Wenn jemand von einem Dorf erzählt, das er gerade besucht hat, wird ihm mit Sicherheit bald die Frage gestellt: Wie groß ist das Dorf denn eigentlich? Die Größe einer Siedlung ist für uns offenbar ein wichtiges Ordnungsraster. Die unterschiedlichen Größen signalisieren auch etwas über die inneren Eigenschaften. Von einem großen Dorf erwarten wir zum Beispiel, dass es dort eine Kirche, eine Schule, einen Gasthof und einen Sportplatz gibt. In einem kleinen Dorf vermuten wir eine kleine Kapelle, einen Kindergarten und auf jeden Fall eine Feuerwehr, aber nicht unbedingt einen Tennisplatz oder eine Apotheke.
Für Deutschland gilt die folgende Klassifizierung der ländlichen Siedlungsgrößen, die im Wesentlichen von der Anzahl der Hausstätten und der Einwohnerzahl abhängt: Einzelsiedlung, kleine Gruppensiedlung, große Gruppensiedlung (Dorf), Kleinstadt. Gemeinhin unterscheidet man vier Größenstufen des deutschen beziehungsweise mitteleuropäischen Dorfes:
das kleine bis mäßig große Dorf mit 20 bis 100 Hausstätten beziehungsweise 100 bis 500 Einwohnern,
das mittelgroße Dorf mit 100 bis 400 Hausstätten beziehungsweise 500 bis 2.000 Einwohnern,
das große Dorf mit 400 bis 1.000 Hausstätten beziehungsweise 2.000 bis 5.000 Einwohnern und
das sehr große Dorf mit mehr als 1.000 Hausstätten und 5.000 Einwohnern.
Für die beiden letztgenannten Größenstufen werden vielfach auch die Bezeichnungen "Großdorf" und "Stadtdorf" gebraucht, womit die statistische Nähe zur städtischen Siedlung deutlich wird. Der Übergang vom Großdorf zur ländlichen Kleinstadt, die heute im Allgemeinen mit 5.000 bis 25.000, bisweilen sogar bis 50.000 Einwohnern ausgewiesen wird, ist im Einzelfall oft schwer zu begründen.
Wir haben das Wort "Dorf" bisher vor allem als einen Begriff der Siedlungsgröße kennengelernt. Doch in der Regel hat "das Dorf" eine umfassendere Bedeutung. Im Duden heißt es schlicht "ländliche Ortschaft" und "Gesamtheit der Dorfbewohner".
Können wir heute das Dorf im Unterschied zur Stadt noch einheitlich und inhaltlich genauer definieren? Das "alte" Dorf hatte es da leichter. Es wurde durch seine agrarwirtschaftlichen Tätigkeiten bestimmt. Diese klassische Definition, die bis vor wenigen Jahrzehnten galt, ist nicht mehr allzu hilfreich. Heute werden daher häufiger soziale und kulturelle Kriterien herangezogen. Das Dorf wird mit Dorfgemeinschaft, Nachbarschaftshilfe, Traditionsbewusstsein, Kirchentreue, mit engen sozialen Netzwerken und hohem ehrenamtlichen Engagement, seiner Vereinsdichte und Aktivkultur, mit Naturnähe oder insgesamt mit seinen ländlichen Lebensstilen beschrieben. Eher nüchtern und pragmatisch ist jedoch die Definition, die sich am äußeren Dorfbild orientiert: Wir sprechen von einem Dorf, wenn die Gestalt der Siedlung von der Agrarwirtschaft geprägt wird, das heißt durch Bauern-, Landarbeiter- und Handwerkerhäuser, Gehöfte und Gutshöfe, auch wenn die Landwirtschaft selbst heute nur noch eine untergeordnete Rolle spielt.
