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Am Rande der Verfassungskrise? | Brexit | bpb.de

Brexit Editorial Die verlorene Wette. Entstehung und Verlauf des britischen EU-Referendums Europa und das Vereinigte Königreich. Kleine Geschichte der Beziehungen seit 1945 Uneiniges Königreich? Großbritannien nach dem Brexit-Votum Am Rande der Verfassungskrise? Die rechtliche Grundlage des Brexit Doch nicht wie ein Fahrrad. Desintegrative Momente der europäischen Einigung Europäische Union in der Krise. Sichtweisen und Bewertungen in acht Mitgliedstaaten

Am Rande der Verfassungskrise? Die rechtliche Grundlage des Brexit

Sionaidh Douglas-Scott

/ 19 Minuten zu lesen

Was ist erforderlich, um das Ergebnis des Brexit-Referendums umzusetzen und was muss rechtlich gesehen auf eine Abstimmung für den EU-Austritt folgen? Weder die europäische Gesetzgebung noch die Abstimmung selbst fungieren in irgendeiner Weise als Leitlinie.

Das Vereinigte Königreich wird als erster Staat aus der Europäischen Union austreten. Am 23. Juni 2016 stimmte eine Mehrheit von 51,9 Prozent der Wählerinnen und Wähler Großbritanniens dafür, die EU zu verlassen. Die zur Abstimmung vorgelegte Frage lautete: "Sollte das Vereinigte Königreich Mitglied der Europäischen Union bleiben oder aus der Europäischen Union austreten?"Um die EU zu verlassen, muss Großbritannien das in Artikel 50 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) niedergelegte Verfahren durchlaufen.

Unbeantwortet bleibt dabei, was eigentlich erforderlich ist, um das Ergebnis des Referendums umzusetzen. Vor allem aber ist unklar, was die viel zitierte Aussage "Brexit heißt Brexit" bedeutet. Was muss rechtlich gesehen auf eine nationale Entscheidung für den EU-Austritt folgen? Weder die britische Gesetzgebung zu Referenden noch die Abstimmung selbst fungieren in irgendeiner Weise als Leitlinie dafür, wie die zukünftige Beziehung des Vereinigten Königreichs zur EU oder zu anderen Staaten aussehen könnte. Die der Wählerschaft vorgelegte Frage war binär, und die Wählerschaft stimmte lediglich dafür, die EU zu verlassen. Es gab keinerlei Zustimmung zu irgendeiner bestimmten Austrittsvereinbarung.

Manche, die für den Austritt stimmten, mögen eine Lösung "im norwegischen Stil" wünschen. Das würde die Mitgliedschaft im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) bedeuten, mit Zugang zum Binnenmarkt und der damit einhergehenden Freizügigkeit. Diese Lösung ist mittlerweile umgangssprachlich als "weicher Brexit" bekannt. Für andere Befürworter des Austritts jedoch war die Beendigung der Freizügigkeit und damit die Reduzierung der Einwanderung entscheidend. Diese Fragen wurden der Bevölkerung im Referendum jedoch nicht zur Wahl gestellt.

Artikel 50 EUV

Artikel 50 ist die Bestimmung im EUV, die einen Austritt aus der EU ordnet. Er wurde 2009 durch die Änderungen des Vertrags von Lissabon in den EUV eingefügt und schreibt Einzelheiten zu Austrittsverhandlungen vor. Er regelt, wie die EU ihre Seite der Verhandlungen zu gestalten hat und schreibt die Abstimmungsmodalitäten für eine Vereinbarung (qualifizierte Mehrheit) beziehungsweise für die Fristverlängerung (Einstimmigkeit) vor. Der Artikel entscheidet zwar über die Rahmenbedingungen der Trennung, nicht jedoch über die Einzelheiten einer zukünftigen Handelsbeziehung des Vereinigten Königreichs mit der EU, die in einer weiteren Vereinbarung zu regeln ist.

