Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Der kleine Unterschied | Maghreb | bpb.de

Maghreb Editorial Historische Perspektiven auf den Maghreb Der Maghreb vor neuen Herausforderungen. Sicherheit, Entwicklung, Migration Der kleine Unterschied. Tunesien, die Revolution und die Frauen War Libyens Zerfall vorhersehbar? Mauretanien – der schwierige Weg zur integrativen nationalen Einheit Algerien und Frankreich: Vom Kolonial- zum Erinnerungskrieg? "Nafri" als Symbol für die Flüchtlingskrise? Marokkanische Perspektiven auf euro-mediterrane Migration Karten

Der kleine Unterschied Tunesien, die Revolution und die Frauen

Julia Gerlach

/ 16 Minuten zu lesen

Mehrere Faktoren haben dazu geführt, dass Tunesien so deutlich besser dasteht als die anderen Länder der Region: Das eigentliche Geheimnis des tunesischen Erfolgs liegt in der Zivilgesellschaft und in der starken Beteiligung der Frauen.

Wer Lina Ben Mhenni richtig in Rage bringen will, der lobt Tunesien und seine Erfolge bei der "Arabellion". "Wir werden oft als Leuchtturm der Hoffnung dargestellt. Als Land, in dem die Revolution gelungen ist und die Freiheit gewonnen wurde. Ich halte das für sehr gefährlich", sagt sie. Die Bloggerin und Aktivistin zählt zu denen, die 2010 die Proteste gegen Zine el-Abidine Ben Ali vorangetrieben haben, für diese Rolle wurde sie 2011 für den Friedensnobelpreis nominiert. Bis heute engagiert sie sich in der Politik, begleitet den politischen Prozess durch kritische Kommentare. Viele ihrer früheren Mitstreiter haben sich zurückgezogen, aber Ben Mhenni ist nach wie vor aktiv: "Natürlich freuen wir uns, dass wir heute mehr Freiheit haben und dass wir so viel erreicht haben, aber wir dürfen uns von dem Lob nicht einlullen lassen", sagt sie. Auf den Lorbeeren ausruhen, kommt für sie nicht infrage. Gerade jetzt drohe die Gefahr, dass die erreichten Freiheiten wieder verloren gehen. "Der Terrorismus ist brandgefährlich. Er bedroht unser Land ganz konkret durch die Gewalt und das sinnlose Töten. Zugleich haben derzeit alle Panik, dass die Regierung gestürzt werden könnte und Tunesien womöglich ein Schicksal wie Libyen oder Syrien droht. Deswegen traut sich kaum noch jemand, die Regierung zu kritisieren", ergänzt sie. Dabei sei Wachsamkeit angesagt, denn die Regierung schränke im Namen der Terrorbekämpfung viele Freiheitsrechte ein. Das im Sommer 2015 verabschiedete Antiterrorgesetz ist nur eines von vielen Beispielen. Zudem deutet einiges darauf hin, dass die Präsidentschaft von Béji Caïd Essebsi, dessen Karriere eng mit dem alten Regime verbunden ist, die Rückkehr zumindest einiger einflussreicher Politiker und Geschäftsleute aus der alten Elite möglich macht. "Wir haben es nicht geschafft, das alte Regime ein für alle Mal aus dem politischen Leben zu verbannen. Dieser Fehler wird uns womöglich noch teuer zu stehen kommen", sagt Ben Mhenni. Besonders bemerkbar mache sich das bei Wahlen, wo weiterhin korrupte Politiker und alte Seilschaften antreten könnten und die Bürgerinnen und Bürger sich nicht sicher sein könnten, ob sie zwischen ehrlichen Kandidaten auswählen. Dies führe zu Politikverdrossenheit, und das Konzept "Demokratie" verliere bei den Menschen an Ansehen.