Das alte Dorf
Geht es um das Thema "Dorf", haben wir alle meist auch Bilder des "alten" Dorfes im Kopf. Diese sind oft mit der Einschätzung einer "guten alten Zeit" verknüpft – es sind Vorstellungen einer romantischen Grundstimmung: Die Dörfer liegen idyllisch inmitten der Natur mit Bach, Feldern und Wäldern. Die Bauern arbeiten munter und fast frohgelaunt im Stall oder bei der Ernte. Aufwendige und große Hochzeiten, Beerdigungen, Kirchweih- und Schützenfeste belegen eine enge Dorfgemeinschaft, die Kirche bildet den optischen sowie kulturell-sozialen und sinnstiftenden Mittelpunkt für alle Dorfbewohner. Es gibt aber auch andere, deutlich negativere Bilder und Bewertungen zum alten Dorf. Wir haben die Armut der großen Mehrheit der Dorfbewohner vor Augen, die Missernten und Hungersnöte, die häufigen Brände und Krankheiten, die besonders viele Säuglinge und Kinder sterben ließen. Das Dorfleben erscheint uns dann als ein fast täglicher Kampf ums Überleben, ohne Chancen eines wirtschaftlichen oder sozialen Aufstiegs.
Die Dorfforschung zeichnet ein facettenreiches und regional unterschiedliches Bild des Dorfes vor 200 Jahren. Es war eine Umbruchzeit – die Ideen der Französischen Revolution gingen durch Europa und drangen auch in das politisch kleingekammerte Deutschland hinein. Die Befreiung der Landbevölkerung aus den diversen Zwängen der Feudalzeit durch Agrar- und Bildungsreformen deutete sich in manchen Regionen bereits an. Aus sozialer Sicht war das Dorf um 1800 noch eine recht festgefügte Klassengesellschaft in Form einer Pyramide: An der (kleinen) Spitze standen unangefochten Klerus und Adel, die beide auch als Grundherren – als Verpächter des Landes und häufig auch mit eigenen Gütern – in Erscheinung traten. Darunter kam die Schicht der großen, landbesitzenden Bauern. Danach die der kleineren Bauern und der Handwerker, die meist zur Existenzsicherung auch eine kleine Landwirtschaft betrieben. Man würde hier heute von oberer und unterer Mittelschicht sprechen. Zur zahlenmäßig umfangreichen Unterschicht gehörten damals die landlosen Landarbeiter und Tagelöhner, die in einem eigenen Haushalt lebten, sowie die unmittelbar auf den größeren Höfen und Gütern arbeitenden und wohnenden Knechte und Mägde. Aufstiege aus der Unterschicht waren kaum möglich. Durch das festgefügte Dienst-Lehen-Verhältnis zwischen Bauern und Grundherren gab es aber auch für die Mittelschicht nur geringe Möglichkeiten des sozialen und wirtschaftlichen Aufstiegs.
Im Mittelpunkt der dörflichen Wirtschaft stand eindeutig die Land- und Forstwirtschaft. Alle mittleren und größeren Höfe betrieben in der Regel den ganzen Umfang an Ackerbau und Viehzucht bis hin zur Kleinviehhaltung. Natürlich gab es regionale Unterschiede. Die heute übliche Spezialisierung der landwirtschaftlichen Produktion war um 1800 noch weitgehend unbekannt. Das wichtigste Ziel der Hofhaltung stellte die Selbstversorgung der meist großen Familie und des Gesindes mit Nahrung und Kleidung dar. Durch die starke Abgabenlast an Grundherren und Kirche (letztere bekam den sogenannten Zehnten) sowie durch die ebenfalls zu leistenden Hand- und Spanndienste für den Hof des Grundherren waren die wirtschaftlichen Spielräume der Bauern äußerst gering. Aus vielen Gerichtsprotokollen wissen wir, dass säumige Bauern immer wieder um Aufschub und Erlass ihrer Abgaben baten und als Begründung Hunger und Krankheit in ihren großen Familien angaben.
Auch das Dorfhandwerk wurde um 1800 meist in Kombination mit einer kleinen Landwirtschaft betrieben, um die eigene Nahrungsversorgung zu sichern. Die typisch dörflichen Handwerkszweige wie Schmiede, Stellmacher, Maurer und Zimmerer versorgten vor allem die landwirtschaftlichen Betriebe und dienten im Wesentlichen der Versorgung des eigenen Ortes. Das Dorf vor 200 Jahren war somit wirtschaftlich weitgehend selbstständig. Das Wirtschaftsleben auf dem Land war in der Regel ganz auf das eigene Dorf bezogen. Praktisch alle arbeitenden Dorfbewohner hatten ihren Arbeitsplatz im eigenen Dorf. Das Verbleiben im Dorf ermöglichte eine hohe lokale Arbeitsmobilität: So konnten viele Dorfbewohner mehrere Tätigkeiten nebeneinander ausüben, zum Beispiel als Handwerker, Kleinbauer und Waldarbeiter (im Winter). Auch die älteren Kinder mussten bereits bei den vielfältigen Arbeiten in Haus, Hof, Garten und Flur mitanpacken und wurden damit früh in das Erwerbsleben einbezogen.