Das Vereinigte Königreich hat unmittelbar nach dem Referendum kein formales Austrittsgesuch gemäß Artikel 50 EUV gemacht, wird dies aber laut Premierministerin Theresa May Anfang 2017 tun. Obwohl die EU das Vereinigte Königreich dazu drängt, zügig zu handeln, hätte Abwarten gewisse Vorteile: Es würde der Ministerin mehr Zeit einräumen, eine Verhandlungsstrategie zu formulieren, die es momentan (November 2016) nicht gibt. Die Zweijahresfrist für den Austritt beginnt erst mit der formalen Erklärung. Wenn das Vereinigte Königreich erst einmal diese Mitteilung gemacht hat, kann es nach zwei Jahren von der EU ausgeschlossen werden, auch wenn keine Austrittsvereinbarung geschlossen wurde – sofern keine Einstimmigkeit für die Verlängerung der Frist herrscht.

Artikel 50 Absatz 1 des EUV lautet: "Jeder Mitgliedstaat kann im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten." Im Vorfeld der Verhandlungen muss also zunächst ein Verständnis davon entwickelt werden, was mit den "verfassungsrechtlichen Vorschriften" des betreffenden Mitgliedstaats gemeint ist. Als innerstaatliche Angelegenheiten können diese Vorschriften nicht von der EU diktiert werden und müssen gemäß dem britischen Verfassungsrecht geregelt werden. Leider ist das britische Verfassungsrecht hierzu unklar, unter anderem weil es im Vereinigten Königreich keine kodifizierte Verfassung gibt – also kein einzelnes Dokument –, die die Angelegenheit behandelt. Somit ist der Brexit-Prozess schon kompliziert, bevor Artikel 50 überhaupt greift. Ohnehin kann der vom britischen Volk im Referendum gefällte "Beschluss" kein "Beschluss" im Sinne des Artikels 50 sein. Etwas Offizielles ist erforderlich. Die Premierministerin behauptet, die britische Regierung habe aufgrund des königlichen Hoheitsrechts die erforderliche Macht, den Austritt gemäß Artikel 50 zu beschließen, und Minister seien für die Verhandlungen verantwortlich.

Welche Rolle aber spielt das britische Parlament dabei? Nach britischem Recht ist das Parlament an der Ratifizierung von Verträgen beteiligt. Somit wäre es unausweichlich involviert, da mit dem EU-Austritt auch das Gesetz zu den Europäischen Gemeinschaften von 1972 aufgehoben werden müsste. Nach Auffassung des Verfassungsausschusses des House of Lords kann das Parlament verlangen, dass eine Zustimmung eingeholt wird, noch bevor die Premierministerin das Verfahren nach Artikel 50 EUV einleitet. Diese Ansicht äußerte der Ausschuss in seinem Bericht vom September 2016. Wenn es beim EU-Austritt – wie oft behauptet – um die Wiedererlangung der Selbstbestimmung und Wiedergewinnung des parlamentarischen Hoheitsrechts ginge, sollte das Parlament in diesem Verfahren keine Schlüsselrolle spielen?

Beim Beitritt Großbritanniens zu den Europäischen Gemeinschaften wurden 1972 die britischen Beziehungen zur EU und die Verschränkung des britischen Rechts mit dem EU-Recht in einem Gesetz geregelt. Im Falle des Brexit wird das Parlament dieses Gesetz aufheben und eine neue Gesetzgebung einführen müssen. In Ermangelung einer kodifizierten Verfassung und angesichts der Tatsache, dass Artikel 50 noch nie zur Anwendung gekommen ist, sind die verfassungsrechtlichen Vorschriften unklar. Dass es hierzu Rechtsstreitigkeiten gibt, überrascht nicht: Zahlreiche Argumente sind vorgebracht worden, um zu begründen, warum das Parlament an der Entscheidung, das Verfahren nach Artikel 50 einzuleiten, beteiligt sein soll, und viele davon wurden im Oktober 2016 in Rechtsstreitigkeiten vor dem High Court erörtert.

Erfolgreiche Klage

Im November 2016 gewann Gina Miller, eine britische Fondsmanagerin, vor dem Londoner High Court of Justice eine Klage gegen die Rechtmäßigkeit des Vorgehens der britischen Regierung. Das Gericht stimmte den Argumenten zu, dass es dem grundlegenden Prinzip der Parlamentssouveränität zuwiderlaufe, wenn die Regierung das Verfahren nach Artikel 50 EUV auf Grundlage des königlichen Hoheitsrechts einleite und sich dadurch über eine Gesetzgebung hinwegsetze, die vom Parlament verabschiedet wurde. Wenn London die formale Mitteilung gemäß Artikel 50 einreiche, wären bei Abschluss des Austrittsverfahrens jene Rechte zwangsläufig verloren, die durch das Gesetz zu den Europäischen Gemeinschaften in das britische Recht integriert wurden. Deshalb darf die Regierung auch ohne Rückgriff auf das Parlament keine Mitteilung gemäß Artikel 50 machen. Im Urteil unterstrich das Gericht, dass es sich hierbei um eine rein rechtliche Frage handele, dass es sich nicht mit der Sache des EU-Austritts befasst habe und dazu auch keine Meinung äußere. Der EU-Austritt sei eine politische Frage.

