Viele Länder Lateinamerikas stecken derzeit in einer politischen oder wirtschaftlichen Krise – oder in beidem.
Doch an dem Land mit der aktuell dramatischsten politischen und wirtschaftlichen Krise, Venezuela, lässt sich am ehesten verdeutlichen, was eine zentrale Ursache der Krise ist, die auch für andere Länder gilt: Der Verfall des Ölpreises von durchschnittlich 100 US-Dollar im Jahr 2013 auf unter 30 US-Dollar Anfang 2016 schränkt den staatlichen Handlungs- und Verteilungsspielraum massiv ein – erst recht in einem Land, dessen Exporteinnahmen (und damit fast die gesamten Deviseneinnahmen) zu Zeiten hoher Preise zu 96 Prozent vom Erdöl abhingen. Die Abhängigkeit von den Ölexporten zeigt sich aktuell als ökonomisches Desaster, samt Hyperinflation (im Jahr 2015 nach offiziellen Angaben 180 Prozent) und systematischer Knappheit von grundlegenden Lebensmitteln.
Vor knapp eineinhalb Jahrzehnten verhielt es sich genau umgekehrt: Ab 2003 stiegen die weltweiten Rohstoffpreise drastisch – mit weitreichenden Auswirkungen für Lateinamerika, dessen Volkswirtschaften vornehmlich auf dem Export von agrarischen Rohstoffen, Bodenschätzen oder Pflanzen für die industrielle Verwendung basieren. Der Rohstoffpreisboom ereignete sich zeitgleich mit dem Wahlsieg linker Regierungen in vielen lateinamerikanischen Ländern; den Ausgangspunkt bildete die Wahl von Hugo Chávez in Venezuela Ende 1998.
Charakteristika des Neo-Extraktivismus
Trotz aller Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern basierten diese Veränderungen wesentlich auf dem sozioökonomischen Entwicklungsmodell des sogenannten Neo-Extraktivismus, das auf die intensivierte Förderung, Produktion und den Export von unverarbeiteten Rohstoffen setzt.
In einigen Ländern wie Brasilien oder Venezuela ist der Staat über eigene oder halbstaatliche Unternehmen selbst Investor, häufig sind einheimische oder internationale Kapitalgruppen aktiv. In der Landwirtschaft weiten sich Großgrundbesitz und eine agrarindustrielle Produktion von Soja, Baumwolle oder Zuckerrohr auf Monokulturen aus, zunehmend unter Verwendung von gentechnisch verändertem Saatgut (in Argentinien beispielsweise basiert der Sojaanbau zu fast 100 Prozent auf solchem Saatgut). Auch die Industrie ist in Ländern wie Brasilien stark am Modell des Neo-Extraktivismus ausgerichtet. Die Produktion von Saatgut, Düngemitteln, Pestiziden und Maschinen sowie die Lebensmittelverarbeitung sind wichtige industrielle Sektoren. Doch das änderte sich jüngst: "Selbst Brasilien, das einzige Industrieland in Südamerika, sah seine Industrie schwächeln, während die Exporte von Eisenerz, Fleisch und Soja zunahmen im Austausch gegen Fertigprodukte aus China."
Zwischen etwa 2003 und 2012 brachte der Neo-Extraktivismus den Ländern Lateinamerikas erhebliche – und nach den Wirtschaftskrisen der 1980er und 1990er Jahre kaum zu erwartende – finanzielle Zuflüsse. Bei ansonsten schwach ausgebildeten Steuersystemen – einzig Uruguay bildet hier eine Ausnahme – konnte der Staat hohe Einnahmen aus Primärgüterexporten verbuchen und diese auch zur Armutsbekämpfung und Verbesserung der sozialen Lebensbedingungen einsetzen. Trotz vielfältiger Kritik und Probleme wurden die Rohstoffexporte sogar ausgeweitet und verstetigt, insbesondere durch langfristige Verträge mit chinesischen Unternehmen und der chinesischen Regierung. Großprojekte und enorme Infrastrukturinvestitionen, die vertraglich auf längere Zeit festgeschrieben sind, haben dieses Modell noch vertieft. Selbst unter linken Regierungen blieben also die dominanten wirtschaftspolitischen Orientierungen erhalten: Wirtschaftswachstum, Konsumismus der Ober- und Mittelschichten, Exportorientierung, Freihandel und Attraktion internationaler Investitionen. Alternative ökonomische Entwicklungen wie etwa jene einer eigenständigen Industrialisierung, einer ökologisch ausgerichteten Landwirtschaft oder die Förderung pluraler Wirtschaftsformen waren in einem derartigen Kontext schwierig beziehungsweise politisch nicht erwünscht.
