Das Brexit-Votum hat Gräben in der britischen Innenpolitik aufgeworfen. Zum einen handelt es sich um Probleme, die den regionalen Zusammenhalt des Vereinigten Königreichs betreffen. Das Vereinigte Königreich ist ein Viernationenstaat, bestehend aus England, Wales, Schottland, Nordirland und weiteren Territorien. London hat als Hauptstadt und internationale Wirtschaftsmetropole des Landes eigenes politisches Gewicht. Die Bewohner der Kanalinseln und der Isle of Man, die zum Kronbesitz des Vereinigten Königreichs zählen, durften nicht über den Brexit abstimmen, wohl aber diejenigen des britischen Überseegebiets Gibraltars an der Südspitze der Iberischen Halbinsel.
Zum anderen handelt es sich um Herausforderungen für den politischen und gesellschaftlichen Zusammenhalt des Vereinigten Königreichs. Der politische Zusammenhalt wurde durch die Krise der konservativen Regierungspartei nach dem Brexit-Votum gefährdet. Auch in der Labour Party, der größten Oppositionspartei, kam es zu Auseinandersetzungen, insbesondere um den Vorwurf mangelnden Engagements gegen den Brexit, gerichtet an die Adresse des Parteivorsitzenden Jeremy Corbyn. Auch gesellschaftliche Bruchlinien machte das Abstimmungsverhalten deutlich. Für den Brexit stimmten vorwiegend die ältere Generation, Menschen in wirtschaftlich prekären Verhältnissen und Bildungsferne. Eine in diesem Umfang bisher nicht gekannte persönliche Diskriminierung von EU-Ausländern nach dem Brexit-Votum im britischen Alltagsleben vervollständigt das Bild einer verunsicherten Gesellschaft. Die Brexit-Verfechter hatten versprochen, alles Positive bleibe erhalten, man werde nur die EU los. Die Konsequenz war kurzfristig Ziellosigkeit. Über Wege, diese längerfristig zu überwinden, wird in Großbritannien noch gestritten.
Unterschiedliche territoriale Interessen
Das Brexit-Referendum war in vier Territorien des Vereinigten Königreichs nicht erfolgreich (Tabelle). Die Unterstützer einer EU-Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs siegten in Schottland und Nordirland sowie in London und Gibraltar. Dass Gibraltars Einwohner fast ausnahmslos für einen Verbleib in der EU stimmen würden, kam nicht überraschend. Der Felsen Gibraltar ist auf den wirtschaftlichen Austausch mit dem spanischen Hinterland angewiesen, auch auf die Personenfreizügigkeit innerhalb der EU. Die spanische Regierung brachte nach dem Votum von Gibraltar gleich ihren alten Vorschlag einer gemeinsamen Oberhoheit von Spanien und dem Vereinigten Königreich (Kondominium) ins Spiel. Solange Spanien in der EU ist, wäre dies nach diesem Modell auch Gibraltar. Sowohl die Regierung von Gibraltar als auch die britische Regierung lehnten die Kondominiumsidee strikt ab. Stattdessen suchte der Chief Minister Gibraltars, Fabian Picardo, das Gespräch mit der schottischen Regierungschefin Nicola Sturgeon. Sein Modell sieht vor, dass Gibraltar zusammen mit Schottland und Nordirland in der EU bleibt. Die britische Regierung soll beim Austritt Stufen der Abweichung von der EU-Mitgliedschaft verhandeln. Vorbild ist der EU-Austritt der dänischen Territorien Faröer Inseln und Grönland, während Dänemark in der EU verblieben ist. Für Schottland, Nordirland und Gibraltar wäre ein umgekehrtes Modell das Ziel – das Vereinigte Königreich außerhalb, die drei britischen Territorien innerhalb der EU. Dieser Vorschlag hat keine Chance auf Umsetzung, sodass Gibraltar, Schottland und Nordirland in besonderer Weise auf die Austrittsverhandlungen des Vereinigten Königreichs mit der EU angewiesen bleiben. Der neue Schottlandminister David Mundell bezeichnete schottische Wünsche in diese Richtung als wirklichkeitsfremd. Picardo schlug des Weiteren vor, das Ergebnis der Verhandlungen zum EU-Austritt zur Bestätigung einem weiteren Referendum zu unterziehen. Erst nach dem Ende der Verhandlungen mit der EU könne man wissen, was ein Brexit tatsächlich bedeute.
