Neue Menschen schaffen – das war einst den Göttern vorbehalten. Doch im utopischen Denken wird der Neue Mensch auf die Erde geholt. Er symbolisiert darin den Bruch mit der gegenwärtigen Wirklichkeit zugunsten alternativer innerweltlich gedachter Möglichkeiten.
Mensch und Gesellschaft werden in Sozialutopien stets zusammengedacht. Je nach utopischer Ausdeutung sind die Neuen Menschen utopischer Gesellschaften glücklicher, klüger, altruistischer oder freier als die alten Menschen.
Human Enhancement: Die Neuerfindung des Neuen Menschen
Doch der sozialtechnologische Traum vom Neuen Menschen ist weitgehend ausgeträumt.
Doch einige Jahre später sah sich Fukuyama zu einem Widerruf gezwungen. Er räumte ein, dass die sozialtechnologischen Werkzeuge womöglich "schlicht zu grob waren, um das natürliche Substrat menschlichen Verhaltens wirksam zu verändern". Demgegenüber könnte der Fall eintreten, dass "uns die Biotechnologie innerhalb der nächsten Generationen Werkzeuge an die Hand geben wird, mit denen wir das erreichen werden, was die Gesellschaftstechniker der Vergangenheit nicht haben bewerkstelligen können".
Der Begriff "Human Enhancement" hat sich in der internationalen bioethischen Diskussion als Oberbegriff durchgesetzt, der unterschiedlichste technologische Optionen einer Verbesserung des Körpers umfasst.
Gegenwärtige technische Anwendungen, die unter dem Stichwort "Human Enhancement" diskutiert werden, sind etwa ästhetische Eingriffe, leistungssteigernde Pharmaka, die mentale Fähigkeiten (wie Konzentrationskraft und Erinnerungsvermögen) verbessern oder Implantate (etwa Magneten), die neue Sinneseindrücke bescheren sollen. Bereits das letztere Beispiel führt uns zu den transhumanistischen Zukunftsideen,
Transhumanistische Zukunftsvorstellungen prägen den Diskurs um Enhancement ungemein, denn bereits inkrementelle technische Anwendungen lassen sich als Vorstufen zu und Wegbereiter für eine transhumane Zukunft deuten – so der Zeithorizont nur hinreichend verlängert wird. Darin sind sich Enhancement-Utopisten und Enhancement-Dystopisten einig: Während Erstere von goldenen Brücken in eine transhumane Zukunft schwärmen, warnen Letztere vor Dammbrüchen und slippery slopes.
Drei transhumane Pfade
Um welche Visionen geht es? Wie kann der sachtechnisch optimierte und transformierte Neue Mensch aussehen? Welche Technologien sollen ihn produzieren? Drei spekulative Pfade werden gegenwärtig in bioethischen Diskursen, populärwissenschaftlichen Schriften, aber zunehmend auch in breiteren gesellschaftlichen Kreisen, diskutiert:
Der genetisch Neue Mensch: Designerbabys
Die aktuellen technologischen Durchbrüche im genome editing (einer Methode zum Entfernen, Einfügen und Verändern der DNA) haben einen Diskurs wiederbelebt, der seit mehr als einem Jahrhundert unter immer wieder neuen Vorzeichen geführt wurde: den Diskurs um eine Produktion Neuer Menschen durch biotechnische Interventionen. Im Rahmen einer "liberalen Eugenik"
Der implantierte Neue Mensch: Cyborgs
Der genetisch Neue Mensch ist das Produkt einer immer noch recht fernen Zukunft. Doch seit mehreren Jahrzehnten ist eine andere transhumane Vision im Umlauf, die das Versprechen (oder die Drohung) in sich birgt, dass auch Menschen der Gegenwart (und nicht erst ihre Nachkommen) zu Neuen Menschen werden können: nämlich durch Prothesen und Implantate. Die erwartete Konvergenz von Bio-, Nano- und Informationstechnologie führt in dieser Zukunftsvision zu einer ganzen Reihe von Verbesserungsoptionen, die ein Mensch im Verlauf seines Lebens nutzen kann.