Ist die Revolution in Tunesien aus ihrer Sicht also gescheitert? War es ein Fehler, sie zu beginnen? Energisch schüttelt sie den Kopf: "Nein, gescheitert nicht und ein Fehler war sie auch nicht. Wir sind froh und glücklich und stolz, aber wir müssen wachsam bleiben. Das sind wir der Revolution schuldig. Nicht nur der unsrigen, sondern auch den Revolutionen der anderen Staaten", sagt sie. In diesem Zusammenhang ist sie dann doch bereit, Tunesien als Leuchtturm der Hoffnung darzustellen. "Wenn ich auf Aktivistinnen und Aktivisten aus anderen arabischen Staaten treffe, dann ist es schon okay, wenn wir unsere Erfolge feiern. Für sie ist es wichtig, dass es uns als Erfolgsmodell gibt. Sonst verlieren sie die Hoffnung und den Mut, den sie brauchen, um in ihren Ländern weiterzukämpfen."

Tunesien, eine Erfolgsgeschichte?

Trotz aller Probleme und Rückschläge ist die Entwicklung in Tunesien eine Erfolgsgeschichte. Das kleine Land, in dem 2010 die Arabellion begann, ist zugleich das einzige, indem der Aufstand gegen Diktatur, Willkür und für die Würde der Menschen Erfolg gezeigt hat; zumindest ein bisschen. Hier scheint gelungen, was andernorts gescheitert ist. Tunesien ist heute deutlich freier und die Menschen haben deutlich mehr Mitspracherecht als in der Zeit vor 2010.

So sind in der Verfassung, die 2014 nach zähem Ringen verabschiedet wurde, viele Freiheitsrechte festgeschrieben, die Oppositionelle und Menschenrechtler seit Jahren gefordert hatten. Der Verfassung ist an vielen Stellen anzumerken, dass sie ein Kompromiss ist. Sie gilt dennoch oder vielleicht sogar gerade deshalb als Vorbild für die ganze Region. Auf Grundlage dieser Verfassung konnte noch im gleichen Jahr ein Parlament und ein Präsident gewählt werden. Die Wahlkämpfe wurden emotional geführt: Viele Politiker setzten auf Populismus und schürten Angst vor dem politischen Gegner. Beschuldigungen und Beleidigungen wurden ausgetauscht, die Medien heizten die Atmosphäre weiter an. Auch in Tunesien machte sich die seit 2011 in der ganzen Region grassierende Polarisierung der politischen Landschaft bemerkbar: Islamisten gegen Nicht-Islamisten. Doch im Vergleich zu anderen Staaten in der Region kann von einem besonnenen Wahlkampf gesprochen werden, und auch die tunesischen und internationalen Wahlbeobachter attestierten weitgehend faire Wahlen. Auch die Regierungsbildung war zunächst von Misstrauen und Lagerbildung bestimmt. Hatte doch die säkulare Partei Nidaa Tounes beide Wahlen gewonnen, und das vor allem, weil sie als Anti-Islamisten-Partei angetreten war und gezielt die Angst vor der Ennahda-Partei und anderen islamischen Gruppierungen geschürt hatte. Besonnenheit und Verantwortungsbewusstsein setzte sich dann aber durch: Im Januar 2015 wurde eine Koalition der nationalen Einheit eingesetzt, in der neben unabhängigen Politikern und Vertretern von Nidaa Tounes ebenso ein Minister der islamistischen Ennahda-Partei einzog.

