Der Staatszerfall, die fortwährenden Konflikte zwischen immer neuen Allianzen bewaffneter Gruppen, die Ausbreitung des sogenannten Islamischen Staates (IS): War das alles vorhersehbar? Heute, fünf Jahre nach der NATO-Intervention in Libyen, wollen es viele Kommentatoren schon damals vorhergesehen haben. Drei gängige Erklärungsmuster für das Chaos in Libyen kursieren: Erstens, die Intervention sei in Unkenntnis der gesellschaftlichen Gegebenheiten und ohne einen Plan für die Zeit nach Muammar al-Gaddafi beschlossen worden. Gaddafi habe gesellschaftliche Konflikte jahrzehntelang mit eiserner Hand unter Kontrolle gehalten. Diese seien zwangsläufig eskaliert, nachdem mit seinem Sturz auch die staatlichen Institutionen und Sicherheitskräfte kollabierten.
Die letzteren beiden Argumente können rasch abgehandelt werden. Nach der Intervention gab es keine Alternative zum Rückzug des Westens. Eine internationale Stabilisierungsmission kam weder 2011 noch in den darauffolgenden Jahren infrage, denn ein solches Eingreifen wäre auf breite Ablehnung gestoßen und hätte den Kollaps des politischen Prozesses stark beschleunigt. Dahingehende Ideen wurden deshalb auch vom Nationalen Übergangsrat Libyens schon in der Endphase der Intervention stetig zurückgewiesen. Unterstützungsversuche gab es von westlicher Seite zuhauf, insbesondere im Sicherheitssektor. Sie scheiterten jedoch an der Paralyse der sich einander ablösenden Übergangsregierungen, innerhalb derer die Vertreter von politischen Netzwerken, Städten und Milizen sich einen harten Konkurrenzkampf lieferten.
Analysen, die islamistischen Gruppierungen die alleinige oder vornehmliche Schuld für das Scheitern des Übergangsprozesses in die Schuhe schieben wollen, geben ein verzerrtes Bild der Entwicklungen wider. Libyens islamistische Bewegungen sind derart divers in ihrer ideologischen Orientierung, ihrer sozialen Basis und ihren politischen Taktiken, dass ihre Pauschalisierung als "Islamisten" irreführend ist. Wenngleich libysche Politiker ihre Gegner oftmals kurzerhand als Islamisten abstempeln, verliefen die tatsächlichen Konfliktlinien nie zwischen islamistischen und säkularen Kräften. Zudem ist die Verantwortung für die Spirale der Gewalt über das gesamte politische Spektrum verteilt. Selbsterklärte Islamistengegner haben in mehreren Schlüsselmomenten der libyschen Tragödie eine Hauptrolle gespielt: Die Versuche bewaffneter Autonomiebefürworter, die Wahlen vom Juli 2012 im Osten des Landes zu verhindern, waren der erste Einsatz von Gewalt zur Beeinflussung des Übergangsprozesses; dass der Übergangsrat auf diesen Druck mit Konzessionen reagierte, schaffte einen verhängnisvollen Präzedenzfall. Die monatelange Blockade der wichtigsten Erdöl-Exporthäfen durch den Milizenführer Ibrahim Jadran Ende 2013 und Anfang 2014 trug maßgeblich zum Scheitern des politischen Prozesses bei. Und die Ausrufung einer abtrünnigen Armeeführung unter dem pensionierten General Khalifa Haftar stellte im Mai 2014 den entscheidenden Schritt zur Spaltung der staatlichen Institutionen dar, die bis heute nicht überwunden ist.
Suche nach den Ursachen
Nähere Betrachtung verdient das Argument, westliche Entscheidungsträger hätten die Zentrifugalkräfte, die eine Intervention freisetzen würde, stark unterschätzt. Darüber wird in den USA heftig polemisiert, was mit dem anstehenden Präsidentschaftswahlkampf der damaligen Außenministerin und Interventionsbefürworterin Hillary Clinton zusammenhängt.
Erkennbar war sicherlich schon im Verlauf des Konflikts 2011, dass westliche Entscheidungsträger den Zusammenhalt der revolutionären Kräfte und das Durchsetzungsvermögen ihrer politischen Führung überschätzt hatten – allerdings noch kaum im kurzen Zeitfenster zwischen dem Beginn der Proteste am 16. Februar und dem Beginn der Intervention am 19. März.