Gerechtfertigt wurde diese Kontinuität mit der notwendigen und zum Teil erfolgreichen Armutsbekämpfung. Hohe Exporterlöse sowie ein Erhalt der bestehenden Wirtschafts- und Sozialstruktur bildeten den Kompromiss, mit dem Oligarchie, Mittelklasse und die Armen zufriedengestellt werden konnten. Ausnahmen bilden diesbezüglich Venezuela, wo die Oligarchie tatsächlich geschwächt wurde (während zugleich eine Schicht "bolivarianischer" Neureicher entstand) und Bolivien, wo sich die Sozialstruktur änderte und es zu einem "antirassistischen" Austausch der politischen Eliten kam.
"lateinamerikanische Paradoxie"
Die seit vielen Jahren formulierte Kritik an den "offenen Adern Lateinamerikas"
Zwar wurden neue Arbeitsplätze geschaffen, diese aber "überwiegend im informellen Bereich, mit geringer Produktivität und ohne soziale Absicherung".
Der Neo-Extraktivismus verursacht hohe ökologische Kosten, insbesondere in den Abbaugebieten und für die dort lebende Bevölkerung. In vielen Fällen sind auch sensible Ökosysteme direkt betroffen. Agrarische Monokulturen werden durch Abholzung ermöglicht, die Förderung von Erdöl verursacht meist enorme Schäden, und für die Gewinnung von Metallen wie Kupfer oder Gold werden häufig gesundheitsschädliche chemische Substanzen eingesetzt. Durch industriellen Tagebau werden ganze Berge abgetragen und der Schutt woanders gelagert. Das sich als "Bergbaunation" bezeichnende Chile produzierte 2015 etwa 5,8 Millionen Tonnen Kupfer, wofür 700 bis 800 Millionen Tonnen Rückstände und Abraum anfielen, davon sind wiederum über 80 Prozent mit Chemikalien belastet.
Insbesondere in den Andenländern, aber auch darüber hinaus, kann von einer "lateinamerikanischen Paradoxie" gesprochen werden: Die mit dem Neo-Extraktivismus einhergehenden offensichtlichen ökologischen Probleme und potenziellen sozioökonomischen Gefahren sind überdeutlich. Doch der Anspruch der alten und neuen Eliten wie auch der breiten Bevölkerungsschichten auf einen Anteil am wachsenden Kuchen ist allerorten präsent und setzt die Regierungen unter Druck. Es fehlt oft der politische Mut, Alternativen voranzutreiben oder die von Teilen der Bevölkerung formulierten wirtschaftlichen Alternativen umzusetzen. Und die würden sich nur ergeben, wenn es neben anderen wirtschaftspolitischen Orientierungen auch zu einer massiven Umverteilung gesellschaftlicher Vermögen und Macht käme. Dem sind die Regierungen bislang weitgehend ausgewichen.
