnen und Europäer fühlen, definierten sich im Mai 2016 62 Prozent der befragten Briten ausschließlich über ihre Staatsangehörigkeit.
Flüchtlingskrise überlagert Eurokrise
Aufgrund der Eurokrise dominierten zunächst die schlechte Wirtschaftslage und die Arbeitslosigkeit die Rangliste der wahrgenommenen wichtigsten Herausforderungen (Abbildung 3). Ab 2013 verloren diese Themen jedoch an Bedeutung. 2015 drängte die Einwanderung die wirtschaftlichen Probleme in den Hintergrund. Nach den terroristischen Anschlägen in Paris und Brüssel sahen im Mai 2016 sogar 38 Prozent der Befragten in den acht Staaten im Terrorismus ein ernstes Problem für Europa.
Zwischen Mai und November 2015 stieg die Einstufung der Migration als größte Herausforderung für die EU im Mittelwert der acht Staaten von 41 auf 58 Prozent. Fünf Jahre zuvor hatten lediglich 9 Prozent der Befragten in der Einwanderung eine zentrale Bedrohung gesehen.
Bis Ende 2012 unterschieden sich die Staaten kaum in ihrer Bewertung der Migration. Am ehesten wurde sie in Großbritannien und Tschechien als Problem wahrgenommen, von jeweils rund 14 Prozent der Befragten. Im Laufe der Jahre stiegen die Werte deutlich und erreichten Ende 2015 ihre bisherigen Höhepunkte: in Deutschland und Tschechien mit je 76 Prozent und in Schweden mit 74 Prozent. Großbritannien nahm mit 61 Prozent einen mittleren Platz ein, während Spanien mit 39 Prozent das untere Ende der Rangliste markierte. Während also in Nord- und Mitteleuropa die Einwanderung ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt ist, leidet die Bevölkerung in Südeuropa weiterhin stärker unter den Folgen der Finanz- und Eurokrise.
Was verbinden die Menschen mit der EU?
Die EU wird von ihren Bürgerinnen und Bürgern häufig mit der Reise- und Arbeitsfreiheit in Verbindung gebracht, dem Freizügigkeitsrecht innerhalb der Union. Dieses Recht war in den Debatten um einen möglichen Brexit von großer Bedeutung: EU-Skeptiker in Großbritannien kritisierten die Zuwanderung polnischer Arbeitskräfte und nutzten sie als Argument für einen Austritt aus der Union.
Vor allem in Schweden und Deutschland steht die EU für das Recht auf Freizügigkeit: Im Mai 2016 empfanden dies 72 Prozent der schwedischen und 58 Prozent der deutschen Befragten (Abbildung 4). In Italien und Großbritannien war diese Verknüpfung mit 33 beziehungsweise 45 Prozent am schwächsten ausgeprägt – 2011 hatte der Wert in Großbritannien sogar bei nur 26 Prozent gelegen.
Viele Europäer assoziieren mit der EU auch den Euro. In allen acht Staaten werden außerdem häufig die kulturelle Vielfalt und der Frieden genannt. Vor allem in Schweden und Deutschland gilt der Frieden als wichtig (47 beziehungsweise 42 Prozent).
Als größte Errungenschaft der EU wurde im Mai 2016 der Frieden zwischen den Mitgliedstaaten genannt: etwa von der Hälfte der Befragten in Deutschland und Schweden und mindestens einem Drittel in Frankreich, Großbritannien, Tschechien und Griechenland. In Italien wurde noch vor dem Frieden der freie Verkehr von Personen, Waren und Dienstleistungen angeführt. Während sich die Wertschätzung des Friedens im Zeitraum der Krise nur wenig verändert hat, wird der freie Personen- und Warenverkehr seit 2011 besonders in den südeuropäischen Ländern hervorgehoben.