Aus der Ferne betrachtet, scheint diese Regierungsbildung eine logische Umsetzung des Wahlergebnisses und der Notwendigkeit, eine starke Regierung zu haben. Doch selbstverständlich war es nicht, dass sie zustande kam. In anderen Staaten der Arabellion, etwa in Ägypten, scheiterte der Versuch der Regierungszusammenarbeit über die ideologischen Grenzen hinweg. "Ich muss sagen, dass ich natürlich nicht zufrieden bin mit dieser Regierung, aber ich räume ein, dass eine große Koalition zu formen die beste, ja, die einzige Lösung war", so Olfa al-Riachi. Die Bloggerin hatte 2014 als Wahlkampfmanagerin die parteilose Präsidentschaftskandidatin Kalthoum Kannou unterstützt. Die Regierungsbildung über den ideologischen Graben hinweg führte dazu, dass zumindest im öffentlichen Diskurs die Polarisierung deutlich an Schärfe verloren hat. "In den Medien wurde seitdem deutlich weniger gehetzt", so al-Riachi. "Allerdings bedeutet dies nicht, dass die Feindschaft begraben ist. In den Familien, in den Wohngebieten hassen und fürchten sich die Menschen natürlich weiter", sagt sie. Vielleicht werde damit nun der Weg frei für die nächste Phase. Wenn die Wählerinnen und Wähler nicht mehr nur je nach Zugehörigkeit zu einem ideologischen Lager, sondern tatsächlich auch nach politischen Kriterien unterscheiden: ob ihnen etwa soziale Gerechtigkeit oder Sicherheit wichtiger ist.

Insgesamt sah es im Frühjahr 2015 gut aus, auch wirtschaftlich zeichnete sich ein Silberstreif am Horizont ab und die Tourismussaison versprach, ein Erfolg zu werden. Dann schlugen die Terroristen zu: Als im März 2015 Attentäter das Nationalmuseum von Bardo in Tunis stürmten, starben 24 Menschen. Zunächst schien der Anschlag die Urlauber nicht abzuschrecken. "Man hatte eigentlich damit gerechnet, dass keiner mehr kommt. Es war auch nicht überwältigend, was wir an Buchungen hatten, aber immerhin. Doch dann …", sagt Amel Azzouz. Sie ist Staatsekretärin für internationale Zusammenarbeit und zuständig für den Kontakt mit ausländischen Investoren. Zudem ist sie eine der Vertreterinnen der Ennahda-Partei in der Regierung. Als gerade wieder Hoffnung aufkam, ermordete im Juli 2015 ein in Libyen geschulter junger Tunesier am Strand von Sousse 39 Touristen mit einer Maschinenpistole. Stornierungen und leere Hotels waren die Folge. "Dies ist umso schlimmer, weil wir doch genau wissen, dass sich der Erfolg unserer Regierung und unserer Revolution nicht nur an den politischen Errungenschaften messen lassen kann. Die Jugendlichen werden nur zufrieden sein, wenn es ihnen wirtschaftlich besser geht", sagt sie.

Seit Dezember 2010, als sich der tunesische Gemüsehändler Mohammed al-Bouazizi wohl aus Frust über die Willkür der Behörden und die allgemeine Hoffnungslosigkeit selbst in Brand setzte und damit die Proteste auslöste, die bald die ganze Region erschütterten, hatte sich wirtschaftlich wenig getan. "Es ist ein Teufelskreis, aus dem wir so leicht nicht herauskommen", beschreibt Azzouz. Die Wirtschaft kommt nicht auf die Beine, weil es immer wieder Terroranschläge gibt. Die Jugendlichen leiden darunter am meisten, werden ungeduldig und es kommt wieder häufiger zu Protesten. Viele verlieren die Hoffnung, dass die tunesische Revolution neben politischen Freiheiten auch soziale Gerechtigkeit und bessere Lebensbedingungen für die breite Masse bringt. Frust und Hoffnungslosigkeit wiederum legen die Grundlage, dass einige dieser Jugendlichen für radikale Gruppen, wie dem sogenannten Islamischen Staat (IS), ansprechbar werden. Dem IS ist der tunesische Erfolg ohnehin ein Dorn im Auge, schließlich kann es für die Terrororganisation nur eine Richtung geben, in die die arabische, islamische Welt zu gehen hat, und die ist ihre eigene. Es ist kein Zufall, dass in den vergangenen Monaten ausgerechnet in Tunesien besonders viele blutige Anschläge verübt wurden. Mit "Erfolg": Die tunesische Wirtschaft liegt weiter am Boden. Das Vorzeigeland des "Arabischen Frühlings" droht in eine Abwärtsspirale aus Gewalt, Armut und Hoffnungslosigkeit hineingesogen zu werden.

