Am 24. Juni 2016 musste der britische Premier David Cameron seine Niederlage eingestehen – gegen seine Empfehlung und die seiner Regierung hat sich die Mehrheit der Britinnen und Briten für den Austritt aus der EU ausgesprochen, einschließlich dem Großteil der Wählerinnen und Wähler seiner Partei. Gescheitert ist Cameron vor allem mit seiner politischen Wette, die europapolitischen Gräben innerhalb seiner Partei mit einer Volksabstimmung zu kitten, die er mit ökonomischen Argumenten über die hohen Kosten eines EU-Austritts sicher zu gewinnen glaubte. Das Austrittsvotum wird das Vereinigte Königreich und Europa über Jahre prägen.
Für den künftigen Umgang mit dem Vereinigten Königreich und die Sicherung des weiteren Zusammenhalts der verbliebenen 27 EU-Staaten ist es wichtig, die Entstehung des britischen EU-Referendums nachzuvollziehen. Wie konnte es überhaupt zur Ansetzung der Volksabstimmung kommen? Wie sind die Kampagnen verlaufen und was hat zum Sieg der EU-Gegner beigetragen? Und nicht zuletzt: Welche Themen und Prioritäten haben die Briten dazu bewogen, für den Austritt zu stimmen?
Weg zum EU-Referendum
Die Abhaltung eines Referendums über die EU war in Großbritannien bereits seit Jahren umstritten und wurde lange von der Regierung und dem Parlament abgelehnt. Bereits im Oktober 2011 erzwang eine Gruppe Hinterbänkler der Konservativen Partei eine Abstimmung im House of Commons über ein abzuhaltendes EU-Referendum. Die britische Regierung – damals eine Koalition von Konservativen und Liberaldemokraten unter der Führung von Premier David Cameron – stellte sich entschieden dagegen. Die Regierung glaubte, Großbritanniens Interessen seien am besten innerhalb der EU gedient. Dennoch votierten 81 der damals 306 konservativen Abgeordneten gegen die explizite Vorgabe der eigenen Partei für ein EU-Referendum, insgesamt sprach sich das Parlament mit 483 zu 111 Stimmen gegen ein EU-Referendum aus.
Obwohl die Mehrheit der konservativen Abgeordneten gegen das Referendum stimmte, vollzog David Cameron knapp eineinhalb Jahre später einen historischen Strategieschwenk und versprach den Briten im Januar 2013 für den Fall seiner Wiederwahl als Premier eben jenes Votum über die EU-Mitgliedschaft. Der Ausgangspunkt für diesen Sinneswandel war auf den ersten Blick die zunehmende EU-Skepsis in der britischen Bevölkerung. Das Vereinigte Königreich hat traditionell eine distanzierte Sonderrolle in der EU eingenommen. Schon der Beitritt 1973 war, anders als in den Gründerstaaten Frankreich und Deutschland, primär wirtschaftlich motiviert. Als damals "kranker Mann" Europas wollte die britische Regierung mit dem Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft, den Anschluss zum europäischen Markt zurückerlangen.
Während die Briten Projekte wie die Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarkts deutlich unterstützten, standen sie einer weiteren politischen Integration kritisch gegenüber. Seit den Verträgen von Maastricht war Großbritannien nur dann bereit, weitere Integrationsschritte mitzutragen, wenn es Ausnahmerechte bekam – etwa beim Euro (Maastricht), dem Schengenraum (Amsterdam) oder der Grundrechtecharta (Lissabon). Auch während der vergleichsweise pro-europäischen Positionierung des Premiers Tony Blair blieb die Hauptmotivation für die EU-Mitgliedschaft der Binnenmarkt.