Der digitale Neue Mensch: Uploads
Während Genmanipulationen und "Cyborgisierungen" einen graduellen Prozess voraussetzen, imaginiert die wohl radikalste Transformationsvision einen sprunghaften Übergang vom Menschen zum Neuen Menschen durch die vollständige Digitalisierung des menschlichen Bewusstseins. Dieser Prozess wird als "Uploading" oder "Whole Brain Emulation"
Enhancement und Gesellschaft
Im wissenschaftlichen Mainstream stoßen solche Visionen typischerweise auf Skepsis und Ablehnung. Und doch sind sie im naturwissenschaftlich-technischen Denken verwurzelt. Selbst die Vision des digital migrierten Neuen Menschen ist das Produkt eines bestimmten wissenschaftlichen Weltbildes – nämlich des informationstechnischen Paradigmas. Es verwundert daher nicht, dass selbst diese radikale Idee durchaus anschlussfähig an gegenwärtige Digitalisierungsdiskurse ist, die von der Leitidee der Dematerialisierung des Materiellen bestimmt sind.
Die oszillierenden Rollen von Kurzweil – zwischen Technikexperte und Technikutopist – reproduzieren ein Diskursmuster, das sich in die gegenwärtige Renaissance technikfuturistischer Visionen im 21. Jahrhundert einfügt – man denke nur an Schlagworte wie "Industrie 4.0", "Smart Cities", "autonomes Fahren", "künstliche Intelligenz" oder "synthethische Biologie". Analog zu diesen kontemporären Zukunftsbildern treten auch Enhancement-Visionen keineswegs als Science Fiction auf, also als explizite Fiktionen, sondern eben auch und gerade als ernst gemeinte Szenarien der Zukunft, die in (populär)wissenschaftlichen Schriften von Wissenschaftlern und Technologen skizziert und öffentlich verhandelt werden. Aktuelle Science Fiction lässt sich dabei durchaus selbst von den Visionen der Technologen inspirieren: So wird im Film "Transcendence" (2014) die Idee des Uploading im direkten Anschluss an transhumanistische Utopien, wie sie etwa von Kurzweil vertreten werden, fiktional ausbuchstabiert.
Während Autoren wie Fukuyama den Transhumanismus als "gefährlichste Idee der Menschheit"
Der biopolitische Konflikt um Enhancement zeigt, dass wir es mit einem kontemporären utopisch-dystopischen Diskurs zu tun haben, in dem um eine neue Version des Neuen Menschen gestritten wird. Im Gegensatz zur klassischen Sozialutopie, aber auch im Kontrast zu den früheren biopolitischen Kollektivutopien der Eugenik
Obgleich sich Enhancement-Visionen damit in vielen Punkten vom Muster der klassischen Sozialutopie unterscheiden, partizipieren sie gleichwohl am Geist des modernen utopischen Denkens, indem sie der gegenwärtigen Welt eine radikale Alternative entgegenstellen, die mit den Mitteln rationaler Weltgestaltung angeblich realisiert werden kann. Die biologische Selbstermächtigung des Individuums wird in diesen Utopien auch durchaus explizit in die Traditionslinie der menschlichen Emanzipation eingeordnet und als logische Fortführung der Befreiung des Menschen gedeutet. Nur müsse man nun nicht mehr (primär) gegen die gesellschaftlichen Zwänge kämpfen, sondern den Menschen vielmehr (auch und womöglich insbesondere) aus den Fesseln der Natur befreien.
Was auch immer wir von diesen Ideen halten, ob wir sie für machbar oder unmöglich, für erstrebenwert oder vermeidenswert halten, sie sind Gegenstand eines Diskurses unserer Gegenwartskultur. Es wäre allzu einfach, solche Zukunftsvorstellungen nur als Auswuchs einer unverwüstlichen Technikgläubigkeit bestimmter soziokultureller Milieus zu begreifen. Man sollte diese technischen Utopien gerade nicht als das exotisch Andere begreifen, das wir als postmodern aufgeklärte Intellektuelle souverän von uns weisen können, sondern vielmehr als ernst zunehmenden Ausdruck unserer zeitgenössischen Gesellschaft: einer Gesellschaft nämlich, die ihre utopischen Alternativen auch und gerade im Rahmen ihres technologischen Werkzeugkastens sucht.
