Junge Familien pachten begeistert Schrebergärten oder Äcker beim Bauern, urbane Gemeinschaftsgärten schießen wie Pilze aus dem Boden, Landmagazine erreichen Millionenauflagen und Wildkräutersammelkurse sind ausgebucht. Mehr Landgefühl war nie. Die Trendsetter der "Neuen Ländlichkeit" sind jedoch nicht etwa Dorfbewohner, sondern zumeist Städter, die sich im Anbauen, Ernten und Einkochen versuchen. Es ist müßig, zu erwähnen, dass es sich zumeist um idealisierte Vorstellungen vom Landleben handelt, die mit "realen" Verhältnissen auf dem Land oder gar in der Landwirtschaft wenig zu tun haben.
Der Antagonismus zwischen "unverfälschtem Landleben" und "städtischer Entfremdung" ist tief in den "Quellcode der Moderne eingeschrieben", so der Kulturwissenschaftler Stefan Höhne.
Aktuelle Gesellschaftsanalysen legen nahe, dass die (urbane) Mittelschicht zutiefst verunsichert, verbittert, von Statuspanik geplagt ist und sich bei der Jagd nach der Work-Life-Balance in der Rushhour des Lebens zerreibt.
Ländliche Idylle
Die äußerst beliebten Landmagazine, die in millionenfacher Auflage erscheinen, sprechen zwar, ebenso wie die nicht weniger gern gesehenen Volksmusiksendungen, sozialstrukturell unterschiedliche und medienanalytisch fein austarierte Nutzergruppen an, "arbeiten" jedoch beide mit der idyllischen Repräsentation des Ländlichen und der Landwirtschaft: Erntedank- und Oktoberfest, Weinlese, Oldtimer-Traktoren, herbstliche Wildmenüs – die Themen der neuesten "Heuballen-Hefte".
Die "ländliche Idylle" ist, ebenso wie das Dorf als Ort des "guten Lebens", von jeher fester Bestandteil der künstlerisch-literarischen Bearbeitung von Land.
Sehnte sich das aufstrebende (klein)städtische Bürgertum in Kunst, Musik und Literatur nach unberührter Natur und urwüchsigem Landvolk, so tritt mit dem Aufkommen der Industriegesellschaft und der zunehmenden Verstädterung im 19. Jahrhundert stärker das Motiv der Antiurbanität in den Vordergrund. Land und Dorf wurden nun explizit zum Gegenentwurf zur entfremdenden, schmutzigen, krankmachenden, anonymen Großstadt. Auch in den kommenden Jahren, die verschiedene Wellen von Landromantik (Lebensreform, Wandervogelbewegung) bis hin zur Landperversion (NS-Blut- und Bodenideologie) erlebten, tauchen stets die gleichen Ingredienzien zur Imagination des Ländlichen auf – das "gute Leben", Gemeinschaft, Naturnähe und Homogenität.
Dass die "realen" Verhältnisse auf dem Land oft eher einem "Not- und Terrorzusammenhang"
Das Glück liegt auf dem Land?
Nicht Antiurbanität, sondern der Wunsch nach Naturnähe und sozialem Miteinander, Entschleunigung und Achtsamkeit wecken die "Sehnsucht der Städter nach dem ‚Land‘".
Bastelbogen für das Landleben
"Landlust" lesen ist eine Sache, eine Kräuterspirale anlegen, einen Garten mieten oder gar als Selbstversorger aufs Land ziehen eine andere. Wer sind die Gestalter der Neuen Ländlichkeit? Raumpioniere, urbane Gärtner, Selbstversorger, Landlustleser – die unterschiedlichsten Phänomene und Akteure tummeln sich auf diesem Feld. Medial besonders präsent ist die Selbstversorgerbewegung, die, mit Hunderten von Ratgebern bestens versorgt, in ihr neues Leben als Gärtner, Kräutersammler, Einkocher startet. Auf der Basis einer qualitativen Inhaltsanalyse verschiedenster Ratgeber, Erlebnis- und Selbsterfahrungsberichte von Selbstversorgern konnten unterschiedliche Typen und Motivstrukturen extrahiert werden.