Die britische Regierung hat gegen das Urteil Berufung eingelegt, und der Fall wurde im Eilverfahren dem Obersten Gerichtshof des Vereinigten Königreichs vorgelegt. Ein Urteil wird für Januar 2017 erwartet. Sollte die Berufung scheitern, könnte ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz Bedingungen für die Verhandlungen des britischen Austritts festlegen. Ist die Berufung erfolgreich, muss das Parlament nicht regelmäßig über den Verhandlungsprozess oder die angestrebten Konditionen informiert werden. Dies würde dann für das Parlament nicht bedeuten, "Selbstbestimmung wiederzuerlangen". "Brexit heißt Brexit" kann damit sehr wohl für eine Dominanz der Exekutive und ihrer politischen Absichten stehen. Dieser Sachverhalt enthüllt die Schwächen und Paradoxien der Parlamentssouveränität. Tatsächlich ist das Parlament in vielen Fällen der Exekutive untergeordnet. Souverän ist es lediglich in seinen gesetzgeberischen Kompetenzen.

Wie verhandelt die EU?

Formale Brexit-Verhandlungen können beginnen, sobald das Vereinigte Königreich dem Europäischen Rat seine Absicht, die EU zu verlassen, mitteilt. Der Artikel 50 EUV verlangt dabei keine spezifischen Arrangements. Alles bleibt den Verhandlungen der Vertragspartner überlassen. Es ist deshalb unklar, wie ein verhandeltes Austrittsabkommen überhaupt aussehen könnte.

Zudem ist weder die Verhandlungsstrategie der britischen Regierung bekannt, noch ist sicher, zu welchen Zugeständnisse die EU bereit ist. Wird sie eine harte Haltung in den Verhandlungen einnehmen? Diese hätte zweifelsohne negative wirtschaftliche Auswirkungen auf das Vereinigte Königreich. Zwar gibt es keine relevanten Präzedenzfälle unter Artikel 50, es ist jedoch bemerkenswert, wie die EU 2014 nach einem schweizerischen Referendum zur Zuwanderungsbeschränkung von Staatsangehörigen des EWR reagiert hat. Weil das Referendum bilaterale Abkommen mit der EU verletzte, wurde die Schweiz aus dem Europäischen Forschungsrat, den Erasmus-Programmen und dem Rahmenprogramm für Forschung und Innovation Horizont 2020 ausgeschlossen. Für Großbritannien könnte das heißen: Wenn London darauf bestehen sollte, von den Anforderungen der Freizügigkeit ausgenommen zu werden, könnte es kaum damit rechnen, freien Zugang zum Binnenmarkt zu bekommen.

"Großes Aufhebungsgesetz"

Artikel 50 Absatz 3 lautet: "Die Verträge finden auf den betroffenen Staat ab dem Tag des Inkrafttretens des Austrittsabkommens (…) keine Anwendung mehr". Dies ist eine Angelegenheit des EU-Rechts. Als Angelegenheit des britischen Rechts müssten weitere Schritte unternommen werden, um die Anwendbarkeit von EU-Recht im Vereinigten Königreich zu beenden. Der Prozess der Loslösung wäre kompliziert und würde auch keine direkte Rückkehr zum Status quo ante (1973) bedeuten.

Das EU-Recht ist Teil des britischen Rechts, und das Gesetz zu den Europäischen Gemeinschaften ist die wichtigste rechtliche Bestimmung beziehungsweise das wichtigste rechtliche Tor für die Anwendung des EU-Rechts im Vereinigten Königreich. Das Gesetz müsste aufgehoben oder zumindest novelliert werden. Andere primäre Rechtsvorschriften im Zusammenhang mit dem EU-Recht müssten ebenfalls aufgehoben oder verändert werden, möchte die Regierung verhindern, dass sie Teil des nationalen Rechts werden. So müsste etwa der Absatz 29 des Scotland Act 1998, der sich direkt auf EU-Recht bezieht, umgeändert werden.