Trotz der Gewalt muss das Erreichte gewürdigt werden. Die Frage drängt sich auf, was in Tunesien besser gelaufen ist. Schließlich gilt Tunesien als Gegenbeweis zur verbreiteten These, dass Demokratie und Freiheit nicht in die arabische Welt passen und hier nie Fuß fassen werden. Oder, weitergehender noch: dass diese Ideen nicht mit dem Islam kompatibel sind. Tunesien zeigt, dass die These nicht stimmt. Zudem lassen sich aus dem tunesischen Beispiel Lehren ziehen, was die Aktivisten anderer Länder bedenken und anders machen müssen, sollten sie eine zweite Chance für einen Neuanfang bekommen.

Was lief in Tunesien besser?

Tunesien hatte andere Ausgangsvoraussetzungen als die anderen Staaten der Region. Es hatte eine sehr viel kleinere, vergleichsweise besser gebildete und stärker an Europa orientierte Bevölkerung. Zudem hatte Tunesien einfach Glück: Es ist ein geostrategisch sehr unwichtiges Land. Es besitzt kein Erdöl und liegt auch nicht an einem strategisch entscheidenden Ort. Auch schaute nach dem Sturz von Ben Ali die Weltöffentlichkeit schon bald auf die bedrohlicheren Krisen in Ägypten, Libyen und Syrien. Dort mischten regionale und internationale Mächte kräftig mit. Tunesien hingegen konnte weitgehend unbehelligt und mit deutlich weniger Einflussnahme von außen den Neuanfang in die eigene Hand nehmen.

Auch waren die Regierung und das politische System etwas anders aufgestellt als in den anderen Staaten der Arabellion: Zwar regierte auch in Tunesien ein Regime, das aus dem Militär hervorgegangen ist und sich ebenso wie die Regime in den anderen Staaten, die 2011 am stärksten von Protesten betroffen waren, auf das Beispiel der "Freien Offiziere" von Gamal Abdel Nasser bezogen hatte. 1952 hatte Nasser in Ägypten die Monarchie abgesetzt und den panarabischen Sozialismus begründet. Muammar al-Gaddafi (Libyen), Hafiz al-Assad (Syrien), Ali Abdullah Salih (Jemen) und auch Habib Bourguiba (erster Präsident Tunesiens) folgten diesem Beispiel. In Tunesien emanzipierte sich der Präsident jedoch etwas stärker vom Militär. Gleichzeitig erklärte die Regierung Bourguibas den Ausbau des Bildungssystems zur nationalen Priorität. Zwar investierten die anderen Staaten der Region auch in Schul- und Universitätsausbildungen für die breite Masse, nicht aber im gleichen Maße wie Tunesien. Dies kam vor allem den Frauen zu Gute. Der Anteil der Akademikerinnen in Tunesien liegt weit über dem der anderen Staaten. Besonders war auch die Frauenpolitik der tunesischen Regierungen: So wie Tunesien heute als Beispiel zitiert wird, dass Demokratie und Menschenrechte auch in der arabischen Welt verwirklicht werden können, machte das Land schon vor 2010 vor, wie Frauenrechte auch in konservativ muslimischen Gesellschaften durchgesetzt werden können. Das Personenstandsgesetz von 1956 galt als wegweisend. So war in Tunesien Polygamie offiziell verboten und die Frau dem Mann gleichgestellt; zumindest beinahe. Die Regierung verstand sich zudem als säkular: Angestellten des öffentlichen Sektors war das Tragen von Kopftüchern verboten, und der Besuch von Moscheen war verpönt. Diese Haltung war natürlich auch als Maßnahme gedacht, die islamistische Opposition in Schach zu halten; und die Repression gegen Islamisten war brutal. Allerdings unterschieden sich die Maßnahmen deutlich von denen anderer Militärregime: Die ägyptische Regierung etwa bekämpfte die islamistische Opposition mit Waffengewalt, bemühte sich aber zugleich um ein frommes Image. Die Regierung von Ben Ali hingegen war auf ihr Image in Europa bedacht und setzte alles daran, möglichst modern und liberal zu wirken. Die Stärkung der Frauenrechte zählte daher zu ihren Prioritäten. Folglich spielten Frauen in Tunesien im öffentlichen Leben und in der Gesellschaft eine deutlich sichtbarere und einflussreichere Rolle. Fragt man Passanten auf der Straße von Tunis nach dem Grund für Tunesiens Erfolge in der Arabellion, nennen viele als erstes den Faktor "Frau". "Unsere Frauen sind stark, sie haben die Revolution in die richtige Richtung gelenkt. Ohne sie wäre alles anders gekommen", so ein älterer Herr im Anzug.