Für Schottland ist der Brexit ein weiteres Beispiel dafür, dass eine Londoner Regierung dem Land eine Entscheidung aufzwingt, die seine Bevölkerung mit großer Mehrheit nicht teilt. Die schottische Regierung sah deshalb unmittelbar nach dem Brexit-Referendum die Option eines zweiten Unabhängigkeitsreferendums. Umfragen bestätigten, dass ein solches eine Mehrheit in Schottland finden würde. Inzwischen ist die Situation weniger klar, auch wenn im Juli 2016 wieder gegen den Willen einer Mehrheit der schottischen Bevölkerung zusätzlich zum Brexit die Entscheidung fiel, die in Schottland stationierte Nuklearflotte des Vereinigten Königreichs (Trident) zu erneuern.
Für schottische Unabhängigkeitsbefürworter stellen sich schwierige Fragen: Reicht die finanzielle Basis Schottlands bei einem niedrigen Ölpreis für die Unabhängigkeit? Welche Währung sollte Schottland nutzen? Bei einem EU-Beitritt Schottlands wäre es wohl der ungeliebte Euro. Und hat ein Beitrittsbegehren Schottlands zur EU überhaupt eine Chance angesichts des zu erwartenden spanischen Vetos? Vor allem aber, wäre das Westminster Parlament bereit, noch einmal die gesetzliche Grundlage für ein Unabhängigkeitsreferendum zu ermöglichen? Die First Minister Schottlands, Sturgeon, wurde nach dem Brexit-Referendum von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in Brüssel empfangen – mehr als eine symbolische Geste konnte dies aber nicht sein.
Einige Beobachter trauten Schottland zu, den Brexit zu stoppen. Bezug genommen wurde dabei auf den Scotland Act, Clause 29, der besagt, dass die schottische Gesetzgebung sich im EU-Rahmen zu bewegen habe. Wenn Schottland zum EU-Austritt gezwungen würde, müsste für diese "Abweichung" vom Scotland Act nach bestehender Konvention für Abweichungen das schottische Parlament gefragt werden. Dieses könnte "Nein" sagen. Auch wenn die schottische Regierung ein solches Szenario für möglich hielt, ist es verfassungsrechtlich nicht realistisch. Der EU-Austritt wird letztendlich von einem Gesetz des Westminster Parlaments konkretisiert und festgeschrieben. Keine Institution im Vereinigten Königreich kann diese Entscheidung, die Ausdruck des Verfassungsgrundsatzes der Parlamentssouveränität ist, in irgendeiner Weise korrigieren.
Ihre erste Reise nach dem Amtsantritt als Premierministerin führte Theresa May nach Schottland. Sie machte der schottischen Regierungschefin keine Hoffnung auf ein zweites Unabhängigkeitsreferendum, versicherte ihr aber, dass Schottland, ebenso wie Wales, Nordirland und Gibraltar, ja sogar die Kanalinseln und die Isle of Man, bei den Austrittsverhandlungen mit der EU auf der britischen Seite einbezogen würde.
Nordirland ist in besonderer Weise vom EU-Austritt betroffen. Die Furcht, nur noch unter Visabedingungen von Großbritannien aus die eigenen Verwandten in Irland besuchen zu können, führte nach der Brexit-Entscheidung zu einem dramatischen Anstieg der Anträge britischer Bürger für irische Reisepässe. Nach dem Karfreitagsabkommen von 1998, das den irischen Bürgerkrieg weitgehend beendete, waren die Grenzbarrikaden zwischen der Republik Irland und Nordirland an über 200 Wegen und Straßen abgebaut worden. Die Grenze verschwand im Alltag der Bürger. Wirtschaftlich war dies für alle Iren auf beiden Seiten der Grenze ein Erfolgsmodell. Allenfalls die radikalen Unionisten in Nordirland sahen das Zusammenwachsen der beiden Teile der irischen Insel mit Misstrauen. Sie waren es auch (vor allem die Anhänger der stärksten Partei in der nordirischen Regierungskoalition, die Democratic Unionist Party), die für den Brexit stimmten. Nach dem Brexit-Votum stellen sich grundsätzliche Fragen nach der Zukunft der Grenze zwischen der EU und Nordirland. Bleibt die Grenze offen, wie von der Republik Irland gewünscht, wäre dies eine Hintertür für Zuwanderung in das Vereinigte Königreich. Die Ablehnung von Zuwanderung war aber einer der wichtigsten Gründe, für den EU-Austritt zu stimmen. Die Verlagerung der Außengrenze Großbritanniens in die irische See (also unter Ausschluss Nordirlands) wurde von der britischen Regierung abgelehnt. Die Wiedereinführung von Grenzkontrollen scheint unumgänglich – in welcher Form, bleibt offen.
