Wer Lina Ben Mhenni richtig in Rage bringen will, der lobt Tunesien und seine Erfolge bei der "Arabellion". "Wir werden oft als Leuchtturm der Hoffnung dargestellt. Als Land, in dem die Revolution gelungen ist und die Freiheit gewonnen wurde. Ich halte das für sehr gefährlich", sagt sie.
Ist die Revolution in Tunesien aus ihrer Sicht also gescheitert? War es ein Fehler, sie zu beginnen? Energisch schüttelt sie den Kopf: "Nein, gescheitert nicht und ein Fehler war sie auch nicht. Wir sind froh und glücklich und stolz, aber wir müssen wachsam bleiben. Das sind wir der Revolution schuldig. Nicht nur der unsrigen, sondern auch den Revolutionen der anderen Staaten", sagt sie. In diesem Zusammenhang ist sie dann doch bereit, Tunesien als Leuchtturm der Hoffnung darzustellen. "Wenn ich auf Aktivistinnen und Aktivisten aus anderen arabischen Staaten treffe, dann ist es schon okay, wenn wir unsere Erfolge feiern. Für sie ist es wichtig, dass es uns als Erfolgsmodell gibt. Sonst verlieren sie die Hoffnung und den Mut, den sie brauchen, um in ihren Ländern weiterzukämpfen."
Tunesien, eine Erfolgsgeschichte?
Trotz aller Probleme und Rückschläge ist die Entwicklung in Tunesien eine Erfolgsgeschichte. Das kleine Land, in dem 2010 die Arabellion begann, ist zugleich das einzige, indem der Aufstand gegen Diktatur, Willkür und für die Würde der Menschen Erfolg gezeigt hat; zumindest ein bisschen. Hier scheint gelungen, was andernorts gescheitert ist. Tunesien ist heute deutlich freier und die Menschen haben deutlich mehr Mitspracherecht als in der Zeit vor 2010.
So sind in der Verfassung, die 2014 nach zähem Ringen verabschiedet wurde, viele Freiheitsrechte festgeschrieben, die Oppositionelle und Menschenrechtler seit Jahren gefordert hatten. Der Verfassung ist an vielen Stellen anzumerken, dass sie ein Kompromiss ist. Sie gilt dennoch oder vielleicht sogar gerade deshalb als Vorbild für die ganze Region. Auf Grundlage dieser Verfassung konnte noch im gleichen Jahr ein Parlament und ein Präsident gewählt werden. Die Wahlkämpfe wurden emotional geführt: Viele Politiker setzten auf Populismus und schürten Angst vor dem politischen Gegner. Beschuldigungen und Beleidigungen wurden ausgetauscht, die Medien heizten die Atmosphäre weiter an. Auch in Tunesien machte sich die seit 2011 in der ganzen Region grassierende Polarisierung der politischen Landschaft bemerkbar: Islamisten gegen Nicht-Islamisten. Doch im Vergleich zu anderen Staaten in der Region kann von einem besonnenen Wahlkampf gesprochen werden, und auch die tunesischen und internationalen Wahlbeobachter attestierten weitgehend faire Wahlen.
Aus der Ferne betrachtet, scheint diese Regierungsbildung eine logische Umsetzung des Wahlergebnisses und der Notwendigkeit, eine starke Regierung zu haben. Doch selbstverständlich war es nicht, dass sie zustande kam. In anderen Staaten der Arabellion, etwa in Ägypten, scheiterte der Versuch der Regierungszusammenarbeit über die ideologischen Grenzen hinweg.
Insgesamt sah es im Frühjahr 2015 gut aus, auch wirtschaftlich zeichnete sich ein Silberstreif am Horizont ab und die Tourismussaison versprach, ein Erfolg zu werden. Dann schlugen die Terroristen zu: Als im März 2015 Attentäter das Nationalmuseum von Bardo in Tunis stürmten, starben 24 Menschen. Zunächst schien der Anschlag die Urlauber nicht abzuschrecken. "Man hatte eigentlich damit gerechnet, dass keiner mehr kommt. Es war auch nicht überwältigend, was wir an Buchungen hatten, aber immerhin. Doch dann …", sagt Amel Azzouz.