Die dörfliche Infrastruktur befand sich um 1800 aus heutiger Sicht erst in den Anfängen. Die größte Sorgfalt diente einer regelmäßigen Wasserversorgung, an Flüssen oder Bächen liegende Dörfer hatten hier ihre Vorteile. Andernorts waren Brunnenbauten oder kleine Wasserleitungen von den lokalen Quellen zu den sogenannten Kümpen innerhalb des Dorfes errichtet worden. Von dort musste man sich das Wasser mühsam in die Häuser holen. Hygiene und medizinische Versorgung hatten im Vergleich zu heute einen niedrigen Stand. Entsprechend hoch war die Sterblichkeitsquote vor allem bei den Kleinkindern und entsprechend niedrig die generelle Lebenserwartung der Menschen, die weniger als die Hälfte der heutigen betrug. Der Energieversorgung dienten Wasser- und Windmühlen, zum Kochen und Heizen wurden das Holz beziehungsweise die Holzkohle der lokalen Wälder oder der getrocknete Torf aus den Moorgebieten genutzt. Auch hinsichtlich seiner Wasser- und Energieversorgung war das alte Dorf weitestgehend auf seine lokalen Ressourcen angewiesen, die allerdings auch intensivst genutzt wurden.
Die politische Selbstverwaltung ländlicher Gemeinden war um 1800 bereits in beachtlichen Ausmaßen entwickelt, aber von Region zu Region, ja von Dorf zu Dorf sehr unterschiedlich ausgeprägt. Sie bestand im Wesentlichen in der lokalen Wirtschaftsführung sowie in allgemeinen Ordnungs- und Schutzaufgaben. Feuerwehr und Schützenvereine hatten als älteste und wichtigste Dorfvereine bereits Bestand. Die gemeinsamen öffentlichen Aufgaben waren in speziellen innerdörflichen "Ordnungen" festgehalten. So gab es zum Beispiel für das jährliche Schützenfest Verhaltensempfehlungen, Verbote und Sanktionen. Rechtlich gehörten zur dörflichen Gemeinde allerdings nur die Grundbesitzer, was sich erst zum Ende des 19. Jahrhunderts änderte.
Der Sprung des Dorfes in die moderne Zeit stand um 1800 noch bevor. Die Antriebskräfte der bald beginnenden revolutionären Veränderungen auf dem Land, allen voran die Industrialisierung und die Agrarreformen, deuteten sich erst vereinzelt an.
Das moderne Dorf
In den vergangenen 200 Jahren hat das Dorf wirtschaftlich, sozial und vom Dorfbild her eine neue Identität gewonnen (wie natürlich auch die Stadt). Die alte Agrargesellschaft, die um 1800 noch den ganzen Staat prägte, gilt nun auch auf dem Land nicht mehr. Es gibt nur noch wenige Gemeinsamkeiten zwischen dem alten und dem modernen Dorf. Aber dennoch ist das frühere Dorf nicht völlig verschwunden. Es wirkt weiter: durch seine alten Gebäude, durch den Boden, den Bach, den Wald, das Lokalklima, das man seit Generationen kennt, durch Geschichten, Erinnerungen und Wertvorstellungen, die man weitergibt.
Wie sieht nun ein typisches Dorf von heute aus? Zunächst ist eine grundsätzliche Einschränkung zu machen: Natürlich gibt es nicht das typische deutsche Dorf! Die enormen Unterschiede zwischen den rund 35.000 deutschen Dörfern verbieten es eigentlich, ein typisches Dorf auszuwählen. Wie groß sollte dieses Dorf sein, soll es 300 oder 3.000 Einwohner haben? Soll es in der Nähe einer Großstadt liegen oder "weit ab" in Mecklenburg oder der Oberpfalz? Aus welcher deutschen Region soll es sein: aus den Küstengebieten und dem Tiefland, dem Mittelgebirge oder dem Alpenvorland? Soll es ein Börden- oder ein Winzerdorf sein? Welche ökonomischen Schwerpunkte soll das Dorf haben? Ist das Dorfbild eher durch historische oder moderne Bauten geprägt – welchen Stellenwert haben kulturelles Erbe und Traditionspflege? Soll ein wachsendes oder schrumpfendes, ein lebendiges oder ein lethargisches Dorf ausgesucht werden?