Dass die Frauen so präsent sind, liegt aber natürlich nicht nur an der Großzügigkeit, mit der das alte Regime Frauenrechte gestärkt hat. Tunesien zeichnet sich durch eine besonders aktive Zivilgesellschaft aus, obwohl sie es auch hier in der Zeit vor 2010 schwer hatte. Die Regierung setzte zunächst auf ein Einparteiensystem, welches nur allmählich aufgelockert wurde. Organisationen der Zivilgesellschaft hatten nur wenig Spielraum. Trotz allem war dieser in Tunesien um einiges größer als in den Nachbarstaaten: In den 1970er und 1980er Jahren entwickelte sich an den Universitäten eine Studentenbewegung, aus der auch die islamistische Bewegung hervorging, die sich unter anderem 1981 in der Ennahda-Partei formierte. Im Gegensatz zur ägyptischen Muslimbruderschaft ist Ennahda jedoch weniger dogmatisch und damit kompromissbereiter. Die Studentenbewegung brachte ebenso eine nicht-islamistische Bewegung hervor, bei der Frauen eine wichtige Rolle spielten. Obwohl die Gewerkschaften in Tunesien wie in den meisten anderen Staaten der Arabellion unter staatlicher Kontrolle standen, konnte sich hier eine starke Bewegung innerhalb der Gewerkschaft bilden, die vor, während und nach dem Sturz von Ben Ali zu einer treibenden Kraft avancierte. So trug der Gewerkschaftsdachverband (UGTT) zur politischen Mobilisierung bei und griff ein, als 2013 unter der von Ennahda geführten Regierung die politischen Spannungen das Land in eine schwere Krise führten und der Prozess zur Verfassungsgebung zu scheitern drohte. Die UGTT zwang die Parteien zur Zusammenarbeit: Ihr gelang es im entscheidenden Moment, die wichtigsten politischen Kräfte an einen Tisch zu bringen; dies glückte unter anderem, weil sich die politischen Akteure bereits lange persönlich kannten. Viele kamen nicht nur von den gleichen Universitäten, auch hatten sich viele schon 2005 als "Bewegung des 18. Oktober" zusammengetan, um gemeinsam von der Regierung mehr Freiheit und Mitbestimmungsrechte einzufordern. Sowohl in der Gewerkschaft als auch in der "Bewegung des 18. Oktober" waren Frauen beteiligt.

