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Bismarck und Merkel | Deutsche Außenpolitik | bpb.de

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Bismarck und Merkel Chancen und Grenzen historischer Vergleiche an einem aktuellen Beispiel

Lars Lüdicke

/ 13 Minuten zu lesen

Otto von Bismarck ermöglichte und sicherte die "erste deutsche Einheit". In der Diskussion um Deutschlands Rolle in Europa wird der erste Reichskanzler mitunter zum Bezugspunkt einer Kritik der aktuellen Außenpolitik unter Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Immer wieder nehmen Akteure aus Politik, Publizistik und Wissenschaft die Geschichte in Anspruch, um Gegenwart und Zukunft gegen die Vergangenheit zu konturieren. Auch im Diskurs zum Thema dieses Heftes spielt der Rückgriff auf die Vergangenheit eine zentrale Rolle, da eine "neue Außenpolitik" eine Abgrenzung zu einer "alten" verlangt. Doch was als Zäsur zu verstehen ist, wurde und wird unterschiedlich interpretiert: Angesichts der fundamentalen Strukturveränderungen und Paradigmenwechsel gilt zwar längst als Konsens, das Ende des Kalten Krieges und die Vereinigung der beiden deutschen Staaten als Einschnitt für die deutsche Außenpolitik zu begreifen. Jüngst wird aber auch diskutiert, ob ein gewandeltes beziehungsweise sich wandelndes Selbstverständnis der "Berliner Republik" sowie eine neuartige Herausforderungs- und Bedrohungslage festgestellt werden müssen, denen ein elementarer Wendecharakter zuzuschreiben ist. Sogar das Diktum einer "neuen ‚neuen Außenpolitik‘" wurde in die Debatte eingebracht, weil sich derzeit ein "zweite[r] Kurswechsel in der deutschen Außenpolitik innerhalb von zwei Jahren" abzeichne.

Das Gegenstück zu einem solch kleinteiligen Zeithorizont bildet eine Langzeitperspektive, in der die Außenpolitik des ersten Reichskanzlers in Beziehung zur Außenpolitik der ersten Bundeskanzlerin gesetzt wird. So rückte etwa 2015 rund um den 200. Geburtstag Otto von Bismarcks immer wieder die Frage in den Fokus, ob und inwiefern die Vergangenheit für die Gegenwart von Bedeutung ist.

Den Rückgriff auf Bismarck nutzte jüngst beispielsweise auch der "Zeit"-Herausgeber Josef Joffe, um mit Blick auf Deutschlands Rolle in Europa seine Kritik an Angela Merkels Außenpolitik zu begründen: "Natürlich ist und bleibt Deutschland die Macht in der Mitte, die Nummer Eins, ökonomisch wie demografisch. Nur ist diese Zentralmacht seit Bismarcks Zeiten nie stark genug, um Europa zu ‚germanisieren‘, ihm also seinen Willen aufzudrängen. (…) Der Zuchtmeister hat es nicht geschafft, den renitenten Euro-Staaten Haushaltsdisziplin und die qualvollen Reformen aufzudrücken, um die Gemeinschaftswährung dauerhaft zu retten. Resteuropa ist auch nicht wirklich bereit, den Deutschen die Last ihrer großherzigen Flüchtlingspolitik abzunehmen. Die Moral dieser Geschichten ist stets die gleiche: Allein geht’s nicht weit." Doch heute, im Europa der Europäischen Union, sei Bismarcks "Albtraum der Koalitionen" nicht mehr aktuell, wohl aber das Konzept des "Selbdritt", des Miteinanders, in dem der Verbund als Verstärker wirkt. Die Bundesregierung unter Angela Merkel habe jedoch "das Gesetz des Handelns anderen überlassen", statt "die Europäer frühzeitig zusammenzuschirren – geduldig und unermüdlich, mit Druck und mit Zug", um "aus dem deutschen Wir ein europäisches" zu machen.

Zeichnen diese Einschätzungen ein zutreffendes Bild der bismarckschen und merkelschen Politik? Welcher Erkenntnisgewinn lässt sich in der Gegenwart aus dem Rekurs auf ein vor mehr als 100 Jahren entworfenes außenpolitisches Konzept ziehen? Welchen Sinn stiftet dieses Kapitel deutscher Geschichte für heutiges politisches Handeln? Welchen Zweck erfüllt historische Orientierung, worin bestehen ihre Chancen und Grenzen? Diesen Leitfragen soll der vorliegende Beitrag nachgehen.