Insgesamt müsste sich die Regierung mit Tausenden EU-Rechtsvorschriften befassen, die gegenwärtig Teil des britischen Rechts sind. Einige direkt anwendbare EU-Rechtsvorschriften könnten automatisch auslaufen, wenn sie nicht entsprechend behandelt würden. Unter Berücksichtigung dieser Situation sprach Premierministerin Theresa May am 2. Oktober 2016 von Plänen für ein "Großes Aufhebungsgesetz", das 2017 eingebracht werde. Noch sind wenige Details zu den Plänen bekannt, aber es scheint, dass der Gesetzentwurf nach Beendigung der Brexit-Verhandlungen das Gesetz zu den Europäischen Gemeinschaften von 1972 aufheben soll.

Allerdings, und was bedeutsam ist, würde das Aufhebungsgesetz den Großteil des gegenwärtigen EU-Rechts in einen Parlamentsbeschluss einarbeiten und somit der britischen Regierung erlauben, zu entscheiden, ob beziehungsweise wann sie einzelne Bestimmungen aufheben, novellieren oder beibehalten möchte. Obgleich die britische Regierung ihre Absicht kundgetan hat, diesen Gesetzentwurf 2017 ins Parlament einzubringen, wird das Gesetz nicht in Kraft treten, bis eine Austrittsvereinbarung geschlossen ist und das Vereinigte Königreich die EU tatsächlich verlassen hat. EU-Recht bleibt im Vereinigten Königreich wirksam, bis das Land die EU verlässt. Die Durchsetzung des geplanten Aufhebungsgesetzes vor dem formalen Austritt aus den EU-Verträgen würde sowohl EU- als auch internationales Recht verletzen und würde der internationalen Reputation des Vereinigten Königreichs schweren Schaden zufügen.

Gemeinschaftlicher Besitzstand

Die EU-Verträge unterscheiden sich von vielen anderen internationalen Abkommen hinsichtlich des Umfangs, in dem sie Einzelpersonen Rechte zusprechen. Seitdem das Vereinigte Königreich 1973 der europäischen Gemeinschaft beigetreten ist, hat das EU-Recht britischen Bürgerinnen und Bürgern sehr viele Rechte und Freiheiten verliehen. Was passiert nun mit den erworbenen Rechten, wenn das Vereinigte Königreich die EU verlässt?

Die Gesamtheit der Rechtsakte, die für alle Mitgliedstaaten in der EU verbindlich sind, wird unter dem Begriff Acquis communautaire ("gemeinschaftlicher Besitzstand") zusammengefasst. Heute nehmen diese Rechtsakte verschiedene Formen an: Britische Bürger haben ihr Recht auf Freizügigkeit nach dem EU-Recht genutzt, um in andere EU-Staaten umzuziehen und dort zu leben, zu arbeiten und ihren Ruhestand zu verbringen. Ebenso sind andere EU-Bürger ins Vereinigte Königreich gezogen. Der gemeinschaftliche Besitzstand bezieht sich allerdings nicht allein auf Migration. Die britische Wirtschaft genießt alle möglichen Freiheitsrechte für den Handel innerhalb der EU, ohne tarifäre oder nichttarifäre Handelshemmnisse. Dies gilt umgekehrt in allen anderen EU-Staaten für ihren Handel mit dem Vereinigten Königreich. Investoren und Unternehmen haben langfristige Liefer- und Beschaffungsverträge, die darauf beruhen, dass das Vereinigte Königreich Teil der EU ist. Nicht nur für sie ist entscheidend, ob es infolge des Brexit eine Art Bestandsschutz geben wird. Würde der Bestandsschutz anerkannt, könnten die von einer Person oder Organisation erworbenen Rechte nicht aufgehoben werden – nicht einmal im Falle von Änderungen der letzten Entscheidungsgewalt, etwa nach einer Sezession, Unabhängigkeit oder einem EU-Austritt.