Seit Dezember 2010, als sich der tunesische Gemüsehändler Mohammed al-Bouazizi wohl aus Frust über die Willkür der Behörden und die allgemeine Hoffnungslosigkeit selbst in Brand setzte und damit die Proteste auslöste, die bald die ganze Region erschütterten, hatte sich wirtschaftlich wenig getan. "Es ist ein Teufelskreis, aus dem wir so leicht nicht herauskommen", beschreibt Azzouz. Die Wirtschaft kommt nicht auf die Beine, weil es immer wieder Terroranschläge gibt. Die Jugendlichen leiden darunter am meisten, werden ungeduldig und es kommt wieder häufiger zu Protesten. Viele verlieren die Hoffnung, dass die tunesische Revolution neben politischen Freiheiten auch soziale Gerechtigkeit und bessere Lebensbedingungen für die breite Masse bringt. Frust und Hoffnungslosigkeit wiederum legen die Grundlage, dass einige dieser Jugendlichen für radikale Gruppen, wie dem sogenannten Islamischen Staat (IS), ansprechbar werden. Dem IS ist der tunesische Erfolg ohnehin ein Dorn im Auge, schließlich kann es für die Terrororganisation nur eine Richtung geben, in die die arabische, islamische Welt zu gehen hat, und die ist ihre eigene. Es ist kein Zufall, dass in den vergangenen Monaten ausgerechnet in Tunesien besonders viele blutige Anschläge verübt wurden. Mit "Erfolg": Die tunesische Wirtschaft liegt weiter am Boden. Das Vorzeigeland des "Arabischen Frühlings" droht in eine Abwärtsspirale aus Gewalt, Armut und Hoffnungslosigkeit hineingesogen zu werden.
Trotz der Gewalt muss das Erreichte gewürdigt werden. Die Frage drängt sich auf, was in Tunesien besser gelaufen ist. Schließlich gilt Tunesien als Gegenbeweis zur verbreiteten These, dass Demokratie und Freiheit nicht in die arabische Welt passen und hier nie Fuß fassen werden. Oder, weitergehender noch: dass diese Ideen nicht mit dem Islam kompatibel sind. Tunesien zeigt, dass die These nicht stimmt. Zudem lassen sich aus dem tunesischen Beispiel Lehren ziehen, was die Aktivisten anderer Länder bedenken und anders machen müssen, sollten sie eine zweite Chance für einen Neuanfang bekommen.
Was lief in Tunesien besser?
Tunesien hatte andere Ausgangsvoraussetzungen als die anderen Staaten der Region.
Auch waren die Regierung und das politische System etwas anders aufgestellt als in den anderen Staaten der Arabellion:
Dass die Frauen so präsent sind, liegt aber natürlich nicht nur an der Großzügigkeit, mit der das alte Regime Frauenrechte gestärkt hat. Tunesien zeichnet sich durch eine besonders aktive Zivilgesellschaft aus, obwohl sie es auch hier in der Zeit vor 2010 schwer hatte. Die Regierung setzte zunächst auf ein Einparteiensystem, welches nur allmählich aufgelockert wurde. Organisationen der Zivilgesellschaft hatten nur wenig Spielraum. Trotz allem war dieser in Tunesien um einiges größer als in den Nachbarstaaten: In den 1970er und 1980er Jahren entwickelte sich an den Universitäten eine Studentenbewegung, aus der auch die islamistische Bewegung hervorging, die sich unter anderem 1981 in der Ennahda-Partei formierte. Im Gegensatz zur ägyptischen Muslimbruderschaft ist Ennahda jedoch weniger dogmatisch und damit kompromissbereiter.
Frauen einigen, sie spalten aber auch
Genauso wie Frauen durch ihre politische Tätigkeit einen wichtigen Beitrag zum Ausbruch der Revolution leisteten, und wie sie während der Proteste 2011 dazu beitrugen, dass die Revolution vergleichsweise friedlich verlief – nicht zuletzt, weil es den Sicherheitskräften schwerer fiel, brutal gegen Frauen vorzugehen –, genauso spaltete das Thema "Frauen" bereits kurz nach dem Sturz Ben Alis die Nation.