Es ist noch zu früh zu spekulieren, ob die Nationalisten in Nordirland, die durch das faktische Verschwinden der Grenze zwischen dem Norden und dem Süden ihrem Ziel der irischen Einheit näher gekommen schienen, ein Grenzregime zum Anlass nehmen werden, um den bewaffneten Kampf wieder aufzunehmen. May sagte bei ihrem Besuch in Belfast im Juli 2016: "[N]obody wants to return to the borders of the past." Sie ernannte allerdings als neuen Nordirlandminister James Brokenshire, einen Spezialisten für innere Sicherheit und Terrorismusbekämpfung, dem sie mit Kris Hopkins einen früheren Soldaten mit bekannten Aversionen gegen die nationalistische Regierungspartei Sinn Féin als Staatssekretär zur Seite stellte. Offen bleibt, wie das Karfreitagsabkommen, ein internationaler Vertrag zwischen der Republik Irland und dem Vereinigten Königreich, der sich explizit auf die EU-Menschenrechtskonvention und die gemeinsame Mitgliedschaft beider Länder in der EU beruft, verändert werden soll.
Die britische Metropole London gehört ebenfalls zu den Territorien, die – in sieben von zehn Wahlbezirken – gegen den Austritt aus der EU votierten (59,9 Prozent für den Verbleib in der EU, 40,1 Prozent dagegen). Hier steht das Bild eines weltoffenen, globalisierten Landes (Sicht Londons) der Sehnsucht nach einem geordneten und kontrollierbaren Leben gegenüber, das nicht mehr durch Einwanderung und wirtschaftlichen Wettbewerb herausgefordert wird (Sicht der globalisierungsskeptischen Landesteile). Der "Economist" spricht von "two nations"im Vereinigten Königreich, die sich immer weiter in ihren Werten und ihrer Weltsicht voneinander entfernen. Im Vorfeld des Referendums wählte London den Labour-Politiker Sadiq Khan zum Londoner Bürgermeister. Im Unterschied zur Parteispitze der Labour Party engagierte sich Khan in vorderster Linie für die EU-Mitgliedschaft seines Landes. Bei der letzten großen Fernsehdebatte im Vorfeld des Referendums in der Wembley Arena sprach Khan als Vertreter der "Vote Remain"-Kampagne, also des Bleibe-Lagers. Die City of London, der für die britische Wirtschaft bedeutende Londoner Finanzdistrikt, sprach sich mit deutlicher Mehrheit für den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU aus. Nach dem Brexit-Votum forderte Khan eine Beteiligung Londons an den Brexit-Verhandlungen und mehr Autonomie, also mehr Kompetenzen, für die Londoner Stadtregierung. Soweit, die Unabhängigkeit für London zu fordern, wollte er nicht gehen. 60000 Londoner hatten unmittelbar nach Bekanntwerden des Ergebnisses eine Petition unterzeichnet, die ihren Bürgermeister aufforderte, die Unabhängigkeit Londons zu erklären und in der EU zu bleiben. Auch wenn London in Zukunft außerhalb der EU sein wird, fordert Khan den Erhalt des Zugangs zum Binnenmarkt.
Wales war die einzige nichtenglische Region, die den Brexit befürwortete. In Wales war es der United Kingdom Independence Party (UKIP) bei den Regionalwahlen im Mai 2016 gelungen, 12,5 Prozent der Stimmen zu erobern. Der Labour First Minister Carwyn Jones engagierte sich zwar wie alle anderen walisischen Parteiführer mit Ausnahme der UKIP-Spitze gegen den Brexit, die Mehrheit der walisischen Wähler will aber die EU verlassen. Hier zeichnet sich ein Bild ab, das auch für Nordengland gilt. Der Labour-Spitze gelingt es nicht mehr, ihre Stammwähler zu mobilisieren. Diese ließen sich vor allem von Parolen gegen Einwanderer leiten, also von UKIP-Argumenten. Das führte zu dem unerwarteten Ergebnis, dass ausgerechnet die ärmeren Regionen Großbritanniens, die am meisten beispielsweise von den Strukturfonds der EU profitieren, am heftigsten für einen Austritt aus der EU plädierten. In Cornwall kamen noch regionale Faktoren hinzu, wie ein cornisches Nationalgefühl und vor allem das Thema Einwanderung, obwohl es nur wenige Einwanderer in der Region gibt. Hier wie andernorts stand die Realität nicht zur Debatte, sondern Protest und Wunschträume. "Der Brexit wurde aus Trotz geboren", so "Der Spiegel".