Frauen einigen, sie spalten aber auch

Genauso wie Frauen durch ihre politische Tätigkeit einen wichtigen Beitrag zum Ausbruch der Revolution leisteten, und wie sie während der Proteste 2011 dazu beitrugen, dass die Revolution vergleichsweise friedlich verlief – nicht zuletzt, weil es den Sicherheitskräften schwerer fiel, brutal gegen Frauen vorzugehen –, genauso spaltete das Thema "Frauen" bereits kurz nach dem Sturz Ben Alis die Nation. "Wir verstrickten uns in eine komplett sinnlose und völlig überflüssige Kontroverse, welche Rolle der Islam in der Zukunft Tunesiens spielen sollte, und diese Kontroverse wurde vor allem an der Frauenfrage ausgetragen", so Sayida Ounissi. Die 29-Jährige sitzt für die Ennahda-Partei im 2014 gewählten Parlament. Tatsächlich entbrannte darüber schon vor der Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung 2011 ein heftiger Streit. Dies hatte damit zu tun, dass die islamistische Bewegung, die sich zunächst nicht an den Protesten gegen Ben Ali beteiligt hatte, nach seinem Sturz verstärkt nach Macht strebte. Die Ennahda-Partei war jahrzehntelang verboten und ihre Mitglieder tauchten nun aus dem Untergrund auf beziehungsweise kehrten aus dem Exil zurück. Die Partei formierte sich neu und gewann schnell Einfluss und Anhänger. Das gleiche galt für die weitaus radikaleren Salafisten, die ihre Gegner mit aufgeheizten Reden und Angriffen bedrohten. Die Islamisten hatten das Gefühl, dass nun ihre Stunde gekommen sei. Die Vorhersage vieler politischer Beobachter, dass die Islamisten die größte Oppositionsgruppe stellten und am ehesten in der Lage sein würden, Wahlen zu gewinnen und die Regierung zu bilden, schien sich zu bewahrheiten.

Die Islamisten erklärten das Personenstandsrecht von 1956 zum Ausdruck der Diktatur, dass es ebenso zu stürzen gelte. Statt des oktroyierten Säkularismus sollte sich nun der Islam entfalten können, schließlich seien die Tunesier ein muslimisches Volk. Während die Aufhebung des Kopftuchverbots auch von vielen aus den anderen politischen Lagern begrüßt wurde, da es die Selbstbestimmung der Frauen fördere, kam es zu einem Streit über die Rolle der Frau in der Gesellschaft und darüber, wie diese Rolle in der Verfassung festzuschreiben sei. Angeheizt wurde die Diskussion durch Einwürfe besonders radikaler Salafisten, die laut über die Wiedereinführung des Rechts auf Polygamie nachdachten. Über die Frage, ob Frauen den Männern gleichgestellt sind oder sich Mann und Frau in ihren Rechten und Pflichten ergänzen, wurde mehr als ein Jahr lang erbittert gestritten. Die Diskussion war von Angst geprägt: Viele Frauen fürchteten um ihre Freiheit und hatten Grund zur Sorge, dass Tunesien seinen Sonderstatus als Land mit besonders ausgeprägten Frauenrechten verlieren könnte, wenn die islamistischen Parteien weiter an Macht gewinnen würden. Entsprechend heftig waren in dieser Zeit die Proteste der Frauen. Nicht selten kam es dabei zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit islamistischen Gruppen. Rückblickend betrachtet, kann Ounissi darüber nur den Kopf schütteln: "Es war absurd, statt sich um die eigentlich entscheidenden Fragen zu kümmern, haben sich die Abgeordneten die Köpfe wegen der Stellung der Frau eingeschlagen. Fast wäre unser Neuanfang deswegen gescheitert", so Ounissi. Sie zählt sich selbst zu einer neuen Generation: "Wir waren ja noch sehr jung, als 2010 die Revolution begann. Wir haben den Neuanfang zu Beginn nur beobachtet und bei allem Respekt: Die haben ganz schön viele Fehler gemacht. Das gilt auch für meine Kollegen von Ennahda", sagt sie. Immerhin könnte man aus diesen Fehlern lernen; heute sei die Herangehensweise der politischen Kräfte deutlich effektiver, verantwortungsbewusster und pragmatischer.