Wir wählen ein mittelgroßes Dorf mit etwa 1.000 Einwohnern und nennen es "Kirchhusen". Es liegt irgendwo in der Mitte Deutschlands, etwa 35 Kilometer von einer kleineren Großstadt entfernt. Das Dorf hat klar erkennbar noch einen historischen Kern mit Kirche, Schulgebäude und älteren Bauernhäusern. Hier präsentiert sich das Dorf mit seinen "schönen" Seiten. Aber es gibt auch "normale" Dorfbilder, wo sich Altes und Neues kunterbunt mischt, und auch ein paar "hässliche" Ecken. Am Dorfrand befinden sich zwei Neubaugebiete, das eine relativ geschlossen aus den 1950er Jahren, ein zweites mit Häusern der 1960er Jahre bis heute. Nur noch in zwei Bauernhäusern des Dorfkerns wird heute Landwirtschaft (im Nebenerwerb) betrieben, die übrigen werden als Wohnhäuser genutzt. In ein ehemaliges Bauernhaus ist ein Antiquitätengeschäft eingezogen, in ein weiteres ein Handwerksbetrieb, zwei alte Hofstellen stehen weitgehend leer. Die lokale Landwirtschaft wird heute hauptsächlich von mehreren Aussiedlerhöfen aus betrieben, die von 1955 bis 1975 in der Feldflur errichtet worden sind. Neben den Landwirten gibt es in Kirchhusen heute noch einige Handwerksbetriebe: eine Tischlerei, einen Elektro- und Sanitärbetrieb, eine Bäckerei, einen Kfz-Betrieb mit Tankstelle, dazu kommen eine Versicherungsagentur, ein Steuerberater und ein Architekturbüro. Zur Infrastrukturversorgung gehören ein Kindergarten, ein Feuerwehrhaus, ein Lebensmittelladen (der in Kürze schließen wird), ein Gasthof mit Saal und Kegelbahn, eine Bankfiliale und eine Postagentur. Die lokale Volksschule musste im Rahmen einer großen Schulreform vor etwa 40 Jahren, die Grundschule schließlich vor 20 Jahren aufgegeben werden, was bis heute bedauert wird. Seit einigen Jahren ist die örtliche Kirchengemeinde Teil eines Pastoralverbundes und muss sich inzwischen mit zwei Nachbargemeinden einen Pfarrer teilen. Zur Erfolgsbilanz des Dorfes zählt sein hoher Standard an technischer Infrastruktur: die Wasserver- und -entsorgung, das Strom- und Gasnetz, die Versorgung mit den modernen Kommunikationsmedien Telefon, Fernsehen und Internet.
Generell hat unser Dorf in den zurückliegenden Jahrzehnten einen Großteil seiner Arbeitsplätze und Infrastruktureinrichtungen verloren, vor allem in der Landwirtschaft und im lokalen Handwerk. Außerdem haben in den vergangenen Jahrzehnten mehrere Dorfläden und Gasthöfe geschlossen. Die Dorfbewohner haben ihren Arbeitsplatz heute überwiegend außerhalb des Dorfes – sie sind zu Pendlern geworden. Viele Dorfbewohner üben heute ehemals "städtische" Berufe aus: Sie sind Arbeiter und Angestellte in Industrie- und Gewerbebetrieben oder Beamte in Kreis-, Finanz- oder Justizverwaltungen. Ihre täglichen Ziele sind benachbarte Kleinstädte oder auch die 35 Kilometer entfernte Großstadt.
Zu den Errungenschaften des heutigen Dorfes gehören seine Sport-, Freizeit- und Kultureinrichtungen. Diese werden überwiegend von Vereinen getragen, so auch in Kirchhusen. Der Sportverein betreibt zwei Rasensportplätze und eine kleine Sporthalle, der Tennisverein zwei Tennisplätze, jeweils mit einem zugehörigen Sportheim. Dazu kommen drei Spielplätze, die von einem Förderverein gepflegt werden. Den kulturtreibenden Dorfvereinen steht eine Begegnungsstätte – im historischen Schulgebäude – zur Verfügung. Ein recht aktiver Heimatverein hat eine kleine Heimatstube mit lokalgeschichtlichen und naturkundlichen Schriften und Exponaten aufgebaut und außerdem einen Lehrpfad am Dorfbach und am stillgelegten Steinbruch angelegt. Zwei Musikvereine sind wie die beiden Sportvereine das ganze Jahr über aktiv und betreiben eine breite Jugendarbeit.