Bismarcks Gleichgewichtspolitik

Für die deutsche Nation begann die "Suche nach Sicherheit" (Eckart Conze) bereits mit dem Kaiserreich. Die Gründung des 1871 in Versailles ausgerufenen Nationalstaates war auch deshalb nur als "kleindeutsche Lösung" möglich gewesen, weil eine Einbeziehung der deutschsprachigen Gebiete Österreichs zum einen das Mächtegleichgewicht in Europa noch radikaler verändert hätte und zum anderen von England und Russland kaum hingenommen worden wäre. Somit hatte die Reichseinigung von 1871 zur Entstehung einer Großmacht geführt, deren Schwäche gewissermaßen in ihrer Stärke bestand und umgekehrt.

In den Einigungskriegen und vor allem im deutsch-französischen Krieg 1870/71 hatte sich die Schlagkraft der deutschen Armeen gezeigt. Doch das Kaiserreich war nicht nur die stärkste Militärmacht des Kontinents, sondern auch eine gewichtige Wirtschaftsmacht, die in einigen Industriezweigen wie dem Maschinenbau oder der Chemieindustrie sogar die Weltspitze eroberte. Zudem war mit der ersten deutschen Einheit der bevölkerungsreichste europäische Staat westlich der russischen Grenzen entstanden, dessen demografischer Vorsprung sich in der Folgezeit sogar noch vergrößerte, weil die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts stark anwachsende Bevölkerungszahl allein zwischen 1871 und 1911 um 58 Prozent anstieg, nämlich von 41 auf 65 Millionen Menschen. Diese Entwicklungen fielen besonders ins Gewicht, da sich immer stärker abzeichnete, dass die modernen Kriege von der wirtschaftlichen und technischen Leistungsfähigkeit abhängen und von Massenheeren geführt werden würden. Dementsprechend wähnte Bismarck das Reich in einer prekären machtpolitischen Lage, die in der Geschichtswissenschaft als "halbhegemoniale Stellung" beschrieben worden ist: Einerseits nahmen die europäischen Großmächte die Entwicklung der ökonomischen, militärischen und demografischen Macht des Kaiserreiches als Bedrohung wahr; andererseits besaß der "verspätete" deutsche Nationalstaat jedoch kein derartiges Übergewicht, dass die Möglichkeit einer Bedrohung durch die übrigen Staaten von vornherein ausgeschlossen werden konnte.

Die spezifische Hypothek der späten Nationalstaatsgründung bestand somit in ebenjener halbhegemonialen Stellung, die Bismarck auch aus geostrategischen Gründen wiederum für besonders gefährdet und gefährlich hielt. Denn aufgrund der exponierten Mittellage im Zentrum Europas war Deutschland von fünf Großmächten umringt, zu denen Bismarck auch England und Italien zählte, darunter der "Erb-" oder "Erzfeind" Frankreich, der auf die Revision der Annexion Elsass-Lothringens und auf einen Revanchekrieg zielte. Wie die halbhegemoniale Großmacht unter den Bedingungen ihrer "bedrohten und bedrohlichen Mittellage" nicht zum Spielball der Mächte oder Schlachtfeld und Teilungsobjekt werden sollte, war ein Problem, das den Kanzler seit der Reichsgründung 1871 sorgte.

Bismarcks Suche nach Auswegen mündete in eine Strategie der Gleichgewichtspolitik. Eckpunkte wurden im sogenannten Kissinger Diktat festgehalten: Deutschland sollte sich auf eine defensive, politisch-diplomatische Sicherung seiner Großmachtrolle konzentrieren, indem es die Revisionsmacht Frankreich isolierte und die Spannungen der Flügelmächte England und Russland zum eigenen Vorteil nutzte. Nüchtern kalkulierend wollte der Kanzler die englisch-russische Rivalität vom europäischen Zentrum weg an die europäische Peripherie lenken. In diesem Sinne entwarf er das Idealbild einer statischen Konstellation, "nicht irgendeines Ländererwerbs, sondern das einer politischen Gesamtsituation, in welcher alle Mächte außer Frankreich unser bedürfen, und von Coalitionen gegen uns durch ihre Beziehungen zu einander nach Möglichkeit abgehalten werden". Bismarcks Ziel blieb also die "Erhaltung möglichst weitgehender Unabhängigkeit zwischen den Mächten und verschiedenen Mächtegruppen. (…) Es war das Ideal einer Politik der freien Hand, die es dem Reich erlaubte, regulierend in das stets prekäre Mächtegleichgewicht einzugreifen und so den Status quo im Interesse seiner bisherigen Machtstellung zu erhalten. Eine wirkliche Zukunft freilich (…) besaß diese Politik angesichts der stürmisch voranschreitenden Entwicklung von einem europäischen System zu einem Weltstaatensystem mit neuem Zentrum und rapide sich verändernder Gewichtsverteilung nicht mehr".

