Die Grundlagen der liberalen Form der repräsentativen Demokratie, die auf Mehrheitsentscheidungen aufbaut, scheinen derzeit auf nationalstaatlicher und supranationaler Ebene durch eine Politik infrage gestellt zu sein, die relevante Entscheidungen in Expertengremien und Kommissionen auslagert, bevor sie diese dem Parlament zur Beratung vorlegt.
Demokratie und "Postdemokratie"
Die historische Erfahrung von Weimar und des Nationalsozialismus führte dazu, dass der Glaube an die formale Kraft des Gesetzes in Deutschland überdacht wurde, war Adolf Hitler doch zunächst auf formaldemokratischem Wege und mit parlamentarischen Mehrheiten an die Macht gekommen, ehe er die Demokratie abschaffte. Die politischen Parteien, das Parlament, die Regierung und die Gerichte im politischen System der Bundesrepublik waren daher gut beraten, sich nicht auf die formalen demokratischen Prozedere und Möglichkeiten zu beschränken, sondern auch die politischen Dimensionen ihrer Entscheidungen mitzudenken.
Ein Blick auf die normativen, politischen und ökonomischen Veränderungsprozesse innerhalb der Staatsform Demokratie ist daher immer besonders relevant. Die liberalen Demokratieversprechen von politischer Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz bestehen zwar formal weiterhin für alle Staatsbürgerinnen und Staatbürger, scheinen heute aber eingeholt von einer marktbezogenen neoliberalen Rationalität, die die abstrakt-imaginierte liberale Freiheit des Individuums sowie politische Rechte zunehmend mit Rechten auf dem freien Markt unter Wettbewerbsbedingungen gleichsetzt. Damit wird auch die klassische liberale Vorstellung von Freiheit und Gleichheit umgedeutet oder marktkonform interpretiert. Der Markt selbst bleibt dabei zwar ein selbstständiges Handlungsfeld, hat aber normative Auswirkungen auf die Form und Funktionen liberaler Demokratien. Die Ausrichtung nach ökonomischen Wettbewerbsbedingungen hat dazu geführt, dass der Homo oeconomicus normativ als politische und soziale Leitfigur dient, der sich nicht nur die Individuen fügen sollen, sondern an der sich jegliches staatliche Handeln bemessen lassen muss.
Profitabilität, Rentabilität, Leistung und Kosten-Nutzen-Maximierung werden dabei zu Maximen, die auch für den Rechtsstaat und die Staatsform Demokratie relevant werden: Wie die Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008 verdeutlicht hat, dient der Staat immer dann dem Markt als Stabilisator, wenn der Markt dies benötigt. Staatliche Legitimität wird somit an die erfolgreiche Durchsetzung von Marktinteressen gekoppelt. Dies verändert die Annahme, dass der Staat letztlich Repräsentant des Volkes sei.
Diese Vermarktlichungstendenzen verschiedener, auch vormals privat gestalteter Lebensbereiche – etwa die Reprivatisierung in der Pflegearbeit und die Ausrichtung der öffentlichen Verwaltung nach dem Marktprinzip durch ökonomische Benchmarks, New Public Management und Leistungsvereinbarungen zur Output-Optimierung – sollen ökonomisch handelnde Akteurinnen und Akteure schaffen.
Die Administration der politischen Verwaltung wurde in den 1970er Jahren noch als "hinreichend autonom"
Im Zeichen multipler internationaler Krisen wie der Finanz-, Umwelt- und Wirtschaftskrise – einhergehend mit einer Krise der sozialen Reproduktion alltäglicher Lebensführung und der fortwährenden Repräsentationskrise –
Staat als Verdichtung der Kräfteverhältnisse
Die sozialwissenschaftliche Diskussion, dass technokratische und wirtschaftspolitische Eliten Entscheidungen zu ihren Gunsten gestalten, wurde bereits durch die Postdemokratie-These entfacht.
Das heißt, dass sich soziale und politische Antagonismen kapitalistischer Gesellschaften in politischen Institutionen materialisieren. In der Verdichtung sozialer Kräfteverhältnisse kommt dem Staat dabei eine relative Autonomie zu, sodass sich die kapitalistische Produktionsweise oder die Interessen bestimmter Klassen- oder (Finanz-)Kapitalfraktionen nicht einfach in den staatlich-institutionellen Apparaten verwirklichen. Vielmehr ist der Staat eine Arena für Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen institutionellen Apparaten und Akteuren. Ihre Verhandlungspositionen sind mit unterschiedlichen Machtressourcen ausgestattet. Sie befinden sich daher in einem "Feld strategischer und struktureller Selektivität".