Krisen der großen Parteien
Überraschenderweise riss der Brexit nicht nur in der Konservativen Partei Gräben auf, sondern auch in der Labour Party. Der Brexit-Beschluss zog den Rücktritt des konservativen Premierministers David Cameron als Kopf der Anti-Brexit-Kampagne nach sich. Ein neuer Parteivorsitz musste gefunden werden. Der innerparteiliche Wahlkampf war durch allerlei Intrigen geprägt, aus denen schließlich die Innenministerin der Regierung Cameron, Theresa May, als Siegerin und neue Parteivorsitzende hervorging. Dies bedeutet auch einen Wechsel in der Wirtschaftspolitik der Konservativen Partei. Der nun abgelöste Schatzkanzler George Osborne stand für einen Sparkurs zur Konsolidierung des Haushalts. May bevorzugt Ausgabenpolitik, zum einen, um die Folgen des Brexit abzufangen, und zum anderen, um mit dem Angebot besserer Sozialleistungen in die Wählerschaft der Labour Party einzubrechen und ihr dauerhaft politische Unterstützung zu entziehen.
Die Schwäche der Konservativen Partei, ihre Spaltung und Zerrissenheit sowohl im Brexit-Wahlkampf als auch anschließend bei der Suche nach einem Parteichef, wäre die Gelegenheit für eine geschlossene Opposition gewesen, sich zum einen als EU-freundliche Alternative und zum anderen als Partei mit einem europapolitischen Gegenentwurf zu etablieren. Die Labour Party unter ihrem Vorsitzenden Corbyn war aber in dieser Hinsicht ein Totalausfall. Corbyn, der 1975 bei dem ersten Referendum über die Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft selbst mit "Nein" gestimmt hatte, konnte seine persönliche EU-Skepsis kaum verbergen. Quasi pflichtgemäß hielt er eine einzige große Rede für den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU, die emotionslos und pragmatisch wirkte. Das Plädoyer für ein Verbleiben Großbritanniens in der EU stellte er unter den Vorbehalt, dass diese reformiert werden müsste.
So hörte sich Corbyns "Plädoyer" für die EU an: "Die Labour Party ist mit großer Mehrheit für den Verbleib in der EU, weil wir der Ansicht sind, dass die Europäische Union uns viel gebracht hat – Investitionen, Arbeitsplätze und Arbeits-, Verbraucher- und Umweltschutz – und dass wir die Aufgaben des 21. Jahrhunderts am besten mit der EU bewältigen können." Peter Mandelson, Mitglied im House of Lords sowie einer der wichtigsten Minister in den letzten Labour-Regierungen und früheres Mitglied der EU-Kommission, fasste den Eindruck der proeuropäischen Mehrheit in der Labour-Fraktion im Parlament bezüglich der Rolle Corbyns im Referendumswahlkampf so zusammen: "Bestenfalls vernahm man ausdrucksvolles Schweigen, aber wenn er etwas sagte, war nicht klar, was er sagte."
Die Forderung nach einer Ablösung Corbyns als Parteichef fand immer mehr Anhänger. Corbyn entließ am 26. Juni 2016 seinen Schattenaußenminister Hilary Benn, worauf sich weitere zehn Mitglieder seines Schattenkabinetts zurückzogen. 50 der front-bencher (der wichtigsten Parlamentarier der Labour Party) kündigten Corbyn die Gefolgschaft. Am 28. Juni stimmte die Parlamentsfraktion der Labour Party über ein Misstrauensvotum gegen ihren Vorsitzenden Corbyn ab. Von den 232 Abgeordneten der Labour Party sprachen 172 dem eigenen Fraktionschef das Misstrauen aus, nur 40 unterstützten ihn. Corbyn trat dennoch nicht zurück, denn nach seiner Meinung ist die Entscheidung der Fraktion irrelevant, er habe die Parteibasis hinter sich. Den Corbyn-Kritikern blieb nichts anderes übrig, als eine Neuwahl des Parteivorsitzenden zu initiieren. Als Gegenkandidat zu Corbyn trat der walisische Labour-Abgeordnete Owen Smith an.