Erwartungen an die EU
Im Eurobarometer 2012 wurden die Teilnehmer nach ihren Hoffnungen und Wünschen an die EU gefragt – und zwar ohne Antwortvorgaben. Sie nannten dabei in erster Linie die Schaffung von Arbeitsplätzen und den Kampf gegen die Krise (insbesondere in den Mittelmeeranrainerstaaten) sowie die Kooperation und Solidarität unter den Mitgliedstaaten (vor allem in Schweden, Italien und Deutschland). Die unterschiedlichen Auswirkungen der Finanz- und Eurokrise auf die Staaten offenbaren ein europäisches Nord-Süd-Gefälle: Während sich die Wirtschaft in Nord- und Mitteleuropa relativ rasch erholte, leidet der Süden noch heute unter hoher Arbeitslosigkeit und wachsender Armut. Dies drückt sich auch in den Erwartungen an die EU aus: Der Süden hofft auf eine Überwindung von Rezession und Arbeitslosigkeit, während der weniger krisengeschüttelte Norden eher postmaterialistische Ziele verfolgt. Eine Sonderrolle nimmt Großbritannien ein: Hier nannten mit Abstand die meisten Befragten (22 Prozent) ausdrücklich "Nichts". Weitere 15 Prozent konnten keine dezidierte Antwort geben. Erst an dritter Stelle rangierten konkrete Angaben wie finanzielle Stabilität, Sicherheit, Finanz- oder Bankenhilfe (11 Prozent).
Zwischen 2009 und 2014 wurde im Eurobarometer gefragt, wem die Menschen am ehesten die Bewältigung der Krise zutrauten. Die meisten Befragten setzten dabei auf die EU, vor allem in Schweden, Deutschland und den mediterranen Staaten. In Südeuropa ist das anfänglich hohe Vertrauen in die Krisenkompetenz der EU im Laufe der Jahre etwas zurückgegangen. In Großbritannien war es konstant gering. In Tschechien setzte die Bevölkerung an erster Stelle auf die Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G20).
Konkrete Maßnahmen zur Bewältigung der Krise stießen in den Ländern auf unterschiedliches Echo: Vor allem in Spanien und Deutschland erhofften sich die Menschen von der EU eine stärkere Regulierung der Finanzmärkte, die Kontrolle internationaler Finanzkonzerne und die Einführung einer Finanztransaktionssteuer. In Schweden und Großbritannien fiel die Zustimmung zu diesen Maßnahmen geringer aus als in den übrigen Ländern. Weitgehende Einigkeit herrschte hinsichtlich der Einführung schärferer Regeln gegen Steueroasen – mit Ausnahme Italiens, wo dies merklich seltener gefordert wurde. Ein deutliches Nord-Süd-Gefälle in Europa zeigte sich in der Bewertung von Eurobonds, die in Deutschland, Schweden, Großbritannien und Tschechien abgelehnt, in Frankreich und Südeuropa aber begrüßt wurden.
Vertrauen und politische Verortung
Das Nord-Süd-Gefälle spiegelt sich auch in den politischen Einstellungen der Menschen wider. In Schweden veränderte sich das Vertrauen in die eigene Regierung zwischen 2009 und 2014 kaum: Rund 60 Prozent der Befragten gaben an, dass sie ihrer Regierung vertrauten. Seit 2015 ist dieser Wert jedoch gesunken und erreichte im Mai 2016 nur noch 47 Prozent. In Deutschland ist das Vertrauen nach einem kurzen Rückgang zunächst gewachsen, dann erneut geschrumpft und lag Mitte 2016 bei 41 Prozent. Der britischen Regierung sprach zuletzt nur ein gutes Drittel der Bevölkerung das Vertrauen aus. In Südeuropa sind die Vertrauenswerte mit der Krise abgestürzt – in Spanien um über 30 Prozent, in Italien und Griechenland um 20 Prozent. Auch die neue Regierung unter Alexis Tsipras konnte das Vertrauen im Jahr 2015 nur vorübergehend steigern. Allenfalls ein Fünftel der südeuropäischen Bevölkerung traut der eigenen Regierung.