Zentrale Schwäche: Ausbleibende reformen
Aus den jüngeren Entwicklungen in Lateinamerika kann vor allem eine Lehre gezogen werden: Beim Neo-Extraktivismus handelt es sich tatsächlich um ein gesellschaftliches Entwicklungsmodell. Es umfasst daher auch die Struktur des Staates und seine Politiken, da die Staaten sehr stark von den Rohstoffrenten abhängig sind. Zu Beginn der Amtszeiten der jeweiligen linken oder Mitte-links-Regierungen wurden weitreichende Ziele im Hinblick auf den notwendigen Umbau der historisch klientelistischen Staaten formuliert. Doch wichtige und mittelfristig notwendige Strukturreformen blieben aus. So hätten die Regierungen den öffentlichen Sektor nicht nur quantitativ ausweiten, sondern auch die Qualität öffentlicher Dienstleistungen spürbar verbessern und steigern müssen. Dazu wären unter anderem weitgehende Bildungsreformen und die Qualifizierung des staatlichen Personals notwendig gewesen. Ebenso schafften es die Regierungen nicht, ein effektives Steuersystem zu errichten, das die Staaten auf eine solide und breitere Finanzierungsbasis gestellt und damit die gefährliche Abhängigkeit von der schwankenden Rohstoffrente beendet oder zumindest vermindert hätte.
Diese Unterlassungen trugen entscheidend zum Legitimitätsverlust der Regierungen bei. Diese modernisierten den Staatsapparat vor allem als Disziplinierungsinstanz, aber reformierten ihn in anderen Sektoren kaum. So wurden autoritäre Strukturen, Klientelismus und Korruption nicht zurückgedrängt.
Gerade in Ländern wie Venezuela, Ecuador und Bolivien kam noch ein weiteres Problem hinzu: die Zentralisierung der Regierungsparteien. Als aus oppositionellen Kräften Staatsparteien wurden, kam es zu einer Bürokratisierung und Vereinheitlichung der Organisationen. Dies erschwert jedoch innerparteiliche Diskussionen um politische Alternativen und zu korrigierende Fehler ganz entscheidend.
Das Entwicklungsmodell des Neo-Extraktivismus befindet sich also aus verschiedenen Gründen in einer Krise: Verfall der Weltmarktpreise, ausbleibende Staatsreformen, zunehmend autoritäre Verhältnisse und Legitimationsprobleme der Regierungen. Diese Fakten formen sich in den einzelnen lateinamerikanischen Ländern unterschiedlich aus und verbinden sich mit anderen Krisenmomenten. Nach den "fetten Jahren" zeigt sich aktuell: Das (vorläufige) Ende des Ressourcenbooms trifft viele lateinamerikanische Ökonomien hart. Nach durchschnittlichen Wachstumsraten von vier bis sechs Prozent zwischen 2004 und 2011 (mit Ausnahme des Jahres 2009) kommt es 2016 in der Region insgesamt – also einschließlich der Karibik – zu einem Rückgang um 0,6 Prozent; für Südamerika wird eine Schrumpfung der Ökonomien um knapp zwei Prozent erwartet.
Doch kommt das neo-extraktivistische Modell damit noch nicht zu einem Ende. Vielmehr tritt es von einer "hegemonialen" Phase, in der es von breiten Bevölkerungsgruppen und Teilen der Eliten unterstützt wurde und für viele Menschen die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse und insbesondere der Konsummöglichkeiten spürbar wurde, in eine "regressive" Phase.
Die mitunter selbst verschuldete wirtschaftspolitische Alternativlosigkeit führt nun dazu, dass die Krise des Neo-Extraktivismus mit noch mehr Extraktivismus bekämpft werden soll – und nicht mit einem Umbau der Produktionsstrukturen. Emblematisch ist hier die Ankündigung der venezolanischen Regierung Anfang 2016, angesichts der geringeren Einnahmen aus dem Erdöl die Entwicklungsstrategie zu "diversifizieren". Südlich des Hauptflusses Orinoco wird nun ein Bergbaugebiet ausgewiesen (Arco Minero del Orinoco), das 110000 Quadratkilometer umfasst, also in etwa der Größe Ostdeutschlands entspricht. "Strategische Zonen" sollen transnationale Unternehmen anlocken, um in vielfach ökologisch sensiblen Gebieten mit teilweise indigener Bevölkerung in den Bergbau zu investieren. Ob die Investoren wirklich tätig werden, ist derzeit noch nicht abzusehen. Doch die Strategie selbst, die von Kritikerinnen und Kritikern in Venezuela als "Ethnozid" und "Ökozid" bezeichnet wird, vermittelt einen Eindruck von der politischen Phantasie- und Hilflosigkeit der Eliten.