Die Landlustigen holen sich die Anregungen zur Selbstversorgung light, im Hausgarten oder auf dem Balkon, in den genannten Landmagazinen. Auch das Sammeln von Wildkräutern und Einlegen der selbsterzeugten Produkte dient eher der Entschleunigung des Alltags denn der Ernährungssicherung. Ihnen geht es vor allem anderen um das "gute Leben". Genuss, Geschmack und gutes Gewissen beim Konsum stehen im Vordergrund.
Eine weitere Gruppe fühlt sich zu den Ideen praktischer Landarbeit hingezogen: die grüne Familie. Die jungen Erwachsenen, oft junge Eltern, möchten für sich und ihre Kinder frisches selbstangebautes Gemüse produzieren und verarbeiten. Um dem Nachwuchs einen Bezug zur Natur und den Nahrungsquellen zu vermitteln, wird eine Parzelle im Selbsternteprojekt oder ein Schrebergarten gepachtet oder auch bei einem urbanen Gemeinschaftsgarten mitgemacht. Die grüne Familie fühlt sich einem nachhaltigen Lebensstil verpflichtet, kauft gern im Bioladen und kocht vollwertig. (Teil-)Selbstversorgung und Lebensmittelverarbeitung werden als Freizeitspaß für die ganze Familie, aber durchaus auch als pädagogisches Konzept in der Kindererziehung verstanden.
Medial wenig präsent, dennoch sicher die größte Gruppe der (Teil-)Selbstversorger, sind die Heimatler, die Traditionalisten unter den Gärtnern und Köchen. Sie sind meist älter und leben häufig im ländlichen Raum. Aufgewachsen mit großem Nutzgarten, Schrebergarten oder auf einem Hof, ist private Hauswirtschaft für sie kein Fremdwort, zudem beherrschen sie die alten Kulturtechniken noch. Geht es bei den neuen Selbstversorgern vor allem um den Anbau von Obst und Gemüse und nur selten um die Haltung von Nutztieren, so finden sich gerade im ländlichen Raum Ostdeutschlands durchaus noch viele Halter von Kleintieren wie Hühnern, Gänsen oder Kaninchen.
Den Money-Poor-Time-Rich-Typ verbindet mit den Heimatlern, dass der Eigenanbau und die Verarbeitung von Lebensmitteln nicht nur Freude bereitet, sondern auch eine Entlastung in der Haushaltskasse bringen kann. Die Hinwendung zu mehr Eigenarbeit und privater Hauswirtschaft kann bei diesem Typus eine unfreiwillige Entscheidung sein, etwa durch den Verlust des Arbeitsplatzes, oder aber eine freigewählte Reduzierung der Erwerbsarbeit, um mehr persönliche Freiräume zu erlangen. Auch hier finden wir das Motiv des "guten Lebens", das Erwerbs- und Eigenarbeit harmonisch miteinander verbindet und Raum für kreative Selbstentfaltung lässt.
Einen deutlichen Schritt in Richtung Voll-Selbstversorger-Leben vollziehen dann die Aussteiger, die sich einer alternativen Lebensweise verschreiben. Während der Money-Poor-Time-Rich-Typ die Bindung zur Erwerbsarbeit nicht ganz verloren hat, sondern lediglich die Arbeitszeit reduziert, verlässt der Aussteiger seine "alte Welt". Dieser Typus investiert einen Großteil seiner Zeit in die Selbstversorgung. Er wohnt vorwiegend im ländlichen Raum oder den Stadtrandlagen und bewirtschaftet entweder Mietäcker oder das zum Wohnhaus gehörende Grundstück. Konsumkritik wird entweder auf kultureller Ebene als Herrschaftskritik geübt oder als Kritik am Naturverbrauch und der Naturzerstörung.
