Die globalen Kontextbedingungen sowie die nationalen parteipolitischen Machtverhältnisse und Entwicklungen, die das Jahrzehnt der Regierungen der neuen Linken
Im Zuge des Rohstoffbooms und eines relativen Aufmerksamkeitsverlusts durch die historischen Partner USA
Dennoch erfuhr das Muster der internationalen Einbindung Lateinamerikas in dieser Zeit keine grundlegende Veränderung. Beispielsweise konnte die Region weder ihre Wettbewerbsfähigkeit noch ihre Weltmarktintegration verbessern. Auch fand keine Vertiefung der kontinentalen Integrationsprozesse statt. Während sich der Gemeinsame Markt des Südens (Mercosur) erweiterte und politischer wurde, zeigten sich innerhalb der Andengemeinschaft (CAN) Auflösungstendenzen.
Die tief greifenden politischen und ökomischen Krisen, in denen sich Brasilien und Venezuela zurzeit befinden, erzwingen deren Rückzug von der regionalen und internationalen Bühne. Vor diesem Hintergrund sowie angesichts des schrittweisen Machtverlusts der politischen Linken in den nationalen Exekutiven und Legislativen, der entsprechenden außenpolitischen Aktzentverschiebungen und des Abflauens des Rohstoffbooms drängt sich der Eindruck auf, dass ein spezieller Zyklus lateinamerikanischer Außenbeziehungen gerade zu Ende geht.
Rückenwind durch Rohstoffpreise
Die meisten Volkswirtschaften Lateinamerikas konnten vom Rohstoffboom, der ab 2000 einsetzte, stark profitieren.
Diese Entwicklung zog zwei weitere Veränderungen nach sich: Während die Außenhandelsstruktur Lateinamerikas über die traditionellen Partner USA und EU hinaus um asiatische Länder ausgebaut und das Gewicht dahingehend verschoben wurde, nahm der Anteil der verarbeiteten Produkte unter den Ausfuhren ab. Mit der Diversifizierung der Handelspartner ging eine Konzentration der Exportgüter und zugleich eine Primarisierung der Exportpalette einher, das heißt, es wurden zunehmend unverarbeitete Rohstoffe ausgeführt. Dies wiederum bremste Industrialisierungsprozesse beziehungsweise kehrte sie teilweise sogar um. Dabei bewegte sich der lateinamerikanische Anteil am weltweiten Handel auf einem relativ stabilen Niveau (rund 6 Prozent), der jedoch eindeutig tiefer lag als der von Asien (rund 25 Prozent).
In dieser Phase konnte Lateinamerika einen Überschuss in seinem Warenhandel mit dem Rest der Welt (auch den USA und der EU) verzeichnen. Die Handelsbilanz der lateinamerikanischen Länder gegenüber China, Japan und Südkorea wurde aber zunehmend negativ. Dies war eine Folge der generell steigenden asiatischen Marktdurchdringung in Lateinamerika, die in Südamerika zwar noch nicht sehr ausgeprägt, in Mexiko, Zentralamerika und der Karibik aber besonders stark ist.
Entgegen großer Erwartungen, die durch Ankündigungen und umfangreiche Verträge geweckt wurden, haben sich die asiatischen Investitionen in der Region weniger dynamisch entwickelt. Auch diese konzentrieren sich im Rohstoffsektor, vor allem im Bergbau und der Soja-Branche. China investiert aber auch in die notwendige Infrastruktur (etwa Schienen, Straßen und Häfen), um sich Zugang zu den An- beziehungsweise Abbaugebieten zu verschaffen. Die ausländischen Direktinvestitionen (ADI) aus Asien erreichten 2014 rund 6 Prozent der gesamten ADI in Lateinamerika, ein Sechstel davon stammte aus China. Seine Rolle steht hier also im Schatten der traditionell wichtigeren Investoren für die Region: Niederlande (20 Prozent), USA (17 Prozent) und Spanien (10 Prozent).
