Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Was ist los mit Frankreich? - Essay | Frankreich | bpb.de

Frankreich Editorial "Dschihadisten lieben die extreme Rechte". Ein Gespräch über die Wurzeln des Terrorismus in Frankreich Was ist los mit Frankreich? Ein Präsident im Regen. François Hollandes Amtszeit Opfert Frankreich seine Jugend? Eine Bestandsaufnahme An der Schwelle zur Macht? Der Front National zwischen Normalisierung und Isolation Chronisch zersplittert. Die französische Linke vor den Wahlen Zum Stand der deutsch-französischen Beziehungen

Was ist los mit Frankreich? - Essay

Michaela Wiegel

/ 10 Minuten zu lesen

Die dschihadistisch motivierten Terroranschläge 2015 und 2016 haben Frankreich auf dem Höhepunkt einer Phase der wirtschaftlichen Stagnation und des politischen Stillstands getroffen. Selten wirkte das Land so uneinig und gesellschaftlich zersplittert wie jetzt.

    Wie wenig heutzutage ein Zeitgenosse, wenn er nicht zufällig an der entscheidenden Stelle steht, von den Ereignissen sieht, welche das Antlitz der Welt und sein eigenes Leben verändern.

Stefan Zweig, Die Welt von Gestern (1942)

Frankreich ist in den zurückliegenden Monaten gleich drei Mal in den Mittelpunkt der Weltöffentlichkeit gerückt. Die Terroranschläge im Januar und im November 2015 sowie am französischen Nationalfeiertag im Juli 2016 riefen weltweit Entsetzen hervor. Das Brandenburger Tor erleuchtete aus Solidarität im Blau-Weiß-Rot der französischen Nationalfarben, das New York Symphony Orchestra spielte die Marseillaise. Die Attacken beförderten den Eindruck, Frankreich werde zum privilegierten Schauplatz eines ungewollten Krieges.

Der "Krieg gegen den Terrorismus" bestimmt denn auch die politische Debatte im Land. Er verstärkt die französische Vorstellung, dass eine Welt aus den Fugen geraten ist und mit ihr die Nachkriegsordnung, in der Frankreich sich trotz teils kriegerisch verlaufener Dekolonisierung als wirtschaftlich-politische Mittelmacht in einem friedlichen, immer enger zusammenwachsenden Europa behauptet hatte. Die Attribute der Macht – der ständige Sitz im UN-Sicherheitsrat, die Nuklearstreitkraft, eine einsatzfähige und -willige Armee – hat sich das Land bewahrt. Die französische Agonie hat heute andere Facetten.

Selten wirkte Frankreich so uneinig und gesellschaftlich zersplittert wie jetzt. Das Ideal der "einen und unteilbaren Republik", wie es in der Verfassung von 1958 verankert ist, schien noch nie so weit entfernt. Frankreich erlebt eine Identitätskrise ungekannten Ausmaßes. Eigentlich versteht sich das Land im Herzen des "alten Europa" bis heute als Erbe der Ideale der Französischen Revolution und als "Wiege der Menschenrechte". Doch "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit", die Devise der Revolutionäre von 1789, die an allen öffentlichen Schulgebäuden prangt, ist aus dem täglichen Erleben der meisten Citoyens geschwunden. Tatsächlich gibt sich Frankreich, als sei es in einer umfassenden politischen wie wirtschaftlichen Abwärtsspirale gefangen.

Terrorangst

Den Terroranschlägen seit Anfang 2015 sind 238 Menschen zum Opfer gefallen, annähernd tausend wurden verletzt. Hinzu kommen unzählige, teils nur durch glückliche Fügungen vereitelte Anschlagspläne. Es steht außer Zweifel: Frankreich erlebt eine schwere Terrorwelle mit hohem Bedrohungspotenzial. Seit nach den Anschlägen auf die Redaktion der Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" und einen jüdischen Supermarkt am 7. Januar 2015 Millionen schweigend durch die französische Hauptstadt zogen, Polizisten und Gendarmen umarmten, die Nationalhymne sangen und Kerzen entzündeten, ist die politische Reaktion zunehmend radikaler geworden.