Post-Extraktivismus als Bedingung für "Gutes Leben"
Trotz des viele Jahre breit akzeptierten und krisenhaften Entwicklungsmodells des Neo-Extraktivismus wurden immer wieder Alternativen formuliert. Einer der aktuell schillerndsten Begriffe Lateinamerikas, der auch in Europa rezipiert wird, ist jener des buen vivir, des "guten Lebens" (im ecuadorianischen Quichua: sumak kawsay; im bolivianischen Aymara: suma qamaña).
Es verbreitet sich die Einschätzung, dass eine wichtige Bedingung für gutes Leben in diesem Sinne die Überwindung des zerstörerischen Neo-Extraktivismus ist. Hierfür wird seit einigen Jahren verstärkt der Begriff des Post-Extraktivismus verwendet.
Mit dem von der argentinischen Soziologin Maristella Svampa geprägten Begriff giro eco-territorial ("öko-territoriale Wende") wird deutlich, dass es in Lateinamerika gegenwärtig zuvorderst um Konflikte um Land beziehungweise Territorien geht, verbunden mit Forderungen nach mehr Autonomie und Selbstbestimmung und Initiativen gegen sozialen Ausschluss, ökologische Zerstörung und die Inwertsetzung von Menschen und Natur. Zentrale Forderungen sind Moratorien auf Großprojekte und die Beteiligung der Betroffenen an geplanten Vorhaben. Kritik an und Widerstände gegen die neo-extraktivistischen Praktiken gibt es allerorten.
Eine Wende hin zu einer post-extraktivistischen Wirtschaft würde in einer ersten Phase den plündernden Extraktivismus überwinden und durch einen behutsamen ersetzen.
Alternativen
Eines wird an den Diskussionen und Erfahrungen in Lateinamerika deutlich: Aus wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Gründen bedarf es der Alternativen zum Ressourcen-Extraktivismus. Mit dem Begriff des Post-Extraktivismus sollen die vielfältigen Kritiken, Widerstände und Alternativen in ihren Gemeinsamkeiten verbunden und dadurch gestärkt werden. Das ist umso wichtiger, da außerhalb der Extraktionsregionen, in den städtischen Metropolen und auf nationaler Ebene die negativen Folgen der Aktivitäten im Bergbau, bei der Förderung fossiler Energieträger oder im industriell-landwirtschaftlichen Bereich bis heute weitgehend ignoriert wurden.
Aktuell ändert sich das, doch auf der politisch-institutionellen Ebene dominiert sowohl in den lateinamerikanischen Exportländern als auch in den asiatischen, europäischen und nordamerikanischen Importländern ein Festhalten am aktuellen System des Neo-Extraktivismus. Gleichwohl werden in anderen Teilen der Welt laufende Diskussionen um alternative Wirtschafts- und Gesellschaftspolitiken durchaus auch in Lateinamerika rezipiert – etwa die europäische Debatte um degrowth (Post-Wachstum, Wachstumsrücknahme), in der umgekehrt der Begriff des guten Lebens aus Lateinamerika breite Verwendung findet.
Die Realisierungschancen ökonomischer und damit auch sozialer Alternativen in Lateinamerika werden entscheidend davon abhängen, ob es gelingt, auch international die politischen, sozioökonomischen und kulturellen Verhältnisse zu ändern. So sind etwa die Regulierung des Freihandels und der Finanzmärkte wichtige Elemente, um überhaupt alternative Wirtschaftspolitiken entwickeln zu können. Es bedarf zudem einer stärkeren Mengen- und Preiskontrolle der internationalen Ressourcenflüsse, um einerseits ökologisch nachhaltige Politik zu ermöglichen und andererseits die Länder mit starken Ressourcenexporten nicht den Launen des Weltmarkts auszuliefern.
Schließlich geht es darum, die im globalen Norden weitgehend durchgesetzte und sich in vielen Ländern des globalen Südens ausweitende "imperiale Lebensweise"