Ähnlich verhält es sich mit dem Vertrauen in die politischen Parteien. In Nord- und Mitteleuropa ist das Image der Politiker zwar nicht gut, aber im europäischen Vergleich noch am besten: In Schweden und Deutschland traut etwa jeder Vierte den Parteien. In beiden Ländern hat sich das Parteienimage zu Beginn der Krise verbessert und anschließend wieder verschlechtert. In Großbritannien ist seit 2009 ein positiver Trend erkennbar, auch wenn der Anteil nicht über 18 Prozent hinausgeht. Auf ähnlichem Niveau bewegt sich Tschechien. In den mediterranen Ländern haben die Politiker das Vertrauen der Bevölkerung fast vollständig verloren. In Frankreich, Spanien und Griechenland vertrauen weniger als 10 Prozent den Parteien. Lediglich in Italien hat sich das Image der Parteien zuletzt gebessert.
Das politische Spektrum hat sich im Laufe der Krise in den acht Staaten geringfügig nach links verschoben. Auf einer Links-Rechts-Skala von 1 (links) bis 10 (rechts) zeigt sich das Ausmaß mit 0,4 Punkten am stärksten in Griechenland (Abbildung 5). In den übrigen Ländern fallen die Veränderungen schwächer aus: Italien und Großbritannien haben sich leicht nach links verschoben, während Frankreich und Deutschland etwas mehr nach rechts gerückt sind. In Tschechien, Spanien und Schweden haben sich die Verschiebungen im politischen Spektrum über die Jahre hinweg weitgehend ausgeglichen.
Das Misstrauen, mit dem die Menschen in vielen EU-Staaten den etablierten Parteien und Politikern begegnen, fördert die Chancen kleinerer, teils neuer Parteien, die nicht selten euroskeptische Positionen vertreten. Dieser Vertrauensverlust erklärt zum Teil die Wahlerfolge von Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien, der UKIP in Großbritannien, der Fünf-Sterne-Bewegung in Italien und des Front National in Frankreich.
Fazit
In den Daten Eurobarometers zeigt sich ein europäisches Nord-Süd-Gefälle, das im Zusammenhang mit den unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Finanz- und Eurokrise steht. Zwar hat die EU in den ersten Krisenjahren in allen acht untersuchten Staaten an Vertrauen und Ansehen verloren. In Nord- und Mitteleuropa hat sich das Image der EU jedoch nach einem anfänglichen Schock wieder verbessert. Dagegen leidet die Bevölkerung im mediterranen Europa weiterhin unter den Auswirkungen der Krise, was sich teilweise in hoher Unzufriedenheit mit dem (wirtschafts-)politischen Kurs der Union ausdrückt.
Die Befunde heben auch die britische Sonderrolle in den politischen Einstellungen hervor, die von grundsätzlicher Skepsis gegenüber der EU und einer Betonung der nationalen Souveränität geprägt ist. Das Ergebnis des britischen Referendums mag durch eine Protesthaltung gegen die politische Elite oder die "Vote Leave"-Kampagne verstärkt worden sein. Es basiert aber gleichzeitig auf tief liegenden euroskeptischen Überzeugungen, dem Glauben an die Stärke der eigenen Nation und an die eigene Unabhängigkeit. Die Finanz- und die Flüchtlingskrise wirkten vor diesem Hintergrund wie Tropfen, die ein schon reichlich gefülltes Fass zum Überlaufen brachten.
In der Diskussion um ein aufkeimendes Nationalbewusstsein innerhalb der EU-Mitgliedstaaten wurde bereits über den Austritt weiterer Länder wie etwa Frankreich oder Tschechien spekuliert. Die Daten des Eurobarometers bezüglich der acht untersuchten Staaten weisen tatsächlich auf eine wachsende Unzufriedenheit mit der EU hin. Diese wird aber vor allem von aktuellen politischen Entwicklungen bestimmt – nicht zuletzt von der Flüchtlingsproblematik, die derzeit die Finanz- und Eurokrise in den Hintergrund drängt. Es wird sich zeigen, ob die EU in der Lage ist, auch diese neue Herausforderung zu bewältigen. Und ob sie es schaffen kann, das Vertrauen der Europäer wieder zurückzugewinnen.
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsstelle für empirische Sozialökonomik e.V. Zu seinen Schwerpunkten gehören die Systemtransformation in Osteuropa und die Steuerpsychologie. E-Mail Link: franzen@fores-koeln.de
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