Da Corbyn mithilfe der Parteibasis im Amt blieb, steht weiterhin die Möglichkeit im Raum, dass sich die Labour Party spaltet und eine neue Partei entsteht, die sich vom dogmatischen Linkskurs Corbyns abwendet. Das Chaos in der Labour Party veranlasste die Scottish National Party (SNP), den aussichtslosen Antrag zu stellen, dass sie nun die Funktion der offiziellen Opposition im Parlament übernehmen müsse, weil die Zahl der Labour-Abgeordneten, die Corbyn noch stützen, geringer sei als die Zahl der Abgeordneten der SNP-Fraktion.
Gesellschaftliche Spaltung
Das Brexit-Votum machte neben der Spaltung von Parteien auch die gesellschaftliche Spaltung in dieser Frage deutlich. Hätten sich die sogenannten millennials, die Jungwähler zwischen 18 und 35, stärker an der Abstimmung beteiligt, wäre sie wohl zugunsten eines Verbleibs des Vereinigten Königreichs in der EU ausgegangen. Die jungen Leute fühlen sich als Europäer. "Little Britain" ist für sie der Titel einer Fernsehsatire. Nach dem Votum für einen Brexit lauteten die Beschwerden der millennials, gelegentlich auch Generation Erasmus genannt (nach dem Studentenaustauschprogramm der EU), dass die ältere Generation ihnen ihre Zukunft verbaut habe.
73 Prozent der 18- bis 24-Jährigen stimmten für einen Verbleib Großbritanniens in der EU. Allerdings zeigt sich deutlich, dass in Gebieten, wo viele junge Menschen wohnen, die Wahlbeteiligung besonders niedrig war. Nach Angaben der "Financial Times" beteiligten sich nur 36 Prozent der 18- bis 24-Jährigen an dem Referendum, aber 81 Prozent der 55- bis 64-Jährigen und 83 Prozent der über 65-Jährigen. Zudem haben die älteren Briten ohnehin mehr Gewicht bei Wahlen. 18 Prozent der britischen Bevölkerung sind älter als 65; nur 11 Prozent sind zwischen 18 und 25 Jahre alt. Das House of Lords blockierte eine Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre, was die Gruppe der Jungwähler vergrößert hätte. Sicher lag auch der Wahltermin ungünstig, zum Ende des Semesters an den Universitäten und während des beliebten Glastonbury Musikfestivals. Dies bedeutete für junge Leute zusätzliche Umstände, wie sich eventuell neu als Wähler an einem anderen Ort registrieren zu lassen oder die Briefwahl zu beantragen.
Für ein Verbleiben in der EU stimmten auch eher die Briten mit höherer Bildung. Für bildungsferne Schichten war das Referendum ein Vehikel des Protests gegen Einwanderer, die, so vermuteten sie, ihnen Arbeitsplätze wegnehmen und die Sozialsysteme überlasten, sowie gegen die Sparpolitik der konservativen Regierung und die Vernachlässigung ihrer Interessen. Viele wussten nichts über die EU, was es insbesondere der UKIP leicht machte, vor EU-Plänen wie einer EU-Armee oder der Normierung englischer Teekessel zu warnen, die es nicht gab. Die UKIP mobilisierte die left behind, die sozialen Verlierer (ältere weiße Wähler der working class mit geringen Bildungsqualifikationen) und unterstützte ihre Weltsicht, dass niemand ihnen Respekt zollt, obwohl gerade sie die anständigen Bürger seien (decent people, Nigel Farage, Parteivorsitzender der UKIP, nach dem Bekanntwerden des Referendumsergebnisses).
Führt Theresa May das Land zusammen?