Nach den Attentaten vom 13. November 2015 in Paris und Saint-Denis knüpfte die Staatsführung nicht nur verbal an die Epoche des Algerien-Krieges an: Sie rief den état d’urgence (Notstand) aus und griff dabei auf Gesetze aus dem Jahr 1955 zurück, die zu Beginn der Unruhen in den drei französischen Departements auf algerischem Boden entwickelt wurden, um der Repression einen rechtlichen Rahmen zu geben. Frankreich setzt seither die Europäische Menschenrechtskonvention nach deren Artikel 15 teilweise aus. Mit erstaunlicher Leichtigkeit schränkte die Regierung die staatsbürgerlichen Freiheiten ein, die sonst ein gleichsam "heiliger" Quell des französischen Selbstverständnisses sind. Erstaunlich schnell arrangierten sich auch die Französinnen und Franzosen mit der Situation: Gegen die "außergewöhnlichen Befugnisse" der Exekutive, die etwa Hausdurchsuchungen zu Tages- und Nachtzeit ohne richterliche Genehmigung ermöglichen sowie das Verhängen von Ausgangssperren und Versammlungsverboten, regt sich inzwischen kaum noch Protest. Der Notstand wurde seither viermal mit breiter parlamentarischer Zustimmung verlängert und ist derzeit bis zum 26. Januar 2017 in Kraft. Es ist wahrscheinlich, dass er für die "heiße Phase" des Präsidentschaftswahlkampfes erneut verlängert wird.

Auch über den Notstand hinaus verfolgt die Regierung einen autoritären Ansatz: Im Umgang mit Radikalisierten setzt sie auf Umerziehungsanstalten, sogenannte Deradikalisierungszentren, die Gefährder im Alter zwischen 18 und 30 Jahren durch strikte Disziplin, mit Fahnenappell und in Uniform wieder auf den rechten Weg zurück in die Gesellschaft bringen sollen. Monatelang war sogar im Gespräch, verurteilten Terroristen die Staatsbürgerschaft zu entziehen (déchéance de nationalité).

Es herrscht Terrorangst in Frankreich. In Wechselwirkung mit dem verbreiteten Unbehagen angesichts der dynamisch anwachsenden islamischen Minderheit im Land überlagert sie die gebotene politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit zentralen Fragen.

So wird etwa konsequent verdrängt, dass es sich bei den Urhebern der Anschläge in Frankreich, anders als bei den zurückliegenden Terrorattacken in London 2005, Madrid 2004 oder am 11. September 2001, größtenteils um "Kinder der Republik" handelt, um gebürtige Franzosen, die französische Schulklassen besucht und die Vorzüge des französischen Wohlfahrtsstaates erfahren haben. Statt sich diesen "Feinden von innen", wie Premierminister Manuel Valls sie nannte, offen zu stellen, werden die Terroristen in entfernten Regionen verortet – etwa im syrisch-irakischen Gebiet des sogenannten Islamischen Staates, das von der französischen Luftwaffe bombardiert wird – und zu "Fremden" stilisiert. Symptomatisch für diesen Verdrängungsreflex war die Debatte um den bereits erwähnten Vorstoß des Präsidenten für einen Staatsbürgerschaftsentzug für Terroristen, der suggerierte, die Terrorbedrohung könne durch Ausbürgerungsverfahren unter Kontrolle gebracht werden. Das inzwischen verworfene Projekt beherrschte lange Zeit die öffentliche Debatte und verhinderte damit eine ernsthafte Analyse des Nährbodens des Terrorismus. Dies war politisch gewollt, hatte sich Premierminister Valls doch ausdrücklich eine Debatte über mögliche heimische Wurzeln des Terrorismus verbeten, da dies einer "Kultur der Entschuldigung" gleichkomme.