Und wie steht es mit der kommunalen Selbstverwaltung? Jahrhundertelang war Kirchhusen eine eigene, selbstständige Gemeinde. Seit der kommunalen Gebietsreform von 1975 ist es jedoch nur noch "Ortsteil" einer neu geschaffenen Einheitsgemeinde. Statt eines eigenen Gemeinderats mit (früher) zwölf Mitgliedern wird der Ort heute durch zwei Dorfbürger im Großgemeinderat vertreten. Es gibt keinen eigenen Bürgermeister mehr. Mit der kommunalen Gebietsreform der 1960er/1970er Jahre ist die in Jahrhunderten gewachsene politische Selbstverantwortung des Dorfes in Kirchhusen, wie vielerorts auch, gebrochen worden.
In Kirchhusen wie in der Mehrzahl der deutschen Dörfer besteht die Identität von Dorf und Gemeinde nicht mehr. Entsprechend verkümmert ist das kommunalpolitische Selbstbewusstsein. Trotzdem hat sich der Ort auf Dauer nicht unterkriegen lassen: So besteht seit zwei Jahren ein neuer, integrativer "Förderverein Unser Dorf", der sich mit Grundsatzfragen der aktuellen und zukünftigen Dorfentwicklung befasst und in gewisser Weise die Arbeit des früheren Gemeinderats und Bürgermeisters fortsetzt. Ein wichtiger Vorzug des Dorfes ist das Engagement in der Dorfgemeinschaft, manchmal auch als "soziales Kapital" bezeichnet. Diese Werte sind nicht leicht zu fassen. Die Statistiken belegen zum Beispiel eine deutlich höhere Vereinsdichte beziehungsweise Vereinszugehörigkeit auf dem Land als in Mittel- und Großstädten. Auch in Kirchhusen sind praktisch alle Kinder und Jugendlichen sowie die große Mehrheit der Erwachsenen in mindestens einem der Sport – und Musikvereine, der Feuerwehr oder dem Schützenverein aktiv. Neben den Vereinen bestehen im Dorf enge Verwandtschafts-, Nachbarschafts- oder Cliquenverbindungen, die durch ein ständiges Austauschen von Gütern, Geräten und Dienstleistungen geprägt sind. Man trifft sich zu privaten Feiern und hilft sich beim Bauen oder im Garten, bei der Betreuung von Kindern, Kranken und älteren Menschen. Dieses ständige Geben und Nehmen trägt – neben einer sehr hohen Eigenheimquote – zu einem relativ hohen Wohlstand des Dorfes bei. Ein weiterer Vorzug des Dorfes ist seine Naturnähe. Sie bietet in Feld, Wald und Garten eine unmittelbare Chance der Erholung, Entspannung, Freizeitnutzung und körperlichen Betätigung. Vor allem der dörfliche Garten gilt inzwischen als ein Kernbestand ländlicher Lebensqualität.
Durch Schule, Urlaub und Beruf haben viele Bewohner von Kirchhusen schon seit Kindesbeinen an Kontakte mit dem Ausland. Manche sind durch ihr Studium oder für ihre Firmen monatelang auf anderen Kontinenten tätig. Das Dorf selbst ist regelrecht bunter geworden durch zahlreiche Zuwanderer aus dem europäischen und außereuropäischen Ausland. Einige sind schon seit Jahrzehnten in Kirchhusen und bewohnen ehemalige Bauern- und Handwerkerhäuser. Im Vergleich zu 1800 zeigt sich das heutige Dorf weltoffen. Der Dorfbewohner ist zum Globetrotter geworden, er bleibt aber "seinem Kirchhusen" als Basisstation verbunden.