Dass die Institutionen und Akteure in der liberalen nationalen Demokratie spätestens seit der Finanz- und Wirtschaftskrise nicht mehr in der Lage sind, einen Interessenausgleich herzustellen, liegt bei genauerer Betrachtung daran, dass sich wettbewerbspolitische und geldwertstabilitätsorientierte Interessen über exekutive Institutionen im Zuge der neuen Kompetenzverschiebungen innerhalb der EU durchsetzen. Der Soziologe Wolfgang Streeck argumentiert in diesem Kontext, dass die politischen Institutionen "nichts zu entscheiden"
Multiple Krise und Demokratie
Die systemisch-krisenhaften Tendenzen, die dem Finanzkapitalismus inhärent sind und denen die repräsentative Demokratie in ihrer politischen Form nur begrenzt begegnen kann, führt zu der Frage zurück, wie politische Repräsentantinnen und Repräsentanten politökonomische Entscheidungen treffen und legitimieren.
In wirtschaftspolitischen Krisendiskursen seit 2008 wird häufig auf den Sachzwang des "Schnell-und-effektiv-handeln-Müssens" zurückgegriffen, da sonst die Finanzmärkte nicht befriedet würden und es somit durch Ratingagenturen noch schneller zu Abstufungen einzelner Länderbonitäten komme, was zuletzt dennoch immer wieder geschehen ist.
In Zeiten, in denen der Kapitalkreislauf unterschiedliche hochspezialisierte Finanzkreisläufe entwickelt hat, die massiv miteinander verschränkt sind, wurde das Wissen um diese Verschränkungen zu einer Form des Expertentums. Geht es heute um anerkanntes demokratisches Regieren, dient dieses Expertentum als legitime Entscheidungsgrundlage.
Wenn wir zugleich an die Vordenker neoliberaler Wirtschaftspolitik wie Friedrich von Hayek denken, dann wird deutlich, dass der Abbau demokratischer Rechte immer schon immanenter Bestandteil neoliberaler Politik war: "The political institutions prevailing in the Western world necessarily produce a drift [towards the destruction of the market] which can be halted or prevented only by changing these institutions."
Krisenerscheinungen und exekutive Dominanz
Historisch mussten diese demokratischen Zugeständnisse an die Legislative aufgrund von politischen Kämpfen seitens der Gewerkschaften, progressiven Parteien und sozialen sowie politischen Bewegungen gemacht werden. Aber infolge steigender Arbeitslosigkeit und sinkender Mitgliederzahlen verlieren die sozialpolitisch orientierten Interessenvertretungen an Stärke und Durchsetzungskraft. Dies ist besonders in den Staaten ersichtlich, die seit 2010 unter die EU-Rettungsschirme gekommen sind: In Irland wurden etwa 2009 mit den National-Partnership-Agreements Kollektivverträge in der Privatwirtschaft abgeschafft, und es wurde zu betriebsinternen Haustarifen zurückgekehrt. Der politische Einfluss der Gewerkschaften wurde so zugunsten der Arbeitgeberseite geschwächt.
Die wirtschaftspolitischen Entwicklungen seit 2008 geben also nicht nur zu denken, was die Armutsgefährdung und den realen Armutsanstieg der Bevölkerung
Schluss
Der demokratische Interessenausgleich innerhalb der EU wird aufgrund der multiplen Krisenverhältnisse und den strikten Austeritätsprogrammen in den von der Finanzkrise besonders hart getroffenen Ländern nicht hergestellt – unabhängig davon, ob die Programme durch die supranationale Ebene vorgegeben wurden wie in Griechenland oder durch die bisherigen Regierungsparteien umgesetzt wurden wie in Spanien. Dabei waren besonders in diesen beiden Staaten die Parlamentswahlen eng verknüpft mit der Ablehnung der Austeritätspolitik. In Spanien ist es bis September 2016 trotz Neuwahlen zu keiner stabilen Regierungsbildung gekommen.
Bei der seit 2008 erfolgten diskursiven Problemverschiebung von einer Finanz- und Wirtschafts- zu einer Staatsschuldenkrise gerät oft aus dem Blick, dass nicht nur die Instabilität und hohe Volatilität des Banken- und Finanzsektors Probleme darstellen, sondern dass auch hohe Armutsraten zu einer Instabilität des politischen Systems führen können. Besonders in Spanien und Griechenland hatte dies gravierende Konsequenzen für den Zustand der repräsentativen Demokratie sowie für die Sozialsysteme und die Existenzsicherung der breiteren Bevölkerung. Auch in Irland haben die klassischen Großparteien Fianna Fáil, Fine Gael sowie Labour größere Verluste hinnehmen müssen.
Autoritär orientierte Maßnahmen wie die Verhängung des Ausnahmezustands in Frankreich zeigen auch, dass in einer spezifischen Krisenkonstellation die repräsentative Demokratie Formen des autoritären Etatismus,