Dieses Narrativ geriet im Vereinigten Königreich im Zuge der europäischen Schuldenkrise zunehmend unter Druck. Während sich das Land selbst ab 2011 zumindest gesamtwirtschaftlich von den Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise erholte, erzeugten die täglichen Krisenmeldungen aus Griechenland und den anderen Eurostaaten das Bild einer wirtschaftlich kollabierenden Eurozone, die nunmehr als größtes Risiko für die britische Wirtschaft wahrgenommen wurde. In der Folge stieg die United Kingdom Independence Party (UKIP) in den Wählerumfragen zur drittstärksten Partei Großbritanniens auf. Bei den Europawahlen 2014 wurde sie, bei niedriger Wahlbeteiligung, mit 27 Prozent sogar stärkste Partei.
Camerons riskante Doppelstrategie
Auf den zweiten Blick jedoch hatte Camerons Versprechen, ein Referendum abzuhalten, innenpolitische, wenn nicht sogar innenparteipolitische Gründe. Innerhalb der Konservativen Partei forderte eine Minderheit sehr EU-skeptischer Abgeordneter immer lauter einen härteren Kurs der britischen Regierung gegenüber der EU. Gebunden an die Liberaldemokraten als Koalitionspartner, die europafreundlichste der britischen Parteien, kam die Regierung diesen Forderungen nicht nach. Zunehmend wuchs unter den Tories auch die Angst, dass die UKIP ihnen im britischen Mehrheitswahlrecht entscheidende Stimmen wegnehmen und damit einer Labour-Regierung den Weg ebnen könnte. Die bereits seit den frühen 1990er Jahren bestehende europapolitische Spaltung innerhalb der Konservativen Partei drohte zu einer ernsthaften Gefahr für Camerons Führungsposition zu werden.
Der innenpolitische Kontext erklärt Camerons Strategie: In seiner Bloomberg-Europarede im Januar 2013 kündigte er den Briten nicht einfach als Premierminister ein EU-Referendum an. In seiner Funktion als Parteivorsitzender knüpfte er das Referendum an die Bedingung, dass er bei den Parlamentswahlen 2015 als Premierminister wiedergewählt werde.
Seine Strategie bestand aus zwei Teilen: Erstens wollte er damit für einen Burgfrieden innerhalb der Konservativen Partei sorgen, da sich sowohl EU-Gegner als auch -Befürworter hinter dem Referendumsversprechen vereinen konnten. Gerade EU-skeptische Tory-Abgeordnete konnten so in ihren Wahlkreisen zum einen Wahlkampf gegen die UKIP führen, indem sie selbst eine Volksabstimmung in Aussicht stellten, zum anderen gegen die Labour-Partei, die das Referendum ablehnte. Dieser Teil Camerons Doppelstrategie ist weitgehend aufgegangen, da sich die Konservativen in EU-Fragen bei der Unterhauswahl 2015 größtenteils einstimmig zeigten. Die UKIP gewann zwar bei der Unterhauswahl 2015 erheblich dazu, aber die Konservativen verloren an sie nur einen einzigen Parlamentssitz. Die UKIP schaffte es stattdessen, viele Labour-Wähler zu gewinnen.
Zweitens hatte sein Plan eine europapolitische Komponente: Cameron kündigte bereits 2013 an, das Referendum gegenüber den EU-Partnern als Druckmittel zu nutzen, um eine Reform und eine "neue Stellung Großbritanniens" innerhalb der Union durchzusetzen.