Souveränität und Integration: Kontinuität bundesrepublikanischer Außenpolitik

Dass Bismarcks Nachfolger die außenpolitischen Prämissen des Reichsgründers zugunsten eines "Neuen Kurses" aufgaben, der auf den Aufstieg zur Weltmacht zielte und in die Selbstauskreisung des Reiches mündete, verweist auf jenen grundlegenden "Umschwung", der seinem Abgang folgte. Und so markiert bereits diese Diskontinuität einen fundamentalen Unterschied zur gegenwärtigen deutschen Außenpolitik, weil auch von Merkels Nachfolgerin oder Nachfolger eine Fortsetzung der von ihr verfolgten Grundlinie zu erwarten ist – so wie sie selbst jene ihrer Vorgänger fortsetzte. Tatsächlich ist die Außenpolitik der Bundesrepublik seit ihrem Bestehen in hohem Maße von Kontinuität geprägt, während sich die nach Bismarcks Abgang beginnende wilhelminische Außenpolitik durch eine "springende Unruhe" (Hermann Oncken) auszeichnete.

Die außenpolitische Prämisse der Bundesrepublik, die der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer prägte, lässt sich auf die Formel Souveränität und Sicherheit durch Integration in die westliche Völkergemeinschaft bringen. Adenauers Entscheidung für die Westbindung resultierte nicht zuletzt aus der exponierten geostrategischen Lage, an der sich im Prinzip seit der Reichseinigung nichts geändert hatte: An der Schnittstelle zwischen den beiden Blöcken des Kalten Krieges waren Freiheit und Sicherheit nicht anders als durch einen partnerschaftlichen Beitrag unter dem nuklearen Schirm der USA zu erreichen. Unbeschadet späterer Neuakzentuierungen, die etwa Willy Brandt in Gestalt einer "Neuen Ostpolitik" verfolgte, wurde Adenauers Grundsatzentscheidung von allen Bundesregierungen weitergetragen, und auch nachdem die vollständige Souveränität im Zuge der Wiedervereinigung wiedererlangt worden war, bildete die Integration in die Sicherheits-, Verteidigungs- und Allianzpolitik der westlichen Staatengemeinschaft die Basis für die außenpolitische Arbeit der Regierungen Kohl, Schröder und Merkel.

Doch angesichts des stetigen Wandels der weltpolitischen Lage ist die Bundesrepublik als stärkste und stabilste europäische Wirtschaftsmacht gefordert. Das Szenario eines klassischen Staatenkrieges hat an Bedeutung verloren, während die multipolaren Problemstellungen beziehungsweise Bedrohungen asymmetrischer und hybrider Kriege zunehmend wichtiger werden: beginnend beim internationalen Terrorismus und ethnisch-religiösen Konflikten über Bürgerkriege und Hungersnöte bis hin zum Aufstieg Asiens oder den imperialen Anwandlungen Russlands.

Merkels Vision vom Kraftzentrum Europa

Der weltpolitische Wandel stellt die Bundesrepublik vor eine "völlig neue Herausforderung", wie Angela Merkel auf dem Zukunftskongress der Jungen Gruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im April 2016 sagte. Man müsse "in einem größeren Design planen", um die Herausforderungen der Zukunft bewältigen zu können, führte die Bundeskanzlerin in dieser extemporierten und entsprechend aufschlussreichen Rede aus. Abzusehen sei eine Verschiebung der Gewichte auf der Welt: Europas Anteil an der Weltbevölkerung und auch am Bruttoweltprodukt nehme ab, während die Pazifik-Region an Bedeutung gewinne. Dementsprechend liege das strategische Interesse der USA "auch nicht mehr naturgegeben" in Europa, wie zu Zeiten des Kalten Krieges.

In einer zunehmend multipolar strukturierten Welt werde man somit die Nationen, die Europäische Union und auch die Welt "als verschiedene Seiten einer Medaille wahrnehmen müssen". Die europäische Dimension werde jedoch nicht immer so intensiv mitgedacht, wie es angesichts der Lösungsmöglichkeiten für bestehende Problemlagen notwendig wäre.