Insgesamt haben der Rohstoffboom und die Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen Lateinamerika und China keine qualitativ höhere Eingliederung der Region in die Weltwirtschaft gebracht. Tatsächlich hemmte der einseitige Ausbau rohstoffbezogener Sektoren eine Steigerung der technologischen Fähigkeiten. Die Produktivitätskluft zwischen lateinamerikanischen und asiatischen Ländern ist nicht zuletzt dadurch größer geworden. In diesem Sinne reproduzieren die Wirtschaftsbeziehungen zwischen China und der Region das sogenannte Zentrum-Peripherie-Muster, bei dem Lateinamerika (Peripherie) auf die Rolle eines Rohstofflieferanten reduziert wird und vom Import von Industriegütern aus industriell höher entwickelten Ländern (Zentrum) abhängig bleibt.
Keine Vertiefung der regionalen Integration
Obwohl eine gewisse ideologische Homogenität sowie zahlreiche regionale Initiativen eine entsprechende dynamische Entwicklung des intraregionalen Handels vermuten ließen, blieb dieser im Vergleich etwa zu Europa und Asien auf einem niedrigen Niveau: Zwischen 2000 und 2011 stieg er lediglich von 15,75 auf 19,4 Prozent als Anteil des Gesamthandels Lateinamerikas (in Europa macht der intraregionale Handel zwei Drittel aus, in Asien ein Viertel).
Die mangelnde Intensivierung des Handels innerhalb Lateinamerikas hängt mit der niedrigen regionalen Integration zusammen. Entgegen dem "lateinamerikanistischen" und "integrationistischen" Diskurs vieler linker Präsidentinnen und Präsidenten setzte sich eine nationalistische und protektionistische (Außenhandels-)Politik durch, die in erster Linie kurzfristige, individuelle Interessen und nationale Wählerschaften im Blick hat. Paradigmatisch hierfür waren die (wirtschafts-)politischen Alleingänge einiger Mercosur-Regierungen – allen voran Argentiniens und Brasiliens – sowie das Plädoyer für eine Mitgliedschaft Venezuelas (2006) und dessen Aufnahme (2012) bei gleichzeitiger Suspendierung Paraguays.
Was die überregionalen Beziehungen betrifft, unterzeichnete der Mercosur im zurückliegenden Jahrzehnt nur wenige Freihandels- beziehungsweise Präferenzabkommen mit Drittländern, die wiederum kein besonderes Gewicht in dessen Außenhandelsstruktur aufweisen. Die Verhandlungen mit der EU sollen nach zwölf Runden in der zweiten Hälfte des Jahres 2016 wieder aufgenommen werden; die jeweiligen Angebote wurden im Mai 2016 unterbreitet.
Im Rahmen der CAN fand ebenfalls keine Vertiefung der Integration statt – jedoch in diesem Falle auch keine Erweiterung. Vielmehr wurden zentrifugale Tendenzen wirksam: Die ideologisch heterogenen Regierungen waren nicht in der Lage, gemeinsame Verhandlungspositionen gegenüber den USA und der EU zu erarbeiten. Stattdessen schlossen Peru und Kolumbien bilaterale Freihandelsabkommen mit den USA (2005 und 2006) und der EU (2012).
Aussenpolitischer Aktivismus Brasiliens und Venezuelas
Zu den dynamischsten Entwicklungen des vergangenen Jahrzehnts in Lateinamerika gehört zweifelsohne der außenpolitische Aufstieg Brasiliens und Venezuelas. Die Außenpolitik beider Länder war dabei – mit unterschiedlicher Ausprägung – von folgenden gemeinsamen Merkmalen gekennzeichnet: (1) Beide betrieben eine profilierte präsidentielle Diplomatie bei einem relativen Bedeutungsverlust des Außenministeriums und technischer Instanzen. (2) Beide führten einen Gerechtigkeitsdiskurs und nahmen eine Anti-Status-quo- (Brasilien) beziehungsweise eine "antisystemische" Haltung (Venezuela) ein, was eine verstärkte Problematisierung der ungleichen Verteilung materieller wie immaterieller Ressourcen auf globaler Ebene und die Aktivierung der Nord-Süd-Konfliktlinie bedeutete. (3) Damit verbunden war eine gewisse Distanz (Brasilien) beziehungsweise Feindseligkeit (Venezuela) gegenüber den USA sowie (4) eine prominente sozioökonomische Komponente.
Insbesondere unter der Präsidentschaft von Luiz Inácio Lula da Silva (2003 bis 2010) zeigte Brasilien ein zunehmendes regionales wie internationales Engagement, das hinsichtlich seiner Partner, Instrumente, Interessen und Ziele vielfältiger und parteipolitischer wurde.