Dieser Teil der Doppelstrategie ging jedoch nicht auf: Zwar stimmte der aus den Staats- und Regierungschefs bestehende Europäische Rat am 19. Februar 2016 einem Reformpaket für Großbritannien zu,
Obwohl Cameron direkt nach der Einigung im Februar 2016 von einem historischen Erfolg sprach, der Großbritannien "das Beste von zwei Welten"
Gesetz zur Abhaltung des Referendums
Damit war der politische Kontext für das Referendum gesetzt. Der rechtliche Kontext hingegen war über ein reguläres Gesetz des britischen Unterhauses festgelegt worden, das die wiedergewählte Regierung Cameron im Mai 2015 eingebracht hatte. Der eigentliche Gesetzgebungsprozess war weitgehend unspektakulär. Referenden sind im Vereinigten Königreich mit seiner Tradition der Parlamentssouveränität ein seltenes, aber mittlerweile gut geregeltes Verfahren. So kann das Parlament zu jeder Frage Referenden ansetzen – auch wenn sie, wie im Falle des EU-Referendums, rechtlich unverbindlich sind. Um in der Öffentlichkeit nicht als Gegner der direkten Demokratie dazustehen, stimmten im House of Commons alle Parteien mit Ausnahme der Scottish National Party (SNP) zugunsten des Gesetzes zur Abhaltung eines Referendums. Das Gesetz wurde mit einer Mehrheit von 544 zu 33 Stimmen angenommen.
Bemerkenswert waren am Prozess der Gesetzgebung drei Aspekte: Erstens wurden mit der Gesetzgebung auch die Abstimmungsmodalitäten festgelegt, die sich am allgemeinen Wahlrecht für britische nationale Wahlen orientierten. Die Regierung setzte damit durch, dass – anders als beim Schottischen Unabhängigkeitsreferendum 2014 – weder nichtbritische EU-Bürger noch Briten unter 18 wählen durften. Auslandsbriten, die länger als 15 Jahre außerhalb des Königreichs lebten, wurden ebenfalls von der Wahl ausgeschlossen.
Zweitens wehrte die Regierung Forderungen der SNP und anderer Regionalparteien ab, wonach ein Austrittsvotum nur dann gelte, wenn alle vier Nationen des Vereinigten Königreichs für den Brexit stimmen.
Drittens schrieb das Gesetz die endgültige, im Referendum gestellte Frage fest: "Sollte das Vereinigte Königreich Mitglied der EU bleiben oder die EU verlassen?" Hierfür erlaubte das Gesetz der Regierung, den Termin für das Referendum frei bis Ende 2017 festlegen zu können, sofern mindestens vier Monate zwischen der Ankündigung und der Abstimmung liegen. Nach der Einigung in Brüssel im Februar 2016 entschied die Regierung Cameron, den letzten noch möglichen Termin vor der Sommerpause 2016 zu nehmen: den 23. Juni 2016.
Wahlkampf zwischen Konservativen
Trotz des jahrelangen Vorlaufs bis zum EU-Referendum blieb den Kampagnen auf beiden Seiten nur wenige Monate Zeit, um die Bevölkerung für sich zu gewinnen. Die Kampagnenführung für Referenden ist im Vereinigten Königreich klar reguliert: Die britische Wahlkommission hat für beide Seiten jeweils eine offizielle Kampagne bestimmt, die bis zu sieben Millionen Pfund für den Wahlkampf ausgeben durfte, politische Parteien und andere Kampagnengruppen wurden deutlich stärker begrenzt. Der Wahlkampf sollte zwischen dem 15. April und dem 23. Juni 2016 stattfinden.
Pragmatische Argumente gegen den Brexit
Die Hauptakteure der beiden Kampagnen sind vor allem innerhalb der Konservativen Partei zu finden. Die offizielle Kampagne der Befürworter eines EU-Verbleibs versammelte sich im Oktober 2015 unter dem Motto "Britain Stronger in Europe". Die Kampagne wurde zwar überparteilich unterstützt, spielte in der öffentlichen und medialen Debatte aber nur eine untergeordnete Rolle. Hierzu trug vor allem bei, dass sie weder von der Regierung noch von der Opposition prominente Politikerinnen und Politiker für sich gewinnen konnte.
In der öffentlichen Wahrnehmung wurden die Remainers hauptsächlich von Premierminister David Cameron und seiner Regierung vertreten – und das, obwohl die Regierung gespalten war: Während sich das Kabinett insgesamt für den Verbleib ausgesprochen hatte, setzten sich 7 der 30 Minister öffentlich für den Austritt ein.