Schicksalssommer 2013

Um diese Einschätzung richtig einzuordnen, lohnt wiederum ein Rückblick auf das Jahr 2013, diesmal aus Sicht der Ennahda-Partei. Seit eineinhalb Jahren regierte damals die sogenannte Troika-Regierung, eine Koalitionsregierung unter Führung der Ennahda. Es zeichnete sich ab, dass sie nicht in der Lage war, die politischen und wirtschaftlichen Probleme Tunesiens zu lösen. Zudem hatte es zwei Morde gegeben: Chokri Belaïd und Mohamed Brahmi, angesehene nicht-islamistische Politiker, waren getötet worden, und die Täter wurden unter den Islamisten vermutet. So formierte sich eine Protestbewegung gegen die Ennahda, mit Rückenwind aus Ägypten. Nach dem Vorbild der dortigen Tamarod-Bewegung wurde auch in Tunesien zur Absetzung der islamistischen Regierungspartei mobilisiert. Doch der große Knall konnte verhindert werden. Unter Vermittlung des sogenannten Dialog-Quartetts wurde ein Kompromiss ausgehandelt, eine Deadline für die Fertigstellung der Verfassung aufgestellt und später auch eine überparteiliche Technokratenregierung eingesetzt.

"Man muss sagen, dass sich nicht nur Tunesien in den vergangenen fünf Jahren stark verändert hat: Auch die Ennahda-Partei, ihre politischen Ziele und vor allem die Art und Weise, wie sie Politik macht, haben sich gewandelt", so Ounissi. "Wir sind sehr viel pragmatischer und weniger ideologisch geworden." Die Frauenfrage werde in der Partei inzwischen deutlich entspannter gesehen. "Dazu haben nicht zuletzt auch die Ennahda-Frauen beigetragen", so Ounissi. Dies zeige sich auch darin, dass sie bei ihrem Parteitag im Mai 2016 beschlossen hat, sich zukünftig den Beinamen "Muslimische Demokraten" zu geben. Damit will die Partei dem in der Presse und Literatur verbreiteten Label des "moderaten Islamismus" etwas entgegensetzen. Beim Verhältnis von Religion und Politik will sie ebenfalls klare Kante zeigen: So wird die Ennahda zu einer eindeutig politischen Partei erklärt, religiöse Würdenträger, Prediger und auch nur solche, von denen man eine solche Rolle in der Öffentlichkeit vermutet, sollen zukünftig in der Partei nichts mehr verloren haben.

Auch bezüglich der rechtlichen Situation von Frauen ist Tunesien dabei, wieder einmal eine Vorreiterrolle einzunehmen: Derzeit wird von einem Ausschuss des Parlaments, in dem stolze 31 Prozent der Abgeordneten Frauen sind, ein Gesetz vorbereitet, das häusliche Gewalt unter Strafe stellt. "Wir wollen möglichst umfassenden Schutz für die Frauen bieten, daher soll nicht nur Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt werden. Schließlich leben viele Frauen mit einem Partner, ohne verheiratet zu sein", beschreibt Ounissi, die selbst in dem Parlamentsausschuss sitzt. Allein die Diskussion löse bei vielen Konservativen und Islamisten schon Entsetzen aus: "Für sie ist es unvorstellbar, dass man auch nur darüber diskutieren kann, geschweige denn, dass der Gesetzgeber den Lebenswandel solcher Frauen durch ein solches Gesetz indirekt anerkennt. Es gibt aber auch viel Zustimmung", sagt Ounissi. "Da kann man einmal sehen, wie sehr sich unsere Gesellschaft weiterentwickelt hat."

Gut fünf Jahre nach Beginn der Revolution in Tunesien sind längst nicht alle Ziele erreicht, für die 2011 demonstriert wurde, viele Herausforderungen stehen noch bevor. Klar ist aber: Der Erfolg kann sich sehen lassen, und Frauen haben entscheidend dazu beigetragen, dass es so gekommen ist.

ist Journalistin und Buchautorin. Zuletzt erschien "Der verpasste Frühling. Woran die Arabellion gescheitert ist" (2016).