Dieser Bestandsschutz wird in Artikel 50 EUV nicht explizit erwähnt. Ausdrückliche Regelungen dazu sind auch in anderen Bestimmungen der EU-Verträge nicht zu finden. Dies steht im Gegensatz zu einigen internationalen Abkommen, etwa der Europäischen Menschenrechtskonvention oder dem Energiechartavertrag, die jeweils spezifischen Bestandsschutz für Einzelpersonen im Falle ihrer Beendigung garantieren. Von Bedeutung könnte hier Artikel 70 Absatz 1 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge sein: Er besagt, dass die Beendigung eines Vertrags "die vor Beendigung des Vertrags durch dessen Durchführung begründeten Rechte und Pflichten der Vertragsparteien und ihre dadurch geschaffene Rechtslage" nicht berührt. Der entscheidende Punkt hierbei ist jedoch, dass die genannten Parteien eben "Vertragsparteien" sind, das heißt Staaten. Artikel 70 spricht also nicht von Rechten von Einzelpersonen. Es scheint daher, als sei das in den Artikel 70 gesetzte Vertrauen, Bestandsschutz gewährleisten zu können, unangebracht.

Es gibt Hinweise darauf, dass trotz Beendigung des Vertrags einige Vertragsverpflichtungen unter dem Völkergewohnheitsrecht weiterbestehen könnten und erworbene Rechte abgesichert sind. Beispielsweise stellte der Ständige Internationale Gerichtshof 1926 im Falle der deutschen Interessen im polnischen Oberschlesien fest, dass das Prinzip des Bestandsschutzes Teil des allgemein anerkannten Völkerrechts ist.

Sofern das Völkergewohnheitsrecht den Bestandsschutz anerkennt, ist sein Geltungsbereich allerdings sehr eng gefasst. Es besteht eine Unterscheidung zwischen Eigentums- und Vertragsrechten – etwa dem Recht auf Eigentum an einer Immobilie in Spanien oder dem Recht, dass ein Arbeitsvertrag nicht gekündigt wird –, die meist Bestandsschutz genießen, und anderen Rechten – etwa das Recht auf Aufenthalt, Gesundheitsfürsorge und andere Sozialleistungen sowie die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die viele EU-Bürger genießen –, deren Status ungewiss ist.

Vielfach wird zudem argumentiert, dass individuelle Freiheiten, etwa die Freizügigkeit in Bezug auf Handel oder Gewerbe, keinen Bestandsschutz genießen, obwohl sie in vielen Staaten verfassungsrechtlich geschützt sind. Es wäre im besten Interesse des Vereinigten Königreichs, einen ordentlichen Austritt aus der EU zu vollziehen und Übergangsregelungen auszuhandeln, die die Rechte britischer Bürger und Unternehmen sowie von EU-Bürgern, die in Großbritannien tätig sind, schützen.

Als Grönland 1985 aus der EU austrat, war die Europäische Kommission der Auffassung, dass die Rechte von EU-Bürgern in Grönland sowie die von Grönländern in der EU Bestand haben sollten und dass "die neue Regelung eine Klausel umfassen muß, die es dem Rat ermöglicht, auf Vorschlag der Kommission alle erforderlichen Übergangsmaßnahmen zu verabschieden." Es gibt also Präzedenzfälle, die darauf hinweisen, dass der Bestandsschutz bei den Brexit-Verhandlungen ein Thema wird. Es besteht jedoch weder unter den EU-Verträgen noch im internationalen Recht eine rechtliche Verpflichtung, sie zu berücksichtigen. Ohnehin war der Fall Grönland ganz anders gelagert als der des Vereinigten Königreichs – angesichts der kleinen Bevölkerungszahl Grönlands, seiner Abhängigkeit vom Fischfang, der Hauptverhandlungsthema war, und der Tatsache, dass bei seinem Austritt wenig in den EU-Verträgen geändert werden musste.

Entscheidend für die Brexit-Verhandlungen ist der Inhalt der Vereinbarung: Will das Vereinigte Königreich die Rechte britischer Bürger schützen, wäre Gegenseitigkeit nötig, und das Vereinigte Königreich müsste den Bürgern anderer EU-Staaten den gleichen Bestandsschutz garantieren, wie es selbst einfordert.