Damit wird eine öffentliche Diskussion über mögliche Missstände im Bildungssystem und die langfristigen Folgen der dauerhaft hohen Jugendarbeitslosigkeit im Keim erstickt. Dabei ist ein solcher Verständigungsprozess dringend geboten: Laut dem im September 2016 veröffentlichten Bericht "Inégalités sociales et migratoires" des französischen Rates zur Schulbewertung (CNESCO) ist Frankreich das OECD-Land, in dem die Leistungen der Schülerinnen und Schüler aus einem sozial besonders benachteiligten Umfeld, worunter in Frankreich diejenigen mit Migrationshintergrund gefasst werden, bis 2012 am stärksten gesunken sind; zudem hat sich der Leistungsunterschied zwischen Schülern in Frankreich deutlich verschärft: So beherrschten Schüler aus einem sozial besonders benachteiligten Umfeld 2012 beispielsweise im Fach Französisch vor dem Übergang in die Oberstufe lediglich 35 Prozent der erwarteten Kompetenzen – 2007 waren es noch 60 Prozent gewesen –, während Schüler aus einem sozial privilegierten Umfeld mindestens 80 Prozent der erwarteten Kompetenzen beherrschten. Vor diesem Hintergrund empfiehlt der CNESCO, Anstrengungen zu unternehmen, um eine Gleichheit des schulischen acquis zu gewährleisten. Doch darüber wird in Paris nicht gesprochen. Auch die Anziehungskraft dschihadistischer Propaganda auf junge Franzosen mit Einwanderungshintergrund und entsprechende Präventionsmöglichkeiten werden kaum thematisiert.

Zugleich ist eine koloniale, islamfeindliche Mentalität wieder salonfähig geworden, die seit der gewaltsamen Ablösung Algeriens weitgehend aus der Öffentlichkeit verschwunden war und sich in der Sicherheitsdiskussion deutlich widerspiegelt. "Nicht alle Muslime sind Dschihadisten, aber alle Dschihadisten sind Muslime", twitterte etwa die Abgeordnete des Front National in der Nationalversammlung Marion Maréchal-Le Pen Anfang Juli 2016. Der frühere Präsident und Vorwahlkandidat im Mitte-Rechts-Lager Nicolas Sarkozy profiliert sich mit der Forderung, alle Moscheen überwachen zu lassen, mutmaßliche Gefährder zwangsweise zu internieren und einen "totalen Krieg" zu führen.

Der Versuch von annähernd 30 Kommunen an der Côte d’Azur und der Atlantikküste, im Sommer 2016 mit Blick auf den von manchen Musliminnen getragenen Ganzkörperbadeanzug Strandbekleidung zu verbieten, die auf ostentative Weise auf eine religiöse Zugehörigkeit schließen lasse und in Zeiten, in denen Frankreich Ziel terroristischer Angriffe sei, zur Störung der öffentlichen Ordnung führen könne, zeugte von dem Irrationalitätspotenzial, das diese Stimmung birgt. Die "Burkini-Verbote" wurden größtenteils von den zuständigen Gerichten wieder außer Kraft gesetzt, die hitzige Debatte darüber spricht jedoch für sich.

Reformstau

Die Terroranschläge haben Frankreich mitten in einer zermürbenden Wirtschaftskrise getroffen. Seit Jahren bekommt das Land seine Rekordstaatsverschuldung nicht in den Griff und hat massive Schwierigkeiten, die europäischen Haushaltsregeln einzuhalten. Hinzu kommt eine dauerhaft hohe Arbeitslosenquote von rund zehn Prozent, die sozial großzügig abgefedert wird. Der französische Rechnungshof zweifelt offen daran, dass Frankreich sein Haushaltsdefizit 2017 nach dreimaligem Aufschub wie versprochen auf 2,7 Prozent des BIP senken kann; 2016 lag es bei rund 3,4 Prozent. Doch statt beherzt auf dringend notwendige Reformen zu setzen, gleicht Frankreich seit Jahrzehnten einem renitenten Schüler, der mehr durch Glück als durch Fleiß und Disziplin die Versetzung schafft. "Die Franzosen können nur Revolutionen, keine Reformen", lautet ein häufiger Kommentar zu Frankreichs schleppendem Modernisierungsprozess.