Deutschland allein könne in der neuen Weltordnung aber kein Kraftzentrum sein. Ein solches könne nur bilden, "wer wirtschaftlich stark ist, wer dafür bekannt ist, dass er für seine Sicherheit sorgen kann, und vielleicht ab und zu so stark ist, dass er auch noch anderen helfen kann, die auch Sicherheit brauchen und ähnliche Ideale teilen oder sich zumindest auf den Weg zu ähnlichen Idealen begeben". Europa habe das Potenzial für ein solches Kraftzentrum, es stehe jedoch unter Druck: "Die letzten Jahre zeigen im Grunde, dass die Welt Europa testet: Was ist das eigentlich für ein Gebilde? Zuerst war die Währungsunion dran: Haltet ihr zusammen oder haltet ihr nicht zusammen? Es gibt genügend Kräfte auf der Welt, die nicht wollen, dass wir zusammenhalten. Der zweite Druckpunkt, den wir jetzt bestehen müssen, ist die Frage: Könnt ihr eure Außengrenzen schützen? Seid ihr dazu in der Lage oder fallt ihr wieder zurück in den Schutz der nationalen Grenzen?" Es gelte, den Binnenmarkt und die Europäische Union zu bewahren und den Aufbau von Wohlstand und Sicherheit über die Grenzen des Schengen-Raumes hinaus weiter voranzubringen. Nur so werde es künftig möglich sein, "acht, neun oder zehn Milliarden Menschen auf der Welt vernünftig leben zu lassen und nicht einen Migrationsdruck zu bekommen, der unerträglich wird".

Zweierlei Strategien

In solchen Ausführungen treten die Unterschiede zwischen Merkels und Bismarcks Ansätzen deutlich hervor, die wohlgemerkt auch in fundamental verschiedene Rahmenbedingungen eingebettet sind: Bismarck wollte die Zukunft des Reiches sichern, indem er auf Basis einer Freihandpolitik die Interessen der anderen Großmächte Europas gegeneinander und vom Zentrum an die Peripherie zu lenken versuchte – Merkel hingegen ist bestrebt, für die Zukunft des Landes zu sorgen, indem sie die Integration der übergreifenden Interessen der europäischen Länder zugunsten der Bildung eines politisch-wertbestimmten, demografischen und ökonomischen Kraftzentrums forciert. Bismarcks bündnispolitische Rückversicherungspolitik besaß insofern einen destruktiven Charakter, als dieses rein defensiv ausgerichtete System hauptsächlich auf die Verhinderung einer Allianz gegen das Reich ausgerichtet war – Merkels Idealbild einer Einigung und Einheit Europas trägt insofern visionäre Züge, als das Konzept einer transnationalen Sicherheitspolitik auch auf die offensive Unterstützung anderer zielt. Bismarck dachte stets in nationalen Machtstaatskategorien und war überzeugt von der Notwendigkeit eines Gleichgewichts zwischen den europäischen Großmächten – Merkels Überzeugung ist, dass Deutschland im Weltmaßstab nur in der größeren Gemeinschaft Europas handlungs- und wettbewerbsfähig bleiben wird.

In eben diesem Sinne wurden grundsätzliche Weichenstellungen vorgenommen, angefangen bei der 2010 initiierten Neuausrichtung der Bundeswehr, mit der die Bundesrepublik auf die veränderte sicherheitspolitische Lage reagierte, bis hin zu einer verstärkten europäischen Zusammenarbeit im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, die bereits mit dem Vertrag von Maastricht 1992/93 eingeführt worden war und mit dem Vertrag von Lissabon 2007/09 ausgebaut wurde. Eingebettet in den normativen Rahmen grundgesetzlicher Vorgaben sowie völkerrechtlicher und anderer vertraglicher Verpflichtungen wird die deutsche Außenpolitik auch unter Angela Merkel auf eine Art an die Erfordernisse einer multipolaren Welt angepasst und entsprechend weiterentwickelt, in der sich die Kontinuität der außenpolitischen Grundsätze der Bundesrepublik widerspiegelt.