Eine weitere Dimension war sozioökonomischen Charakters und bestand in der zentralen Stellung von Investitionen und Infrastrukturprojekten, etwa im Rahmen der 2000 errichteten Initiative für die regional-südamerikanische Integration und Infrastruktur (IIRSA), der nun internationalisierten brasilianischen Entwicklungsbank (BNDES) und Unternehmen sowie der Entwicklungszusammenarbeit. Letztere beschränkte sich nicht nur auf Südamerika, sondern erstreckte sich auch über das portugiesischsprachige Afrika.
Venezuelas außenpolitisches Engagement wurde vor allem von Präsident Hugo Chávez (1999 bis 2013) stark vorangetrieben. Unter dem Einsatz der Provokation als Stilelement,
Sowohl in Brasilien als auch in Venezuela verlor die Außenpolitik durch Regierungswechsel an politischem und ökonomischem Impetus. Zu der geringen außenpolitischen Begabung von Dilma Rousseff (2011 bis 2016) und Nicolás Maduro (seit 2013), den Nachfolgern von Lula und Chávez, und der geringen Priorität, die sie den Außenbeziehungen beimaßen, kamen politische und ökonomische Krisen, die eine Fokussierung auf nationale Probleme erforderten. Durch die Normalisierung der Beziehungen zwischen Kuba und den USA verlor Venezuela zudem ein polarisierendes und ideologisch identitätsstiftendes Moment.
Anzeichen eines Wandels
Konjunkturschwäche, Sparmaßnahmen, Korruptionsskandale und schwindende Zustimmungswerte für einige Regierungen sowie Machtwechsel geben heute in vielen Staaten Lateinamerikas der Innenpolitik den Vorzug gegenüber der Außenpolitik. Zugleich sind regionale Gewichts- sowie außenpolitische Akzentverschiebungen im Gange.
Während durch Brasilien und Venezuela geführte Bündnisse und Initiativen an Bedeutung verlieren, bemühen sich Argentinien und Mexiko um mehr regionale und internationale Sichtbarkeit. Die Pazifik-Allianz etabliert sich als schwach institutionalisierter, jedoch attraktiver und stark freihandels- sowie nach Asien orientierter Ansatz. Stand sie ursprünglich in einem Spannungsverhältnis zur atlantischen Seite Südamerikas, setzen sich der im Dezember 2015 angetretene argentinische Präsident Mauricio Macri und der seit Mai 2016 amtierende brasilianische Interimspräsident Michel Temer nun für eine Zusammenarbeit des Mercosur mit der Allianz ein.
Auch deshalb ist die einst befürchtete Auseinanderentwicklung von Südamerika und der Großen Karibik (Mexiko, Zentralamerika, Karibik) heute kein akutes Problem mehr. Seit ihrer Konstituierung im Dezember 2011 bildet die CELAC als intergouvernementale Dialog- und Koordinationsplattform – trotz ihres geringen Institutionalisierungsgrades – eine Klammer zwischen den 33 unabhängigen Staaten Lateinamerikas und der Karibik. Zudem wurde Kuba wieder stärker integriert: Die Suspendierung Kubas von der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) wurde 2009 aufgehoben, und Havanna und Washington haben 2015/16 ihre diplomatischen Beziehungen wieder aufgenommen.
Die sich verändernde Akteurskonstellation zeigte sich jüngst auch in einem anderen Prozess: So fanden die Friedensgespräche zwischen der kolumbianischen Regierung und der Guerillabewegung FARC–EP in Havanna (und Oslo) statt. Während Kuba und Norwegen als Mediatoren fungierten, waren Chile und Venezuela die von den Konfliktparteien gewählten Begleiter dieses Prozesses. Brasilien, einst der hauptsächliche "Konfliktmanager" Südamerikas und wichtiger Investor auf Kuba, war in diese Gespräche nicht involviert und somit der "große Abwesende".
All dies zeigt: Der Wandel der Kontextbedingungen und nationalen Machtverhältnisse der vergangenen Jahre hat auch die Außenbeziehungen der lateinamerikanischen Staaten in eine Anpassungsphase versetzt, in deren Verlauf sich eine veränderte Karte der regionalen Beziehungs- und Kräfteverhältnisse abzeichnet. Ob diese Phase schließlich in einen neuen internationalen Status für den gesamten Subkontinent münden wird, ist derzeit noch offen.