Die damalige Innenministerin und heutige Premierministerin Theresa May bekannte sich zwar öffentlich zum Verbleib, beteiligte sich aber nicht maßgeblich am Wahlkampf. Auch von den 330 konservativen Abgeordneten im Parlament stellten sich nur 163 hinter ihren Premier und den EU-Verbleib, während sich etwa 140 für den Brexit engagierten. Die Konservative Partei als Ganzes – einschließlich ihrer Wählerlisten, Freiwilligen und anderen Unterstützern – konnte Cameron nicht für die EU gewinnen, sie blieb formell neutral.
Die Labour-Partei hatte mit anderen Problemen zu kämpfen: Sie wollte nach den Erfahrungen des schottischen Unabhängigkeitsreferendums von 2014 keine gemeinsame Kampagne mit den Konservativen machen, da Labour dort in der öffentlichen Wahrnehmung mit den Tories verknüpft worden war und seitdem in Schottland erheblich an Unterstützung verloren hatte. Die separate "Labour In"-Kampagne wurde von Alan Johnson angeführt, der ebenfalls kein politisches Schwergewicht der Labour-Partei ist. Parteivorsitzender Jeremy Corbyn hingegen sprach sich nur sehr zögerlich für den Verbleib aus und trat selber in der Öffentlichkeit während des Wahlkampfs kaum in Erscheinung.
Kurzum: Obwohl die Zugehörigkeit zur EU auch im europakritischen Großbritannien von einer breiten Mehrheit des Establishments getragen wurde, gab es keine schlagkräftige und überparteiliche Kampagne für den Verbleib in der Union. Die Befürworter wurden hauptsächlich von Premier David Cameron und seinem Finanzminister George Osborne vertreten, die beide keine EU-Enthusiasten sind.
Cameron, Osborne und die offizielle "Stronger In"-Kampagne argumentierten rein pragmatisch: Eine weitere politische Integration in die EU wurde zwar abgelehnt, ein Verbleib im Vergleich zum Brexit aber als geringeres Übel dargestellt, zumal man die Union noch im eigenen Interesse beeinflussen könne. Die im Februar 2016 verhandelten Zugeständnisse seien nur der Anfang eines längeren Reformprozesses. Solange das Vereinigte Königreich weiterhin der Eurozone und dem Schengener Abkommen fernbleibe, würden die wirtschaftlichen Vorteile des Binnenmarkts stärker wiegen als die Nachteile. Vor allem sei der Austritt aus der EU mit sehr großen wirtschaftlichen, aber auch sicherheitspolitischen Risiken verbunden. Von den EU-Gegnern als "Project Fear" verschmäht, setzten die Befürworter in ihrer Kampagne somit fast ausschließlich auf Argumente gegen den Brexit statt auf Anreize für den Verbleib.
Take back control
Nicht weniger heterogen, dafür politisch deutlich schlagkräftiger war die Kampagne des Brexit-Lagers. Als offizielle Kampagne wurde "Vote Leave" designiert. Sie hatte sich ebenfalls überparteilich im Oktober 2015 gebildet und wurde im Vergleich zu "Stronger In" von mehreren Spitzenpolitikern vertreten. Hierzu gehörte vor allem der ehemalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson, der zur Zeit des Referendums nicht nur als vertrauenswürdigster Politiker Großbritanniens galt, sondern auch als Favorit auf die Nachfolge David Camerons.
Auch andere konservative Kabinettsmitglieder – wie Justizminister Michael Gove, Fraktionsvorsitzender Chris Grayling oder Arbeitsminister Iain Duncan Smith – traten in der Öffentlichkeit für "Vote Leave" ein. Gisela Stuart, eine der sehr wenigen Austrittsbefürwortern unter den Labour-Abgeordneten, unterstützte "Vote Leave" und zog dabei in der medialen Öffentlichkeit deutlich mehr Aufmerksamkeit auf sich als die "Labour In"-Kampagne.