Noch einen Schritt weiter gehen die Aktivisten, die so unabhängig und ressourcenschonend wie möglich leben wollen. Sie konzentrieren sich ähnlich wie die Aussteiger darauf, möglichst nur zu verbrauchen, was sie auch produzieren. Allerdings steht hier Autarkie nicht synonym für soziale Isolation, sondern impliziert vielmehr Vernetzung und Kooperation mit Gleichgesinnten. Unter den Aktivisten sind etwa die Organisatoren der Transitiontown-Bewegung
Zusammenfassend lässt die vorgestellte Inhaltsanalyse einen ersten Eindruck über die Bandbreite der unterschiedlichen (Teil-)Selbstversorgung zu, ohne Angaben über die quantitative Verteilung der Typen geben zu können. An dem einen Ende der Skala stehen die Landlustigen, die Selbstversorger light, die die private Hauswirtschaft für sich als Freizeitbeschäftigung entdeckt haben. Am anderen Ende stehen die Aussteiger und Aktivisten, die Selbstversorgung als Gegenstrategie zur kapitalistischen "konsumverseuchten" Welt sehen und versuchen, weitgehend autark zu leben. Der Gedanke, der sich bei vielen US-amerikanischen Selbsthilfeprojekten wie den communal gardens finden lässt, (anderen) Zugang zu Lebensmitteln sowie Gütern- und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs zu verschaffen oder den öffentlichen Raum zurückzuerobern, ist wenig ausgeprägt.
Jenseits der Idylle
Nun wirkt das doch alles recht idyllisch! Landmagazine erfreuen ein Millionenpublikum, urbane Gärtner begrünen die städtischen Brachen und Kinder werden auf Mietäckern an gesunde Ernährung herangeführt. Soweit – so harmlos? Ein Blick auf die aktuellen politischen Diskurse um den Wandel des Wohlfahrtsstaates und den Rückzug der Daseinsvorsorge aus der Fläche macht deutlich, dass auch hier die Schlagworte der ländlichen Imagination auftauchen: das "gute Leben", Gemeinschaft und Homogenität – allerdings als Trojaner, um mit diesen positiv besetzten Bildern gesellschaftliche Veränderungen und harte politische Einschnitte zu verschleiern.
Das Dorf als Ort des "guten Lebens" hat eine lange Tradition. Das "gute Leben" meint aber heute zunehmend das gute individuelle Leben, nicht etwa ein besseres Leben für alle. Für naturliebende Neubürger in der Uckermark, so konnte die Geografin Julia Rössel zeigen, ist die ländliche Idylle vor allem ein Privatvergnügen, das auch schon mal mit den Anforderungen der Landwirtschaft vor Ort in Konflikt gerät.
Vor diesem Hintergrund besteht die Gefahr, dass der allmähliche Abbau von Infrastrukturen, die schleichende Akzeptanz von Versorgungsengpässen oder die Abwertung des öffentlichen Raums zu regionalen und kulturellen Eigenheiten umgedeutet werden. Verödete Räume werden in Kreativzonen umbenannt, Raumpioniere sollen sterbenden Dörfern neues Leben einhauchen, Dorfläden und Bürgerbusse müssen lokale Defizite ausgleichen. Die soziale Frage nach Gleichheit und Zusammenhalt wird auf der Suche nach dem "guten Leben" emotional individualisiert. Diese Fragmentierung der sozialen Frage in Teilaspekte des "guten Lebens", in private oder regionale Wohlfühlfaktoren, ist insofern besorgniserregend, da der Wert der gleichen Lebensverhältnisse ein zentrales, normatives und strukturelles Prinzip des sozialen Rechtsstaates der demokratischen Wohlfahrtsgesellschaft und des sozialen Zusammenhalts repräsentiert.