"Frankreich wird immer Frankreich sein", formulierte der EU-Kommissionsvorsitzende Jean-Claude Juncker kürzlich treffend, warum Frankreich beim Überschreiten der EU-Defizitgrenze nicht ernsthaft Sanktionen fürchten muss. Diese Rollenzuweisung haben die politisch Verantwortlichen in Paris über alle Parteigrenzen hinweg verinnerlicht. Sie gehen selbstverständlich davon aus, dass dem europäischen Gründungsland, das nach dem Brexit die zweitwichtigste Volkswirtschaft der EU sein wird, mit Nachsicht begegnet wird. Das gilt nicht nur für die regierenden Sozialisten, sondern auch für die wieder an die Macht strebenden Republikaner: Von der lange Zeit gepredigten Stabilitätskultur kehren die Protagonisten des Mitte-Rechts-Lagers alle gleichermaßen ab. Diese Kehrtwende ist auch deshalb spektakulär, weil sie in der Opposition der Linksregierung stets fehlende Zuverlässigkeit beim Haushalten vorgehalten haben. Doch nun wollen Nicolas Sarkozy, Alain Juppé und François Fillon nichts mehr von einer Schuldenbremse wissen, die sie noch im Präsidentschaftswahlkampf 2012 anpriesen. Juppé und Fillon waren damals sogar für ein Referendum eingetreten, um eine "goldene Regel" für nachhaltiges Haushalten in die Verfassung aufzunehmen. Auch Sarkozy mag sich an seine Bekehrung zur "deutschen Stabilitätskultur" nicht mehr erinnern lassen. Es steht deshalb zu erwarten, dass die Bereitschaft zu durchgreifenden Reformen dauerhaft begrenzt bleibt oder zumindest einer großen pädagogischen Anstrengung bedarf.

Die Folge dieser Reformscheu ist eine konstant bleibend hohe Arbeitslosigkeit: Im August 2016 waren 3,55 Millionen Franzosen im erwerbsfähigen Alter ohne jegliche Beschäftigung. Diese hohe Zahl wird von der französischen Arbeitsministerin Myriam El Khomri mit den Folgen der Terroranschläge auf den Tourismus begründet – eine Erklärung, die vielen Franzosen nicht genügen dürfte, denn Präsident François Hollande hatte schon frühzeitig versprochen, nur dann zur Wiederwahl anzutreten, wenn die Arbeitslosigkeit nachhaltig sinke. Zwar weist die jüngste Arbeitsrechtsreform, die nur unter schweren Verwerfungen mit den ursprünglich zum Teil sogar reformbereiten Gewerkschaften sowie innerhalb des linken Lagers durchgesetzt werden konnte und mit einem großen Ansehensverlust für Präsident und Regierung einherging, durchaus in die richtige Richtung. Sie wird aber kaum vor dem nächsten Wahltermin greifen. Das Umfragetief im Nachgang der Reform ist vor allem einer mangelnden Kommunikation geschuldet: Die Regierung hat es versäumt, ihre Ziele einleuchtend zu erklären.

Der in eine neue Protestform mündende gesellschaftliche Widerstand gegen die Arbeitsrechtsreform zeugte seinerseits von einem noch tiefer liegenden Konflikt: Bei der Bewegung "Nuit debout" (Nacht auf den Beinen), die wochenlang den Place de la République in Paris besetzte und dort gesellschaftliche Debatten organisierte, handelte es sich keinesfalls um eine von Linksparteien gesteuerte Bewegung; vielmehr schlossen sich spontan Bürgerinnen und Bürger in zufälligen Konstellationen zusammen, um über die unterschiedlichsten Anliegen zu diskutieren. Daran zeigte sich, wie wenig das französische Präsidialsystem mit seinen beiden in Auflösung begriffenen Lagern noch in der Lage ist, die Bürgerinteressen widerzuspiegeln.

Politische Auflösungserscheinungen

In der Tat sind die zwei Parteien, die seit Beginn der V. Republik abwechselnd an der Macht waren, die Sozialistische Partei und die Republikaner, von inneren Machtkämpfen zerrissen und leiden unter einem massiven Mitgliederschwund. Beide Parteien haben sich in Vorwahlen geflüchtet, um Führungsschwäche und Orientierungslosigkeit zu überwinden. Erst im Januar 2017, knapp drei Monate vor dem ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen am 23. April 2017, wird also feststehen, wer von den beiden wichtigsten Parteien jeweils als Kandidat aufgestellt wird – ein in der V. Republik beispielloser Vorgang. Noch ungewöhnlicher ist die Tatsache, dass die Legitimität des amtierenden Präsidenten innerhalb seines eigenen Lagers so schwach ist, dass er nicht allein über eine erneute Kandidatur entscheiden kann. Der Vorwahlkampf verschärft die Zersplitterungseffekte und hat bislang zu einem unheilvollen Wettbewerb der verbalen Exzesse geführt.