Der Nationale Übergangsrat, der sich Ende Februar in Bengasi gebildet hatte und dessen weltgewandte Vertreter westliche Regierungen von der Notwendigkeit einer Intervention zu überzeugen suchten, verlor rasch die Kontrolle über die bewaffneten Gruppen, die sich in den revolutionären Hochburgen für den Kampf gegen das Regime formierten. Die revolutionären Verbände organisierten sich fast ausschließlich auf lokaler Ebene, auf der Basis einzelner Städte oder Stadtviertel, und waren stark von lokalen Identitäten geprägt. In Misrata und den Nafusa-Bergen arbeiteten übergelaufene Militärs und bewaffnete Zivilisten in solchen lokalen Verbänden eng zusammen. Im Osten des Landes dagegen, wo sich ganze Armeeeinheiten der Rebellion angeschlossen hatten, war das Verhältnis zwischen revolutionären Kämpfern und Offizieren oft von starkem Misstrauen geprägt.
Im Übergangsrat selbst traten schon bald Spannungen zwischen übergelaufenen Regimevertretern und langjährigen Mitgliedern der Exilopposition, darunter auch Islamisten, auf. Waffenlieferungen durch die Golfstaaten und westliche Regierungen trugen zur Zersplitterung der revolutionären Kräfte bei, da sie nicht über eine zentrale Stelle im Übergangsrat geleitet wurden. Stattdessen knüpften konkurrierende Netzwerke im Übergangsrat und die Führer lokaler revolutionärer Hochburgen jeweils privilegierte Beziehungen mit einzelnen Staaten, darunter Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate und Sudan.
Angesichts der starken Spannungen und dem fehlenden Integrationsdruck innerhalb der revolutionären Kräfte während des nur achtmonatigen Krieges kann es kaum verwundern, dass das revolutionäre Bündnis in jenem Moment zu bröckeln begann, in dem sein gemeinsames Ziel erreicht war: der Sturz Gaddafis. Dies zeigte sich schon bald nach dem Fall von Tripolis im August 2011, als jegliche Versuche des Übergangsrats scheiterten, die zahlreichen bewaffneten Gruppen unterschiedlicher Herkunft einer zentralen Führung zu unterstellen. Von einer Zentralmacht konnte nach dem Sturz des Regimes, der mit dem Kollaps des Sicherheitsapparats und der Plünderung staatlicher Arsenale einherging, keine Rede mehr sein. Ohne den Sicherheitsapparat war der Staat mit seinem enormen Ölreichtum nur noch eine Beute, um die sich die ehemaligen Komponenten der revolutionären Allianz rissen. Sämtliche Regierungen, die in der Folge gebildet wurden – angefangen mit der Amtszeit Abdurrahim al-Kibs zwischen November 2011 und 2012 – waren Sammelsurien verschiedenster Interessengruppen. Die Vertreter militärisch einflussreicher Städte oder Netzwerke nutzten ihre Position innerhalb der Regierung, um ihre Fraktionen mit Hilfe staatlicher Ressourcen zu stärken. Schutzlose Technokraten waren den Forderungen bewaffneter Gruppen unmittelbar ausgesetzt.
Ende 2011 begann die Regierung mit der fatalen Praxis, die bewaffneten Verbände in Sold zu stellen, in quasistaatliche Sicherheitsinstitutionen einzugliedern und dem Innen- oder Verteidigungsministerium zu unterstellen. Die Folgen waren ein exponentielles Wachstum bestehender Verbände, die Formierung zahlreicher neuer Einheiten und ein Konkurrenzkampf um die Kontrolle dieser Prozesse.