Es ist sicher Mays Absicht, die Nation zu einen. Ein One-Nation-Konservatismus , den schon Cameron als "mitfühlender" (compassionate) Konservatismus vertrat, soll dabei helfen, soziale Spaltungen zu überwinden. Erstes Anzeichen hierfür war die Abkehr der Regierung May von der Sparpolitik. Hinzu kommt die Ankündigung, die britischen Unternehmen stärker in die soziale Verantwortung zu nehmen. In den Vorständen aller wichtigen britischen Unternehmen sollen Vertreter von Arbeitnehmern und Kunden vertreten sein, die Gehälter der Vorstände besser kontrolliert werden und Aktionäre großer Aktiengesellschaften auf Hauptversammlungen ihr Veto gegen überzogene Gehälter von Führungskräften einlegen dürfen. Es solle nicht länger der Eindruck vorherrschen, das Land arbeite nur für die privileged few, für die wenigen Privilegierten. May deutete auch Schritte an, um das Gehaltsgefälle zwischen Management und Arbeiterschaft zu verringern. Der britische Sozialstaat solle wieder gestärkt werden. Mays Ankündigungen haben die Ungleichheitsdebatte im Vereinigten Königreich gestärkt, zumal sich hier auch ein Generationenproblem verbirgt. Der Londoner Think Tank "Resolution Foundation" hat Daten veröffentlicht, wonach die millennials in ihrem Leben deutlich weniger verdienen können als die ältere Generation.
May besuchte alle Landesteile, die sich mehrheitlich gegen den Brexit ausgesprochen hatten, und versprach ihnen bei weitergehender Mitgliedschaft der Brexit-Gegner (Schottland, Nordirland, London, Gibraltar) im britischen Staatsverband, sicherzustellen, dass für diese Regionen der Zugang zum Binnenmarkt erhalten bleibt. Wie dies passieren soll, bleibt eine offene Frage. Sie wird erst in einigen Jahren, nach dem Ende der Brexit-Verhandlungen mit der EU, beantwortet werden können. Der umgekehrten Dänemark-Lösung, die Sturgeon bei ihren Gesprächen in Brüssel vertrat, werden allerdings wenige Chancen gegeben.
Überraschend schnell konnte nach dem Brexit-Votum die Konservative Partei wieder geeint auftreten, insbesondere weil es nicht zu einem Mitgliederentscheid über den Parteivorsitz kam. May musste sich nach dem Rückzug ihrer Gegenkandidatin Andrea Leadsom als einzige verbliebene Kandidatin für das Amt des Parteivorsitzenden keiner Abstimmung mehr stellen. Die Brexit-Befürworter durften sich darüber freuen, dass der Kopf der Pro-Brexit-Kampagne, Boris Johnson, britischer Außenminister wurde. Mit Mays häufig wiederholter Feststellung, "Brexit means Brexit and we’re going to make a success of it", ist die Richtung der Politik des Vereinigten Königreichs vorgegeben. Ob diese grobe Linie, die die wichtigsten Details auslässt, ausreicht, um das uneinige Königreich zu einen, bleibt abzuwarten.
In einem Bereich wird die britische Gesellschaft gespalten bleiben: der Einwanderung. Es ist nicht möglich, quasi über Nacht die Zahl der in das Vereinigte Königreich eingewanderten Personen zu verringern. Künftige Einwanderung sollte aus Regierungssicht auf ein "erträgliches" Maß reduziert werden, das heißt auf eine fünfstellige Zahl, also unter 100.000 im Jahr, ab 2020. Noch als Innenministerin hatte May bereits schon auf dem Parteitag der Konservativen Partei in Manchester im Oktober 2010 die aus ihrer Sicht nach wie vor zu hohe Nettoeinwanderung in das Vereinigte Königreich unter anderem mit den wachsenden Migrantenzahlen aus östlichen und südlichen EU-Staaten erklärt. Hier müsse der britische Staat wieder die Kontrolle erlangen. Der wirtschaftliche Nutzen der Einwanderung gehe gegen Null. Zu viele Einwanderer gefährden den gesellschaftlichen Zusammenhalt, und gegen Asylrechtsmissbrauch müsse entschlossen vorgegangen werden. Es ist durchaus möglich, dass May als Premierministerin hier eine differenzierte Haltung einnehmen wird. Denn alle seriösen Studien gehen davon aus, dass die osteuropäischen Zuwanderer einen wichtigen Beitrag zur britischen Wirtschaft leisten. Die emotionale Ablehnung von Einwanderung nimmt aber Fakten kaum zur Kenntnis, sodass in den Nach-Brexit-Jahren die Kluft zwischen Alt- und Neubürgern eine anhaltende Herausforderung für ein einiges Großbritannien bleiben wird.