Die Islamisten erklärten das Personenstandsrecht von 1956 zum Ausdruck der Diktatur, dass es ebenso zu stürzen gelte. Statt des oktroyierten Säkularismus sollte sich nun der Islam entfalten können, schließlich seien die Tunesier ein muslimisches Volk. Während die Aufhebung des Kopftuchverbots auch von vielen aus den anderen politischen Lagern begrüßt wurde, da es die Selbstbestimmung der Frauen fördere, kam es zu einem Streit über die Rolle der Frau in der Gesellschaft und darüber, wie diese Rolle in der Verfassung festzuschreiben sei. Angeheizt wurde die Diskussion durch Einwürfe besonders radikaler Salafisten, die laut über die Wiedereinführung des Rechts auf Polygamie nachdachten. Über die Frage, ob Frauen den Männern gleichgestellt sind oder sich Mann und Frau in ihren Rechten und Pflichten ergänzen, wurde mehr als ein Jahr lang erbittert gestritten. Die Diskussion war von Angst geprägt: Viele Frauen fürchteten um ihre Freiheit und hatten Grund zur Sorge, dass Tunesien seinen Sonderstatus als Land mit besonders ausgeprägten Frauenrechten verlieren könnte, wenn die islamistischen Parteien weiter an Macht gewinnen würden. Entsprechend heftig waren in dieser Zeit die Proteste der Frauen. Nicht selten kam es dabei zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit islamistischen Gruppen. Rückblickend betrachtet, kann Ounissi darüber nur den Kopf schütteln: "Es war absurd, statt sich um die eigentlich entscheidenden Fragen zu kümmern, haben sich die Abgeordneten die Köpfe wegen der Stellung der Frau eingeschlagen. Fast wäre unser Neuanfang deswegen gescheitert", so Ounissi. Sie zählt sich selbst zu einer neuen Generation: "Wir waren ja noch sehr jung, als 2010 die Revolution begann. Wir haben den Neuanfang zu Beginn nur beobachtet und bei allem Respekt: Die haben ganz schön viele Fehler gemacht. Das gilt auch für meine Kollegen von Ennahda", sagt sie. Immerhin könnte man aus diesen Fehlern lernen; heute sei die Herangehensweise der politischen Kräfte deutlich effektiver, verantwortungsbewusster und pragmatischer.
Schicksalssommer 2013
Um diese Einschätzung richtig einzuordnen, lohnt wiederum ein Rückblick auf das Jahr 2013, diesmal aus Sicht der Ennahda-Partei. Seit eineinhalb Jahren regierte damals die sogenannte Troika-Regierung, eine Koalitionsregierung unter Führung der Ennahda. Es zeichnete sich ab, dass sie nicht in der Lage war, die politischen und wirtschaftlichen Probleme Tunesiens zu lösen. Zudem hatte es zwei Morde gegeben: Chokri Belaïd und Mohamed Brahmi, angesehene nicht-islamistische Politiker, waren getötet worden, und die Täter wurden unter den Islamisten vermutet. So formierte sich eine Protestbewegung gegen die Ennahda, mit Rückenwind aus Ägypten. Nach dem Vorbild der dortigen Tamarod-Bewegung wurde auch in Tunesien zur Absetzung der islamistischen Regierungspartei mobilisiert. Doch der große Knall konnte verhindert werden. Unter Vermittlung des sogenannten Dialog-Quartetts wurde ein Kompromiss ausgehandelt, eine Deadline für die Fertigstellung der Verfassung aufgestellt und später auch eine überparteiliche Technokratenregierung eingesetzt.
"Man muss sagen, dass sich nicht nur Tunesien in den vergangenen fünf Jahren stark verändert hat: Auch die Ennahda-Partei, ihre politischen Ziele und vor allem die Art und Weise, wie sie Politik macht, haben sich gewandelt", so Ounissi. "Wir sind sehr viel pragmatischer und weniger ideologisch geworden." Die Frauenfrage werde in der Partei inzwischen deutlich entspannter gesehen. "Dazu haben nicht zuletzt auch die Ennahda-Frauen beigetragen", so Ounissi. Dies zeige sich auch darin, dass sie bei ihrem Parteitag im Mai 2016 beschlossen hat, sich zukünftig den Beinamen "Muslimische Demokraten"
Auch bezüglich der rechtlichen Situation von Frauen ist Tunesien dabei, wieder einmal eine Vorreiterrolle einzunehmen: Derzeit wird von einem Ausschuss des Parlaments, in dem stolze 31 Prozent der Abgeordneten Frauen sind,
Gut fünf Jahre nach Beginn der Revolution in Tunesien sind längst nicht alle Ziele erreicht, für die 2011 demonstriert wurde, viele Herausforderungen stehen noch bevor. Klar ist aber: Der Erfolg kann sich sehen lassen, und Frauen haben entscheidend dazu beigetragen, dass es so gekommen ist.