Die Auflösung des revolutionären Bündnisses in Verteilungskämpfen spiegelte sich auch in dem im Juli 2012 gewählten Allgemeinen Nationalkongress wider: Bestehende Parteien gab es nicht, und fast keine Partei, die sich im Vorfeld der Wahlen neu bildete, war regional, geschweige denn landesweit organisiert. Ein Wahlsystem, das vorgeblich parteilosen Vertretern einzelner Wahlkreise mehr als die Hälfte aller Sitze zugestand, trug ebenfalls zur Zersplitterung des Parlaments bei. Entsprechend langwierig war die Entscheidungsfindung und Paralyse der Normalfall. Die größte Fraktion, die Allianz Nationaler Kräfte Mahmud Dschibrils, sah sich aufgrund ihres mangelnden internen Zusammenhalts außerstande, ihre zahlenmäßige Überlegenheit in eine Führungsrolle zu übertragen. Es gelang ihr allenfalls, die völlige Dominanz ihrer Gegner zu verhindern. Letztere stellten ein loses Bündnis zwischen Islamisten und Vertretern revolutionärer Hochburgen dar, die vor allem das gemeinsame Ziel verband, Vertreter des alten Regimes von der politischen Teilhabe auszuschließen.
Nationaler Machtkampf
Während die staatlichen Institutionen von Verteilungskämpfen und Zersplitterung paralysiert wurden, geriet die Sicherheitslage immer mehr außer Kontrolle: In einigen Städten gewannen dschihadistische Gruppen an Einfluss, und in Bengasi kam es zu einer Mordserie an Offizieren des alten Militärs und Sicherheitsapparats.
Da die Konfliktakteure zunehmend nach Verbündeten suchten, verwoben sich die ursprünglich weitgehend separaten Konflikte um den Einfluss in staatlichen Institutionen, die Kontrolle in Tripolis, die Mordserien in Bengasi und lokale Auseinandersetzungen allmählich in einen nationalen Machtkampf zwischen zwei breiten gegnerischen Lagern. Der politische Prozess kollabierte schließlich im Mai 2014 mit dem Beginn einer Offensive des rebellierenden Armeegenerals Khalifa Haftar gegen mehrere dschihadistische und nicht-islamistische Milizen in Bengasi und dem zeitgleichen Angriff von Milizen aus Zintan auf den Nationalkongress in Tripolis. Auch die Wahlen zum Repräsentantenhaus im Juni 2014 konnten keine friedliche Beilegung des Konflikts mehr bewerkstelligen. Im Juli attackierte eine von Milizen aus Misrata angeführte Allianz Stellungen von Zintan in Tripolis, womit ein etwa einjähriger Bürgerkrieg begann.
Der Bürgerkrieg zwischen 2014 und 2015 schien zunächst eine Polarisierung in zwei gegnerische Lager zu bewirken. Die Mehrheit des Repräsentantenhauses trat in der ostlibyschen Stadt Tobruk zusammen und unterstützte Haftar sowie die Regierung von Abdallah al-Thinni, die von Tripolis in den Osten des Landes geflüchtet war. Die von Milizen aus Misrata angeführte Allianz bildete in Tripolis eine neue Regierung, die sich auf einen Teil des Nationalkongresses stützte. In der internationalen Berichterstattung wurde das in Tripolis vorherrschende Lager kurzerhand als islamistisch bezeichnet und die den Osten dominierende Allianz als islamistenfeindlich.
Tatsächlich aber entzogen sich beide Bündnisse der Kategorisierung.
Schon bald zeigte sich, dass die beiden Lager nur vorübergehende Erscheinungen gewesen waren. Die Regierungen in Tripolis und al-Baida, beide weitgehend mittellos, entwickelten sich nie zu Entscheidungszentren ihrer Allianzen, denn die bewaffneten Gruppen bewahrten ihre Autonomie. Die sich ab Anfang 2015 einstellende militärische Pattsituation und die Vermittlungsbemühungen unter Ägide der UN führten dazu, dass sich auf beiden Seiten verhandlungsbereite von unnachgiebigen Kräften absonderten. Die Verhandlungen erwiesen sich als äußerst zäh. Die beiden Verhandlungsparteien, Nationalkongress und Repräsentantenhaus, waren zu stark gespalten, um eine einheitliche Position einnehmen zu können. Die unzähligen bewaffneten Gruppen wurden erst gar nicht am Verhandlungsprozess beteiligt.