Brexit und Devolution

Aus Sicht der Regierung ist die britische Demokratie zentralistisch organisiert. Werden administrative Rechte von London an die regionalen Vertreter in Schottland, Wales und Nordirland übertragen, spricht man von "Devolution". Die Außenpolitik ist von diesem Prozess ausgeschlossen und bleibt der britischen Regierung vorbehalten, und dies schließt die EU-Mitgliedschaft ein. Die nachgeordneten Vertretungen in Edinburgh, Cardiff und Belfast haben in diesem Bereich keine Rechte. Sie werden höchstens in einer Geste der Höflichkeit oder des Wohlwollens konsultiert. Weder Artikel 50 des EUV noch das britische Recht und die Devolutionsgesetze, die die Dezentralisierung des Vereinigten Königreichs ordnen, sprechen ihnen eine bestimmte Rolle in den Austrittsverhandlungen oder in Parallelverhandlungen mit der EU zu. Deshalb konnte David Cameron auch im Februar 2016 mit dem Präsidenten des Europäischen Rats, Donald Tusk, eine EU-Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs neu verhandeln, ohne die Zustimmung der regionalen Regierungen einzuholen.

Am 23. Juni 2016 stimmte die Mehrheit der schottischen Wähler für den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU, ebenso die Nordirlands. Den maßgeblichen Interpretationen des Resultats zufolge könnte das schottische Votum dennoch ignoriert werden. 2014 hatte die Scottish National Party einen Änderungsvorschlag zum Gesetzentwurf über das EU-Referendum vorgelegt, in dem vorgeschrieben wurde, dass für einen EU-Austritt jede der vier Nationen – England, Schottland, Wales und Nordirland – in einer Abstimmung zustimmen müsste, nicht nur das Vereinigte Königreich als Ganzes, und Nicola Sturgeon hat diese Forderung nach einer "double majority" mehrmals bekräftigt. Ihr Ziel war es, zu verhindern, dass eine der vier Nationen gegen ihren Willen aus der EU austreten muss. Sturgeon unterstrich ihre Haltung mit einer Metapher, die von der britischen Führung während des Wahlkampfs für das schottische Unabhängigkeitsreferendum 2014 vorgebracht worden war: Das Vereinigte Königreich sei eine "Familie der Nationen", in der jedes Familienmitglied denselben Status habe. Laut Sturgeon ist ein Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU gegen den Willen Schottlands demokratisch nicht zu vertreten. Sie bemühte Vergleiche mit anderen föderalen Staaten: "If you look at states like Australia and Canada there are some circumstances where changes to their constitution requires not just a majority across the country but in each of the provinces as well (…). Germany requires its Länder to sign off on changes to the Basic Law, through a two-thirds vote in the Bundesrat. So you can see that such double majorities do exist." Ihre Gesetzesänderung wurde jedoch abgelehnt, und David Cameron betonte 2014 im House of Commons: "We are one United Kingdom, there will be one in/out referendum and that will be decided on a majority of those who vote. That is how the rules should work."

Die Auseinandersetzung verdeutlicht die gegensätzlichen verfassungsrechtlichen Ansätze von London und Edinburgh: Für David Cameron ist das Vereinigte Königreich ein Einheitsstaat, deshalb bedarf es lediglich einer Auszählung der im Referendum abgegebenen Stimmen des gesamten Vereinigten Königreichs, ohne Beachtung der regionalen Unterschiede. Aus dieser Perspektive hat das Abstimmungsergebnis in Schottland und Nordirland, in der EU zu bleiben, keine verfassungsrechtliche Relevanz.

Diese von David Cameron geäußerte Position, die auch die Ansicht der gegenwärtigen britischen Regierung ist, steht im Gegensatz zu der vieler in Schottland, Wales und Nordirland sowie einiger in England. Sie verstehen und interpretieren die britische Verfassung anders und betrachten das Vereinigte Königreich vielmehr als union state statt als unitary state, also als Union, die auf der Grundlage von Verträgen gegründet wurde und die sowohl auf fortdauernde Zustimmung angewiesen ist als auch auf eine Verfassungspraxis. Diese alternative Interpretation der britischen Verfassung erkennt außerdem an, dass das Vereinigte Königreich durch externe Entwicklungen und Mitgliedschaften – etwa in der EU und dem Europarat – verwandelt oder sogar revolutioniert und intern seit 1998 von Devolutionsgesetzen rekalibriert wurde. Zu dieser Interpretation trägt auch der Scotland Act 2016 bei, der zum ersten Mal die "Dauerhaftigkeit" des schottischen Parlaments proklamierte; eine Bestimmung, die – wenn sie überhaupt eine Bedeutung hat – der Behauptung der Parlamentssouveränität seitens des orthodoxen britischen Verfassungsrechts vollkommen widerspricht. Außerdem ist durch das Karfreitagsabkommen ein Konzept des dezentralisierten und fragmentierten Staates in Nordirland wirksam, das komplexe Bestimmungen bezüglich der Zustimmung der verschiedenen konfessionellen Gruppen und der Selbstbestimmung darlegt sowie eine eigenständige Rolle zur Republik Irland und der EU garantiert.