Die Sehnsucht nach Gemeinschaft, nach Nahraumerfahrungen, nach lokalen Produkten und zwischenmenschlichen Kontakten scheint groß in Zeiten der Digitalisierung. Die dörfliche Gemeinschaft, oft als Idealform menschlichen Zusammenlebens imaginiert, in der enge soziale Kontakte Geborgenheit und Sicherheit spenden, scheint nun auch für Politiker attraktiv, die nicht mehr wissen, wie sie die Konsequenzen des demografischen Wandel in den Griff bekommen sollen. Sorgende Gemeinschaft (caring community) heißt das Zauberwort. Mit dem Rückzug des Wohlfahrtsstaates aus einzelnen Bereichen der Daseinsvorsorge, besonders aber aus der Fläche, geht eine verstärkte Suche nach Kooperationspartnern und Allianzen mit Unternehmen und Bürgern einher. Gerade in ländlichen Räumen wird gerne an die "ureigenen Kräfte" wie Nachbarschaftshilfe und bürgerschaftliches Engagement appelliert, um die Bürger auf ihre neuen "Aufgaben", wie etwa die Unterstützung von pflegebedürftigen Nachbarn, vorzubereiten. Die heimeligen Begriffe "Nachbarschaftshilfe", "Solidarität" und "Gemeinschaft" verschleiern aber letztlich nur, dass die Kosten für die wegbrechenden sozialen und kulturellen Daseinsvorsorgeleistungen mehr und mehr privatisiert werden, während die Anforderungen an die individuellen Bewältigungskompetenzen steigen. War es ein wohlfahrtstaatlicher Gewinn, dass im Notfall Hilfe- und Unterstützungsleistungen zuverlässig zu erwarten waren, so schwindet diese Sicherheit mehr und mehr. Mit dem Hinweis auf das genuin Dörfliche wird Solidarität re-familialisiert und mithin wieder Angelegenheit lieber Verwandter und wohlmeinender Nachbarn.
Angesichts der aktuellen Debatten um die Aufnahme von Flüchtlingen, die mit Aufmärschen "besorgter Bürger", brennenden Flüchtlingsunterkünften sowie einem deutlichen Rechtsruck in der Parteienlandschaft einhergehen, entsteht der Eindruck, dass Teile der Öffentlichkeit, aber auch der Politik glauben, wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Homogenität sei nach wie vor möglich. Dass dies ein fataler Irrglaube ist, zeigt sich gerade an den Entwicklungen in entlegenen ländlichen Räumen. Das Dorf, fantasierter Ort sozialer Gleichheit, entwickelt sich unter Schrumpfungsbedingungen eben nicht zurück zu einem imaginierten sozialen Ganzen, das im Transformationsprozess zur postmodernen Gesellschaft irgendwie verloren gegangen war, doch potenziell wieder herstellbar ist. Die funktionalen Differenzierungen der ökonomischen, sozialen und politischen Wirklichkeit, die unter Wachstumsbedingungen entstanden sind, kehren sich unter den Bedingungen der demografischen De-Infrastrukturalisierung keineswegs einfach um. Im Gegenteil: Diese "Entdichtung" wird von einer stärkeren sozialen Ausdifferenzierung und Polarisierung der Arbeits- und Lebensweisen begleitet werden. Infrastrukturelle und sozialstrukturelle Perforationen und Lichtungen, Polarisierungen und Ungleichheiten breiten sich bereits inmitten prosperierender Regionen aus. Der demografische Wandel führt zu keiner "Retro-Homogenität" räumlicher und sozialer Wirklichkeiten, in der eine Region, ein Ort, ein Quartier zu ihren "Ursprüngen" zurückkehrt.
Gesellschaftliches Grundrauschen
So bleibt die Neue Ländlichkeit, was sie seit dem Idyll Arkadiens immer schon war, nämlich ein irdisches Paradies, eine Welt imaginierten Glücks, die Orientierung in Zeiten fundamentaler Umbrüche gibt. Empirisch betrachtet, sind die Aktivisten der Neuen Ländlichkeit (Raumpioniere, städtische Gemeinschaftsgärtner, Selbstversorger) wohl eher eine kleine Gruppe, die aber – medial gehypt – das Grundrauschen zu einer neuen gesellschaftlichen Stimmung liefern können, die im besten Fall den Weg zu mehr Nachhaltigkeit, Ressourcenschonung und Solidarität weist. Gleichzeitig gilt es, einen Blick darauf zu haben, dass diese positive Belegung durch die "reale" Ländlichkeit nicht überholt wird, die im schlechtesten Fall "Bullerbü in braun",