Als im Dezember 2015 unter starkem westlichen Druck ein Abkommen zur Bildung einer Einheitsregierung geschlossen wurde, unterzeichneten es Einzelpersonen ohne offizielles Mandat von Nationalkongress oder Repräsentantenhaus. Die Billigung des Abkommens und der Regierung durch das Repräsentantenhaus ist auch in den Folgemonaten ausgeblieben. Mit dem Boykott der Regierung durch mehrere ihrer eigenen Mitglieder hat das Abkommen schon bald wieder zu bröckeln begonnen. Zwar ist es der Regierung unter Fajis al-Sarradsch gelungen, ab April 2016 in Tripolis schrittweise die Amtsgeschäfte aufzunehmen, doch übt sie de facto weder in Tripolis noch anderswo im Land Autorität aus. Aus dem Repräsentantenhaus, der Kommandostruktur Haftars, sowie mehreren Städten und Regionen kommt weiterhin hartnäckiger Widerstand. Zentralbank, Militärführung und andere Institutionen sind weiter gespalten. Eine Reihe von Milizenführern hat sich in die Regierung einbinden lassen, um ihre eigene Position gegenüber lokalen Rivalen zu stärken. Damit hat die Regierung al-Sarradsch aber nur einzelne Figuren unter einer Vielzahl militärischer Akteure an sich gebunden.
Noch stärker als die Regierungen vor dem Bürgerkrieg 2014 ist die sogenannte Einheitsregierung von den gegensätzlichen Interessen miteinander konkurrierender Gruppierungen gezeichnet, die sich in ihr wiederfinden. Dass diese unterschiedlichen Kräfte gemeinsam den Wiederaufbau des Sicherheitsapparats und die Wiederherstellung staatlicher Autorität verfolgen werden, ist nahezu ausgeschlossen.
Lokalismus und Fragmentierung
Die vorangegangene Skizze der Entwicklungen vom Sturz des Regimes bis heute lässt darauf schließen, dass das Chaos in Libyen auf die Zersplitterung der politischen Landschaft zurückzuführen ist. Fragmentierung erscheint als der entscheidende Faktor hinter dem Auseinanderbrechen der revolutionären Allianz nach 2011, hinter dem Scheitern aller Versuche eine solide Elitenkoalition zu bilden und so die staatliche Zentralmacht wieder herzustellen sowie hinter der Erfolglosigkeit der Bemühungen um eine tragfähige Verhandlungslösung.
War die Entstehung dieser zersplitterten politischen Landschaft vorhersehbar? Libyens historisches Erbe sowie politische und gesellschaftliche Strukturen boten zweifellos die dafür nötigen Voraussetzungen. Der erst 1951 gebildete libysche Staat war schon unter der Monarchie, 1951 bis 1969, durch die Konkurrenz lokaler Eliten zu chronischer Instabilität verurteilt gewesen. Anschließend hatten Gaddafis Herrschaftsstrategien die Entwicklung einer nationalen Zivilgesellschaft und politischer Parteien ebenso verhindert wie die Bildung staatlicher Institutionen, die den Sturz des Regimes hätten überleben können. Die offizielle Ideologie war vom Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen geprägt, und tatsächlich überließ der Staat vielerorts die Schlichtung von Rechtsstreitigkeiten und selbst Kapitalverbrechen dem Gewohnheitsrecht.
Libyens Fragmentierung ist jedoch nicht das Werk wiedererwachender Stämme und im Entstehen begriffener Stadtstaaten. Libyens Stämme waren und sind keine Handlungseinheiten, sondern dienen vor allem als Referenzrahmen für politische Mobilisierung durch rivalisierende Eliten. Obgleich viele lokale Konflikte den Charakter von Gewalt zwischen Bevölkerungsgruppen annehmen, ist Libyen nicht in einen Krieg zwischen Stämmen versunken – entgegen den Erwartungen mancher Beobachter.