Mit der Kampagne "Leave.EU" gab es noch eine weitere Plattform. Sie wurde von Arron Banks, einem der größten UKIP-Sponsoren, mit der Unterstützung des UKIP-Chefs Nigel Farage gegründet. Obgleich "Leave.EU" und "Vote Leave" um den Status als offizielle Kampagne konkurrierten und sich in der Öffentlichkeit zum Teil heftig kritisierten, ergänzten sie sich in der Kampagnenführung: "Leave.EU" und die UKIP mobilisierten die sehr hartnäckigen EU-Gegner, während sich "Vote Leave" eher auf die Wähler der Mitte konzentrierte.
Insgesamt konnten sie sich hinter drei gemeinsamen Forderungen vereinen: Erstens die Migration, die im Vereinigten Königreich insbesondere seit dem Zuzug von EU-Arbeitnehmern aus Mittel- und Osteuropa ein gesellschaftlich hoch umstrittener Punkt ist, müsse reduziert werden. Boris Johnson und Nigel Farage behaupteten, das Vereinigte Königreich könne seine Außengrenzen und die Einwanderung nur kontrollieren, wenn es aus der EU austrete. Sie warnten zugleich vor der Aufnahme weiterer Flüchtlinge und sprachen von potenziellen Einwanderungswellen im Falle eines EU-Beitritts der Türkei. Das Vereinigte Königreich stehe, so ein "Leave.EU"-Plakat, vor dem breaking point.
Zweites Anliegen war die "Wiedererlangung" der britischen Souveränität. Solange das Vereinigte Königreich in der EU überstimmt werden könne und an Gerichtsurteile des Europäischen Gerichtshofs gebunden sei, sei die demokratische Legitimität nicht gewährleistet und das Parlament von Westminister geschwächt. Insbesondere Justizminister Michael Gove lehnte die EU-Mitgliedschaft aus diesen Gründen ab.
Das dritte Argument war ökonomischer Natur: Die Befürworter des Brexit prangerten die hohen EU-Ausgaben des Vereinigten Königreichs an. Sie versprachen, die 350 Millionen Pfund, welche die Briten ihren Behauptungen zufolge pro Woche an die EU zahlen würden – eine nachweislich falsche Behauptung
Die Argumente lassen sich in einem einfachen Slogan zusammenfassen: take back control.
Eine Überraschung, die keine war
In den emotional geführten Kampagnen dominierten im Wesentlichen zwei Themen: die wirtschaftliche Auswirkung eines Brexit und die Migration. Vor allem in der Schlussphase des Wahlkampfs gelang es den EU-Gegnern den Fokus der Debatte zunehmend auf die Frage der Migration und der Freizügigkeit in der EU zu verschieben. Die öffentliche Auseinandersetzung wurde dabei vor allem von Politikern aus der Konservativen Partei geführt, wobei es sich dabei hauptsächlich um eine Debatte zwischen EU-Gegnern auf der einen und EU-Skeptikern auf der anderen Seite handelte. Aufrichtige Europafreunde waren im Wahlkampf kaum wahrzunehmen. Gleichzeitig war das Referendum durch die Spaltung der Konservativen und zu einem geringeren Grade auch von Labour besonders polarisierend, da sich sogar Kabinettsmitglieder gegenseitig der Lüge bezichtigten. Ihren traurigen Höhepunkt erreichte die Polarisierung mit der politisch motivierten Ermordung der Labour-Abgeordneten Jo Cox am 16. Juni 2016, knapp eine Woche vor dem Referendum.
Als die Briten am 23. Juni 2016 schließlich zur Wahlurne schritten, rechneten die meisten politischen Beobachter in Großbritannien und Europa mit einem knappen Votum für den Verbleib. Doch es kam anders: 51,9 Prozent der britischen Wähler stimmten für den Austritt aus der EU. Umso stärker saß der Schock. Dabei prognostizierte während des Wahlkampfs rund ein Viertel der mehr als hundert Wählerumfragen zum Referendum einen Sieg des Brexit-Lagers.