Die transhumanistischen Utopien werden in einer Gesellschaft artikuliert, die in sachlicher Hinsicht so komplex geworden ist, dass die Idee einer Transformation der Sozialordnung hin zu einem gesellschaftlichen Alternativmodell kaum mehr plausibel erscheint. In einer vernetzten, globalisierten Welt, die kein Außen mehr kennt, scheint selbst die Realisierung lokal begrenzter Gegenmodelle fraglich. Diese Gesellschaft bietet stattdessen die Alternative eines transformierten Körpers an, der nach individuellen Wünschen gestaltet werden kann.
Eine solche individuelle Fokussierung bettet sich zugleich fugenlos in die normativen Strukturen liberaler pluralistischer Demokratien ein. Im Gegensatz zur klassischen Sozialutopie, aber auch zu den körperzentrierten biopolitischen Utopien des frühen 20. Jahrhunderts, schreiben transhumanistische Utopien in sozialer Hinsicht nämlich kaum mehr kollektiv verbindliche Werte vor. Sie wollen eher einen Möglichkeitsraum eröffnen, der jedem Einzelnen die Chance geben soll, seine Wünsche zu realisieren. Ihre evaluative Leitidee ist der abstrakte Wert der Potenzialvermehrung – kompatibel mit vielfältigen Zielen.
Spezifische Zukunftsvisionen und technologische Pfade zu ihrer Realisierung werden in diesen Utopien zwar ausgemalt, aber zugleich als austauschbare Beispiele begriffen. Daher spielt es auch keine Rolle, dass bislang keine Enhancement-Utopie technisch realisiert werden konnte. Im Rahmen des Diskurses der Enhancement-Utopien ist die einzige Folgerung bei Technikenttäuschungen, die utopischen Hoffnungen eben auf neue Technologien zu richten. Dabei werden stets Sachtechnologien präferiert, deren Entwicklungsmöglichkeiten wissenschaftlich extrapoliert, über deren Entwicklungsgrenzen aber kaum wissenschaftlich begründbare Aussagen getroffen werden können. Immer wenn eine solche Technologie am Horizont der Wissenschaft auftaucht, kann sie von Enhancement-Utopisten als Erfüllungsbedingung utopischer Hoffnungen funktionalisiert werden. In zeitlicher Hinsicht verzichten Enhancement-Utopien somit auf die Konstruktion einer perfekten (und damit nicht weiter verbesserbaren) Zukunft, und offerieren stattdessen ein Modell immerwährender Verbesserbarkeit in vielfältige Richtungen, das vollumfänglich kompatibel mit beschleunigten Wachstumsgesellschaften erscheint, die auf die Produktion ständig neuer Innovationen programmiert sind.
Fazit
Die Krise der Sozialutopie und die Emergenz des Enhancement-Utopismus zeigen, dass es historisch variabel ist, was jeweils als unbestimmt und gestaltbar erfahren wird. Es ist eben nicht durch die Geschichte garantiert, dass eine gestaltbare Zukunft im Raum des Politischen gesucht und gefunden wird. Vielmehr kann in einer Epoche des "rasenden Stillstands", in der die Gesellschaft eher Sachzwängen hinterher eilt, als sich kollektiv zu gestalten,
Der Neue Mensch der transhumanen Zukunft – er ist nicht das Resultat einer wohlgestalteten Sozialordnung der Zukunft, sondern eine leere Hülle, ein Möglichkeitsraum, der durch individuelle Wünsche gefüllt werden kann, ein technologisch entgrenztes Wesen, das unendlich flexibel und optimierbar erscheint, ein Upgrade, das auf das nächste Upgrade wartet. Es drängt sich damit die Vorstellung auf, dass dieser Neue Mensch auch ein Produkt seiner Gesellschaft ist – das fiktionale Produkt einer gegenwärtigen liberalen Innovations- und Wachstumsgesellschaft, die (Sach-)Technologien als primäres Mittel ihrer Selbstgestaltung und -transformation begreift.