Lachende Dritte dieses Politspektakels des niedergehenden Bipartismus ist die Vorsitzende des Front National, Marine Le Pen. Die Rechtspopulisten entkommen aufgrund der selbstzerstörerischen Tendenzen bei Sozialisten und Republikanern einer ernsthaften inhaltlichen Debatte über ihr von Widersprüchen geprägtes Programm, das Versatzstücke aus dem früheren Wirtschaftsprogramm der Kommunistischen Partei mit national-konservativen, fremdenfeindlichen und protektionistischen Thesen verbindet. Mehr denn je kann sich Marine Le Pen als Präsidentschaftskandidatin der "Vergessenen" gerieren, die sich von der etablierten Politik verlassen fühlen. Geschickt nutzt sie die Ernüchterung über die EU und den Präzedenzfall des Brexit-Votums, um sich als Frontfrau einer nationalen Erneuerung darzustellen. Ihre Popularität fußt vor allem auf weit verbreiteten Abstiegs- und Zukunftsängsten.

Bezeichnend für den passiven Erfolg Marine Le Pens sind die Entwicklungen rund um das wilde Flüchtlingslager in Calais an der Ärmelkanalküste: Obwohl der Front National keine aktive Parteiarbeit in Calais betreibt, hat er dort bei den Regionalwahlen im Dezember 2015 seinen Stimmenanteil von 31 Prozent bei den Europawahlen im Mai 2014 auf 49,1 Prozent erhöhen können. Dieser enorme Anstieg erklärt sich vor allem durch das Versagen der etablierten Parteien, effiziente Antworten auf die Flüchtlingsfrage zu finden. Mit ihrer radikalen Forderung von Grenzschließungen und dem Versprechen, keine Migranten ins Land zu lassen, wurde Le Pen zum Sprachrohr für enttäuschte Wähler.

Der relative Erfolg des Front National deutet darauf hin, wie sehr in der Gesamtschau die demokratischen Abwehrmechanismen der Franzosen unter dem Eindruck von Terrorbedrohung und Wirtschaftskrise geschwächt sind. Bislang hat das Mehrheitswahlsystem der V. Republik, das zu Wahlbündnissen zwingt, die etablierten Kräfte vor einem Siegeszug der Rechtspopulisten um Marine Le Pen geschützt. Aber wie lange wird dieses Korrektiv noch wirken?

Fluchtpunkt Illusion?

Längst führt die politisch-wirtschaftliche Agonie Frankreichs zu einer immensen Schwächung seiner Gestaltungskraft auch nach außen, etwa auf europäischer Ebene. Derzeit praktiziert Paris in Brüssel eine neue Form der Politik des leeren Stuhls: Es ist zwar überall involviert, trägt aber etwa angesichts der hohen Flüchtlingszahlen genauso wenig zu einer konstruktiven Zusammenarbeit bei wie zur Zeit von Präsident Charles de Gaulles Abwesenheit in den 1960er Jahren.

Der spanische Journalist Manuel Chaves Nogales, der von 1936 bis 1940 in Frankreich lebte, hat in seinem bemerkenswerten Buch "L’agonie de la France" die Voraussetzungen für den Zusammenbruch des Landes 1940 beschrieben. Er spricht von einem langen, ein Jahrzehnt währenden Prozess "der Erschöpfung, der Agonie und der Zersetzung eines Volkes", der der Kapitulation voranging. "Noch nie hat sich ein Volk mit so viel Entschlossenheit selbst getäuscht. Nicht nur die Politiker gefielen sich in einer Vogel-Strauß-Politik, das Volk erwartete das und applaudierte noch dazu."

Ohne den Vergleich überstrapazieren zu wollen, so ist doch anzumerken, dass sich Frankreich angesichts der immensen Herausforderungen immer mehr in Illusionen flüchtet. Einer politisch-wirtschaftlichen Erneuerung müsste deshalb zunächst eine ehrliche Bestandsaufnahme vorangehen. Doch es sieht nicht danach aus, als könne der bevorstehende Wahlkampf diese Selbstfindung befördern.

ist Politikwissenschaftlerin. Sie arbeitet als politische Korrespondentin für Frankreich der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und lebt in Paris. E-Mail Link: m.wiegel@faz.de