Zwischen Raumordnung und Kommunalpolitik
Die Entwicklung der Dörfer und des ländlichen Raumes wurde und wird in starkem Maße durch die Politik geprägt. Die Politik für das Land ist für viele ein Labyrinth – sie geschieht auf verschiedenen Ebenen und in sehr unterschiedlichen Fachbehörden. Für alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft ist in erster Linie die Kommunalpolitik zuständig, also Bürgermeister, Ortsvorsteher, Gemeinderat und Verwaltung. Aber der ländliche Raum ist nicht autonom. Er erfährt in vielfacher Weise eine politische "Behandlung" durch die Parlamente und Ministerien des Bundes und der Länder. Diese führen die ländlichen Bürger und Kommunen durch ein enges Geflecht von Gesetzen, Vorschriften, Richtlinien, Steuern und Förderprogrammen am "goldenen Zügel". Nicht wenige sprechen auch von Bevormundung und Fremdbestimmung. Ein Beispiel: Ob eine dörfliche Schule heute weiter bestehen bleiben kann, entscheidet längst nicht mehr nur der lokale Gemeinderat.
Es ist für das Verständnis des ländlichen Raumes wichtig, auch dessen komplexe Fernsteuerungen durch Bund und Länder kennenzulernen. Diese zeigen sich sowohl in der staatlichen Raumordnung als auch in diversen Fachpolitiken.
Aber was genau macht die staatliche Raumordnung? Vereinfacht ausgedrückt, entwickelt sie überörtliche und fachübergreifende Leitvorstellungen von der Ordnung und Entwicklung des gesamten Staatsgebietes. Diese sollen nicht nur menschen- und umweltgerecht sein, sondern auch der Wirtschaft dienen. Konkret bemüht sich die Raumordnungspolitik um eine Beseitigung der räumlichen Disparitäten, das heißt der Ungleichgewichte im regionalen Gefüge des Staates. Wenn zum Beispiel größere Landstriche noch nicht durch Autobahn- und ICE-Strecken oder Flughäfen erschlossen sind und wirtschaftlich darunter leiden, arbeitet die Raumordnung auf eine Behebung dieser Defizite hin. Für den Gesamtstaat erfüllt der ländliche Raum nach Weisung der Raumordnung die typischen flächenbezogenen "Leistungen" wie Agrarproduktion, Ökologie und Umwelt sowie Freizeit und Erholung.
Für den ländlichen Raum haben die Gesetze und Programme der Raumordnung eine große Bedeutung. So heißt es im Bundesraumordnungsprogramm von 1975 wörtlich: "Gleichwertige Lebensbedingungen im Sinne dieses Programms sind gegeben, wenn für alle Bürger in allen Teilräumen des Bundesgebietes ein quantitativ und qualitativ angemessenes Angebot an Wohnungen, Erwerbsmöglichkeiten und öffentlichen Infrastruktureinrichtungen in zumutbarer Entfernung zur Verfügung steht und eine menschenwürdige Umwelt vorhanden ist: in keinem dieser Bereiche soll ein bestimmtes Niveau unterschritten werden. In den ländlichen Gebieten sind wirtschaftlich und infrastrukturell den übrigen Teilräumen entsprechend gleichwertige Lebensbedingungen anzustreben."
Die Raumordnung hat im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte mehrere räumliche beziehungsweise formale Instrumente entwickelt, die auf den ersten Blick harmlos erscheinen, aber doch kräftig in die Entwicklung ländlicher (und städtischer) Regionen eingreifen. Wir unterscheiden vier verschiedene Instrumente, die prinzipiell jeweils zu einer formalen Gliederung des Raumes führen: das Zentrale-Orte-Konzept, die Siedlungs- und Entwicklungsachsen, die Vorrang- und Sanierungsgebiete sowie die Raumgliederungen beziehungsweise Gebietstypen. Das Zentrale-Orte-Konzept ist das wichtigste Instrument der Raumordnung und prägt den ländlichen Raum auch bis heute stark. Zentrale Orte sind Siedlungen mit einem "Bedeutungsüberschuss" gegenüber dem Umland. Sie versorgen mit ihren öffentlichen und privaten Infrastruktureinrichtungen und Dienstleistungen (zum Beispiel Krankenhäuser, Verwaltungen, Schulen oder Tageszeitungen) nicht nur die eigene Bevölkerung, sondern auch die von Nachbarorten.