Das Ergebnis überraschte nicht nur die Regierung Cameron, sondern, wie sich in den nächsten Tagen zeigte, auch viele der Austrittsbefürworter. Es folgten politische Chaostage in London, in denen zunächst David Cameron als Premier und Parteivorsitzender zurücktrat, kurz danach aber auch Nigel Farage seinen Rückzug von der UKIP-Spitze erklärte. Auch die konservativen Köpfe der Brexit-Befürworter, Boris Johnson und Michael Gove, zogen sich aus dem Rennen um die Nachfolge von Cameron zurück. Gleichzeitig schwächte sich die Opposition: Knapp 80 Prozent der Abgeordneten der Labour-Partei sprachen ihr Misstrauen gegen ihren Vorsitzenden Jeremy Corbyn aus. Ihr Vorwurf lautete unter anderem: Corbyn habe sich im Wahlkampf nicht entschieden genug für den Verbleib eingesetzt.
Strahlende Siegerin des internen Machtkampfs der Konservativen war Theresa May, die noch im Juli als neue Premierministerin von der Queen bestätigt wurde. Ihr Ziel ist es, das Land hinter der Mission "Brexit" zu vereinen.
Ein Königreich mit drei Bruchlinien
Der genaue Blick auf die unterschiedlichen Wählerprofile des Votums offenbart drei Bruchlinien: Die erste Bruchlinie ist regional. Trotz knappem Gesamtwahlergebnis von 52 zu 48 Prozent war die Zustimmung zum Brexit regional höchst ungleich verteilt. Auf der einen Seite haben in Schottland und Nordirland alle, in London fast alle Wahlkreise mit einer Zustimmung von bis zu 70 Prozent für den Verbleib in der EU gestimmt. Auf der anderen Seite stimmte die Mehrheit in Wales und der Rest von England, und damit der Großteil der britischen Bevölkerung, für den Austritt.
Dies heizt die ohnehin bestehenden regionalen Spannungen in Großbritannien weiter an. Vor allem die in Schottland regierende SNP drängt auf ein neues Unabhängigkeitsreferendum oder zumindest auf eine Sonderlösung mit der EU. Die Nordiren fürchten eine Verhärtung der Grenze zur Republik Irland und damit einen Rückschlag im Friedensprozess.
Die zweite Bruchlinie verläuft demografisch zwischen Jung und Alt. Während die 18- bis 25-jährigen Wähler zu über 70 Prozent für den Verbleib in der EU gestimmt haben, votierten die über 60-Jährigen zu 60 Prozent für den Brexit.
Besonders brisant ist aber die dritte Bruchlinie, die sich entlang sozialer Schichten zieht. So haben Briten ohne formelle Ausbildung und mit geringerem Einkommen überproportional häufig für den Austritt gestimmt, während die gut ausgebildete Elite der Universitätsstädte und von London deutlich für den Verbleib votiert hat. Das Brexit-Votum war damit auch ein Misstrauensvotum gegen die britische Elite.
Ein klares, unklares Mandat
Das Referendum hat der neuen britischen Regierung unter Theresa May ein hochkomplexes Mandat zum Brexit erteilt. Auf der einen Seite ist es ein klarer, unzweideutiger Auftrag, das Vereinigte Königreich aus der EU zu führen. Mit knapp 52 Prozent haben über 17 Millionen Briten für den Brexit gestimmt, das sind vier Millionen Stimmen mehr, als Margaret Thatcher und Tony Blair bei ihren jeweils höchsten Wahlsiegen erhalten haben. Die demokratische Legitimität und politische Verbindlichkeit des Referendums wird deshalb im Vereinigten Königreich auch von der Opposition weitgehend akzeptiert. Aufgrund des klaren demokratischen Mandats wird der Brexit nicht rückgängig gemacht werden.