Die Behauptung, dass die EU-Mitgliedschaft eine Angelegenheit der Außenpolitik und daher der Regierung in London vorbehalten ist, könnte ohnehin angezweifelt werden: Das EU-Recht ist – anders als das meiste Völkerrecht und die meisten Verträge – im britischen Recht tief verwurzelt und Teil des inländischen Rechtssystems, einschließlich der Devolutionsgesetze. Zahlreiche EU-Kompetenzen sind in dezentralisierter Hand, die auch nach dem Brexit Angelegenheiten dezentralisierter Regierungen und Parlamente wären, so etwa in den Bereichen der Landwirtschaft oder der Fischerei.

In vielen föderalistischen Staaten wird die Vorstellung, dass die Zentralregierung unter dem Deckmantel außenpolitischer Verträge in dezentralisierte Kompetenzen eindringen kann, kontrovers diskutiert. Beispielsweise hat laut US-Verfassung der Präsident die Vollmacht, Verträge zu schließen. Wenn solche Verträge jedoch verfassungsrechtliche Gültigkeit erlangen sollen, erfordern sie die Zustimmung von zwei Dritteln der anwesenden Senatsmitglieder. Außerdem ist die Befugnis der Bundesebene begrenzt, sie darf nicht in die verfassungsmäßige Autonomie der Bundesstaaten hineinwirken. Ähnlich in der Bundesrepublik Deutschland: Artikel 32 Absatz 1 des Grundgesetzes lautet: "Die Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten ist Sache des Bundes." Die betroffenen Länder sind jedoch zu hören, und dem Prinzip der Bundestreue zufolge muss die Bundesregierung die Meinung der Länder berücksichtigen.

Parlaments- und Volkssouveränität

Ein britischer EU-Austritt wird manchmal mit Blick auf die Erhaltung der Parlamentssouveränität gerechtfertigt, die sich gegenwärtig dem Vorrang des EU-Rechts beugen muss. Im Vereinigten Königreich ist das Parlament der Verfassungsgeber, nicht das Volk. Dieses Prinzip wird jedoch häufig infrage gestellt und hat nördlich der schottischen Grenze keine große Bedeutung erlangt. So erklärte etwa der schottische Lordrichter David Hope 2005 im House of Lords: "Parliamentary sovereignty is no longer, if it ever was, absolute (…). Step by step, gradually but surely, the English principle of the absolute legislative sovereignty of Parliament (…) is being qualified." In einem vor dem Zivilgerichtshof Schottlands verhandelten Fall hat Lordpräsident des Kronrats Andrew Cooper 1953 die Parlamentssouveränität mit den folgenden Worten angefochten: "The principle of the unlimited sovereignty of parliament is a distinctively English principle which has no counterpart in Scottish constitutional law."

Das Nachdenken über die Gesamtheit der Union und die Verankerung in der Verfassung wirft die Frage auf, ob, zumindest in Schottland, die Doktrin der Volkssouveränität die Grundlage bilden könnte, dass Schottland selbst bestimmt, ob es die EU verlässt oder nicht. Schließlich ist angesichts des Ergebnisses des EU-Referendums viel Aufhebens um die Frage der Volkssouveränität gemacht worden. Dennoch besteht Verwirrung in verfassungsrechtlicher Hinsicht: Mit welchem Grund soll die Volkssouveränität in Gestalt des EU-Referendums respektiert werden, wenn das Vereinigte Königreich keine erkennbare Tradition der Volkssouveränität hat?