Vor allem mit den kommunalen Gebietsreformen von 1965 bis 1975 und teilweise auch in den neuen Ländern ab 1990 wurde das Zentrale-Orte-Konzept in die Praxis umgesetzt. Durch gesetzlich festgelegte Eingemeindungen in neue Großgemeinden verloren die weitaus meisten deutschen Dörfer ihre lokale Selbstbestimmung, das heißt ihren Bürgermeister und Gemeinderat. Über 300.000 ehrenamtlich tätige Kommunalpolitiker wurden auf dem Land "beseitigt" und gingen damit den Dörfern auf Dauer verloren. Dies zeigt den großen Demokratie- und Kompetenzverlust durch die kommunalen Gebietsreformen auf dem Land. Im Schul-, Polizei-, Post- und Bahnbereich folgten Reformen nach den gleichen Prinzipien mit dem Ergebnis, dass in Jahrzehnten aufgebaute und funktionsfähige Einrichtungen in Dörfern und Kleinstädten beseitigt wurden. Das Zentrale-Orte-Muster wurde zu einer Politik der Zuordnungen, der Normsetzungen, der Fernsteuerung, generell einer demokratiefeindlichen Politik von oben nach unten.
Die Bilanz der bisherigen Raumordnungspolitik für den ländlichen Raum ist eher ernüchternd. Der Abbau von Ungleichgewichten zwischen starken und schwachen Teilregionen war wenig erfolgreich. Dies stellen die Raumordnungsberichte des Bundes und der Länder sowie wissenschaftliche Analysen immer wieder fest. Auch die Prognosen gehen nicht davon aus, dass sich zum Beispiel die Strukturschwächen abgelegener ländlicher Regionen kurz- oder mittelfristig verbessern werden. Trotz generell gleichbleibender Leitbilder und Instrumente ist daher in der Raumordnung seit etwa 20 Jahren ein (zumindest verbaler) Paradigmenwechsel, das heißt ein Wechsel von einer Grundauffassung zu einer anderen, festzustellen. Man hat erkannt, dass zentralstaatliche, standardisierte Problemlösungen, die "von oben nach unten" diktiert werden, den unterschiedlichen Bedürfnissen auf dem Land nicht mehr gerecht werden und außerdem politisches Kapital verschenken. Heute gilt offiziell das Leitbild der endogenen beziehungsweise regional angepassten Entwicklung, das erstmals im Raumordnungsbericht von 1990 auftaucht. Dieses Konzept will die Kompetenzen und das Engagement der Bürger und Politiker auf dem Land stärker als bisher in die Politik einbringen. Erste Konzepte "von unten" finden sich zum Beispiel in der kommunalen und regionalen Energieversorgung und beim öffentlichen Nahverkehr. Hoffnung machen auch die neuen "Leitbilder und Handlungsstrategien für die Raumentwicklung in Deutschland" von 2006. Hierin wird die "Sicherung und Gestaltung der gewachsenen Kulturlandschaft" als ein herausragendes Leitbild der Raumordnung genannt. Mit dieser neuen Zielvorgabe weist der Staat dem ländlichen Raum eine Hauptrolle zu. Zur weiteren Realisierung der endogenen Entwicklung und Kulturlandschaftsgestaltung benötigt die regionale und kommunale Politik jedoch größere Spielräume. Das bedeutet vor allem, dass die kommunalen Verwaltungen der Kreise und Gemeinden auf dem Land gestärkt werden müssen.
Warum das Dorf nicht sterben darf
In den Zentren von Politik, Wissenschaft und Medien wird die Bedeutung des Wirtschafts- und Lebensraums Dorf für den Staat und die Gesellschaft häufig unterschätzt und zu wenig respektiert. Das Dorf hat zwar derzeit mit mancherlei Schwierigkeiten zu kämpfen, aber in den großen Städten ist das Ausmaß an Problemen mindestens ebenso groß wie auf dem Lande. Hier wie dort stehen Politik und Bürgergesellschaft vor großen Herausforderungen.
Warum ist es wichtig, dass die Dörfer bestehen bleiben? Warum verdient auch das Land(leben) den Respekt und die Fürsorge des Staates? Über 40 Millionen Deutsche leben auf dem Land und fühlen sich dort wohl. Und es gibt viele positive Merkmale, Werte oder auch Produkte, die das Land und seine Bewohner für die gesamte Gesellschaft bereitstellen:
Wirtschaftlich ist das Land, das etwa 90 Prozent der Staatsfläche ausmacht, keinesfalls das Armenhaus der Nation, gut die Hälfte der Wertschöpfung des Staates erfolgt hier. Viele Dorfregionen rangieren ökonomisch über dem jeweiligen Landesdurchschnitt, was vor allem der auf dem Land dominierenden mittelständischen Wirtschaft zu verdanken ist. Zahlreiche Weltmarktführer ("Hidden Champions") sitzen auf dem Land.