Das Gleiche gilt für die sich selbstverstärkenden Prozesse, die sich mit dem Sturz des Regimes entfalteten: Der Lokalismus, der sich während des Konflikts ausgebreitet hatte, wurde durch den Kollaps des Sicherheitsapparats fixiert, denn die Wiederherstellung der Zentralmacht war in einer so zersplitterten Landschaft schwer zu bewerkstelligen. Der Konkurrenzkampf im Sicherheitssektor, der sich zwischen Vertretern einzelner revolutionärer Hochburgen entwickelte, war in dieser Form hingegen nicht unausweichlich: Die ersten Zahlungen an revolutionäre Kämpfer durch den Übergangsrat und die ersten Schritte zur Eingliederung bestehender Verbände in staatliche Gehaltslisten setzten eine Dynamik mit unkalkulierbaren Folgen in Gang. Ohne diese Fehlentscheidungen wäre möglicherweise zu verhindern gewesen, dass im Sicherheitssektor mit Hilfe staatlicher Mittel lokale Machtbereiche ausgebaut wurden. So aber entfalteten sich zwei Prozesse parallel: einerseits die Festigung des lokalen Charakters der anwachsenden Milizen; andererseits eine zunehmende Konkurrenz zwischen den Politikern und Milizenführern ein und derselben Stadt um die Kontrolle und Verteilung staatlicher Mittel.
Wie auch in anderen zerfallenden Staaten war der "Aufstieg des Lokalen"
Ein sich rapide wandelnder Gesamtkontext, der sich wiederum aus dem komplexen Zusammenspiel unzähliger Entwicklungen ergab, zerrüttete die lokale Kohäsion wie auch den Einfluss lokaler Eliten. Die zunehmende Zersplitterung auf der lokalen Ebene, nicht die Konflikte zwischen Städten, war das größte Hindernis für die Aushandlung eines tragfähigen Abkommens nach 2014.
neue regionale Unordnung
Der Zerfall Libyens nach der Intervention von 2011 ist jedoch keineswegs ohne Fremdeinwirkung abgelaufen. Die erwähnte Unterstützung lokaler revolutionärer Verbände durch westliche Regierungen, vor allem aber durch Regionalstaaten, hatte bereits 2011 den Aufstieg konkurrierender Machtzentren eher begünstigt als beeinträchtigt. Nach dem Sturz des Präsidenten Mohammed Mursi in Ägypten im Juli 2013 bemühten sich die gegnerischen Lager in Libyen verstärkt um Hilfe aus Regionalstaaten, indem sie die nun dort herrschenden Feindbilder übernahmen.
Erst die eskalierenden Machtkämpfe in Libyen erlaubten es den Regionalstaaten, ihren destruktiven Einfluss auszuüben. Die Initiative ging sicherlich meist von den libyschen Konfliktakteuren selbst aus, die auf der Suche nach externer Unterstützung ihre persönlichen Beziehungen von 2011 reaktivierten. Trotzdem ist zu konstatieren, dass Libyens Zerfall auch von der neuen Instabilität der regionalen Ordnung angetrieben wurde – einer multipolaren Unordnung, die sich 2011 noch kaum abgezeichnet hatte.
Und der IS? Auch er führt die Unberechenbarkeit der Dynamiken vor Augen. Dschihadistische Strömungen hatten schon unter Gaddafi im Untergrund eine solide Gefolgschaft gefunden, wobei auch sie von Lokalismus geprägt und in bestimmten Städten besonders stark verankert waren. Dass diese Strömungen vom Zusammenbruch des Sicherheitsapparats profitieren würden, war zu erwarten; nicht abzusehen war 2011 hingegen die rapide Ausbreitung des IS in Syrien und dem Irak, wohin schon bald zahlreiche junge libysche Dschihadisten strömten. Die Rückkehrer etablierten den IS in Libyen und führten eine Spaltung des bestehenden dschihadistischen Milieus in IS-Ableger und gesonderte Organisationen herbei. Der Bürgerkrieg zwischen 2014 und 2015 bot dem IS ideale Wachstumsbedingungen, da die Konfliktparteien mit dem Machtkampf beschäftigt waren und dem IS wenig Aufmerksamkeit widmeten.
Fazit
Dass mit dem Regime auch der Staat als solches zusammenbrechen würde, war schon im März 2011 ebenso vorhersehbar wie die darauffolgende Auflösung der revolutionären Koalition.
Die Geschichte von Libyens Zerfall ruft die Erkenntnis von Thukydides und Carl von Clausewitz in Erinnerung, das Wesen des Krieges liege in seiner Unberechenbarkeit. Kollektive Gewalt setzt dynamische Prozesse in Gang, zieht neue soziale Grenzen und schafft neue Gemeinschaften.