Wenn solche Fragen ignoriert werden und eine bestimmte Sicht der Verfassung einseitig durchgesetzt wird, riskiert das Vereinigte Königreich eine Verfassungskrise. Dies veranschaulicht die Frage der parlamentarischen Zustimmung: Auch wenn die britische Führung ein "Großes Aufhebungsgesetz" einbringt, würde dies nicht automatisch das EU-Recht in das inländische Recht der dezentralisierten Nationen eingliedern. Es wäre immer noch notwendig, die relevanten Teile der Devolutionsgesetzgebung zu novellieren. Ferner, durch die Integration von EU-Recht in inländisches Recht mittels eines "Großen Aufhebungsgesetzes" würde das britische Parlament in die Kompetenzen der dezentralen Parlamente eindringen. Denn manche derzeit von der EU ausgeübten Kompetenzen, wie Landwirtschaft und Fischerei, sind mit Devolutionsgesetzen übertragen worden. Deshalb müssten die dezentralisierten Nationen ihre parlamentarische Zustimmung leisten, bevor das britische Parlament dazu Gesetze verabschieden könnte.

Diese Situation könnte in eine Verfassungskrise führen: Es besteht eine Verfassungskonvention, dass Westminster kein Gesetz über eine dezentralisierte Angelegenheit verabschiedet, wenn das dezentralisierte Parlament dem nicht zugestimmt hat. Dies erfordert einen Antrag auf Zustimmung unter der "Sewel Convention", derzufolge das britische Parlament keine Gesetze zu dezentralisierten Angelegenheiten erlässt und keine übertragenen Kompetenzen erweitert, es sei denn, das Schottische Parlament stimme dem zu. Nicola Sturgeon stellte bereits klar: Falls die britische Regierung im Kontext des Brexit um die Zustimmung des schottischen Parlaments zur Änderung des Scotland Act bitten sollte, werde sie das schottische Parlament auffordern, seine Zustimmung zu verweigern, um zu verhindern, dass Schottland gegen seinen Willen aus der EU austreten würde.

Was aber passiert, wenn die britische Regierung die Gesetzgebung dennoch vorantreibt und die Verweigerung der parlamentarischen Zustimmung ignoriert? Die Verankerung der Sewel Convention im Scotland Act 2016 hat zur Folge, dass die britische Regierung das Gesetz brechen würde, wenn sie diesen Kurs verfolgte. Auch wenn das Zustimmungserfordernis lediglich als Konvention betrachtet wird, würde die Regierung eine wichtige Verfassungsregel verletzen. Verfassungskonventionen sind bindend, und Handlungen, die dagegen verstoßen, können erhebliche politische und verfassungsrechtliche Konsequenzen haben. So weitete etwa der damalige kanadische Premierminister Pierre Trudeau 1982 die kanadische Verfassung auf den gesamten Staat aus, und zwar gegen den Willen der Regierung von Quebec, die vorbrachte, dass eine Konvention bestehe, die ihre Zustimmung erfordere. Dies hat die Beziehungen zwischen Kanada und Quebec jahrelang destabilisiert und in Quebec 1995 zu einem Referendum über die Unabhängigkeit geführt. Die Notwendigkeit, die Devolutionsgesetzgebung zu novellieren, macht einen EU-Austritt des Vereinigten Königreichs damit verfassungsrechtlich höchst problematisch. Eine aufgezwungene, einseitige Interpretation der Verfassung würde Debatten über den Charakter der Union aufwerfen und könnte ein zweites Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands auslösen. So könnte der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union zur Auflösung einer anderen Union führen: der Union des Vereinigten Königreichs selbst.

Fazit

Die britische Verfassung bietet keine genauen Antworten auf die meisten durch den Brexit aufgeworfenen Fragen. Man könnte argumentieren, dass dies wenig überrascht, da es sich beim Brexit schließlich um ein außergewöhnliches Ereignis handelt, das verfassungsrechtlich nicht vorhersehbar war. Die britische Verfassung ist jedoch wegen ihrer Anpassungsfähigkeit und ihrer Flexibilität und ihres dauerhaften Bestands lange Zeit gelobt worden. Allerdings offenbaren die Herausforderungen des Brexits die Schwächen der Verfassung. Ein Ereignis von so großer Tragweite wie ein EU-Austritt benötigt als Richtschnur ein klares und von Prinzipien geleitetes Verfassungsrecht. Das existiert allerdings nicht. Die britische Verfassung ist zu einem umstrittenen und unsicheren Gebilde mit zuweilen schemenhafter Form geworden. Im Ergebnis sind wir auf die Politik angewiesen, wo sich meist die Mächtigsten durchsetzen.

Übersetzung aus dem Englischen: Sandra H. Lustig, Hamburg.

ist Professorin für europäisches Recht und Menschenrechte an der Universität Oxford. E-Mail Link: s.douglas@qmul.ac.uk