In der Landbevölkerung herrscht ein relativ hoher Wohlstand. Gründe hierfür sind die hohe Eigenheimquote (über 80 Prozent) oder auch das sogenannte Informelle Wirtschaften, das ständige Geben und Nehmen in der Nachbarschafts- und Verwandtschaftshilfe.
Das Land versorgt die gesamte Gesellschaft mit Lebensmitteln und zunehmend mit erneuerbarer Energie, darüber hinaus mit wichtigen Rohstoffen und Naturgütern wie Bodenschätzen, Wasser und Holz.
Ein hohes Plus des Dorfes ist die immer noch höhere Geburtenquote gegenüber der Großstadt. Nach einer jüngeren UNICEF-Studie sind Bildung sowie materielles, soziales, körperliches und psychisches Wohlbefinden bei Kindern und Jugendlichen auf dem Lande tendenziell auf einem höheren Niveau als in der Großstadt.
Generell ist auch bei den Erwachsenen die Zufriedenheit mit dem Wohnumfeld auf dem Lande höher als in Großstädten.
Die Zufriedenheit und Kraft des Dorfes sind ein Resultat der ländlichen Lebensstile. Diese sind natur-, traditions-, gemeinschafts- und handlungsorientiert.
Das Sich-Auskennen und Handeln in vielen praktischen und natürlichen Bereichen ist ein weiterer Kernbereich des dörflichen Lebens. Insgesamt ist das vorsorgende Leben und Wirtschaften auf dem Lande stärker verbreitet als in der Großstadt.
Dorfbewohner haben eine hohe Kompetenz, lokale Fragen und Probleme ehrenamtlich oder genossenschaftlich anzugehen und Verantwortung für das Gemeinwesen zu tragen. Selbstverantwortung und Anpackkultur sind im Dorf tief verwurzelt.
Ein großer Schatz des Landes sind seine abwechslungsreichen und regionalspezifischen Natur- und Kulturlandschaften samt ihrer Dörfer und Kleinstädte mit ihren sehr unterschiedlichen Bautraditionen, die auch von der Großstadtbevölkerung häufig für Erholung und Freizeit besucht und genutzt werden.
Das Land "liefert" also nicht nur hochwertige Kulturlandschaften, Wirtschaftsgüter und Lebensmittel, es bietet auch der Gesamtgesellschaft und damit den Großstädten eine alternative Lebensform, die durch Natur- und Menschennähe, durch vor- und fürsorgendes Denken und Handeln geprägt ist. Warum sollte der Staat dies "abschaffen"? Stadt und Land sind gleichwertig in ihrer Bedeutung für den Gesamtstaat und die Gesellschaft. Sie sind aufeinander angewiesen.
Es besteht somit eine Interessen- und Verantwortungsgemeinschaft von Stadt und Land. Wenn es dem einen Teil schlecht geht, schadet das auch dem anderen, und es geht auch der Gesamtheit von Staat und Gesellschaft schlecht. Dies hat übrigens – fast wörtlich – schon vor 160 Jahren der berühmte Agrarökonom Heinrich von Thünen so formuliert. Das ausgewogene Neben- und Miteinander von Stadt und Land ist bis heute in Deutschland ein hohes Staatsziel.
So ist die Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen in allen Teilräumen des Landes als politisches Leitbild im Grundgesetz sowie den Raumordnungsgesetzen des Bundes und der Länder verankert. Das heißt: Alle Regionen – ob Stadt oder Land – dürfen den gleichen Respekt und Zuspruch durch den Staat erwarten. Staat und Gesellschaft profitieren vom Austausch, vom Geben und Nehmen zwischen Stadt und Land.
Dorf und Land haben ökonomische, ökologische, kulturelle und soziale Potenziale und bringen diese auch in hohem Maße in die Gesamtgesellschaft ein. Außerdem lieben sehr viele Menschen das naturnahe und überschaubare Landleben – und gestalten dies mit Gemeinwohldenken und Anpackkultur. Nicht nur die Stadt, auch das Dorf ist ein Erfolgsmodell der europäischen und deutschen Geschichte. Dies gilt auch für die Zukunft.