Bereits 2003 hatte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder erklärt, dass Deutschland und Europa in einer Zeit, in der das weltweite Krisen- und Konfliktpotenzial eher zu- als abnehme, ein vitales Interesse an der Fortsetzung und Intensivierung der transatlantischen Partnerschaft hätten. Dieses Bündnis bedürfe allerdings einer erneuerten Basis, Europa und die Vereinigten Staaten müssten zu einer "Partnerschaft auf gleicher Augenhöhe" finden. Allem voran aber müsse der europäischen Integration auf Wirtschaftsebene eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik an die Seite gestellt werden. Worauf Schröder hinauswollte, ist auch in Merkels Vorstellung vom Kraftzentrum angelegt: Im transatlantischen Verhältnis gebe es "nicht zu viel Amerika", sondern "zu wenig Europa" – weshalb das Ziel des Emanzipationsprozesses nur "mehr Europa" sein könne.

Geschichte als Kritikinstrument

In diachroner Perspektive wird deutlich, dass die Außenpolitik Otto von Bismarcks und Angela Merkels kaum miteinander verglichen und noch weniger gegeneinander abgewogen werden können: Nur die geopolitische Situation, die europäische Mittellage, ist unverändert gegeben; die Rahmenbedingungen des außenpolitischen Handelns haben sich jedoch ebenso grundlegend verändert wie der (Werte-)Maßstab für dessen Beurteilung. Deshalb bleibt auch der Erkenntnisgewinn jener Diskurse äußerst begrenzt, in denen die Außenpolitik des ersten Reichskanzlers in Beziehung zur Außenpolitik der ersten Bundeskanzlerin gesetzt wird – und möglicherweise erstreckt sich der Erkenntnisgewinn auch gar nicht auf das Feld der Geschichte, jedenfalls nicht hauptsächlich, sondern auf den Bereich der Politik. Wer nämlich "über historische Deutungsmacht verfügt, übt mittelbar auch politischen Einfluss aus".

In der Tat handelt es sich wohl zuallererst um eine Instrumentalisierung der Geschichte zum Zweck einer Kritik aktueller Politik, die im Vergleich von Bismarck und Merkel zum Ausdruck kommt. Angesichts einer solchen Gegenüberstellung von einer "Verhöhnung des Altkanzlers" zu sprechen, wie es der Historiker und Publizist Arnulf Baring tat, läuft jedenfalls eher auf eine Verhöhnung der Kanzlerin hinaus. Denn der Politik Merkels das Bild einer überlegenen, zukunftsfähigeren Politik Bismarcks entgegenzustellen, ergibt ein Zerrbild. Auch Bismarcks Idee des "Selbdritt" eignet sich kaum als Basis einer Kritik an der Politik der Kanzlerin, da – ungeachtet aller konzeptionellen Unterschiede – das "Zusammenschirren" der europäischen Staaten gewissermaßen zum Markenkern von Merkels Außenpolitik zählt: Sie hat auf einem Gipfel der Euro-Länder im Juli 2015 eine vorläufige Lösung des griechischen Verschuldungsproblems in Gestalt eines dritten Rettungspaketes durchgesetzt und auch in der sogenannten Flüchtlingskrise unablässig eine europäische Lösung angemahnt sowie vor einem Rückfall in konkurrierende Nationalismen gewarnt. An Merkels Krisenpolitik lässt sich zweifelsfrei nichts anderes als ihre europäische Orientierung erkennen – wiewohl die Gesamtlage zugleich auch offenbart, dass ihre auf Kooperation ausgerichteten Anstrengungen nicht selten zum Gegenteil führten. So wurde zuletzt – und besonders – in der Isolation Deutschlands in der Flüchtlingspolitik deutlich, dass strategisch schlüssige Ziele nicht zu operativ schlüssigen Entscheidungen führen müssen.

Dem Idealbild der Kanzlerin, Europa als Kraftzentrum der Welt zu etablieren und auf diesem Weg die Zukunft seiner Bürgerinnen und Bürger zu sichern, werden Realität und Entwicklung Europas jedenfalls immer weniger gerecht. Tatsächlich haben, auf komplexe Weise aufeinander bezogen, unterschiedlichste Gründe zu einer Krise Europas geführt, die den Präsidenten des Europäischen Parlaments Martin Schulz dazu verleitet hat, das Scheitern der Europäischen Union als ein erstmals realistisches Szenario zu bezeichnen. Politik, Wissenschaft und Publizistik stehen somit vor der Aufgabe, die Gründe für die schwerste Krise in der Geschichte der Europäischen Union zu identifizieren und Auswege zu diskutieren. Dafür braucht es jedoch den Vergleich mit Bismarck nicht nur nicht, er hilft auch nicht weiter.

Erstaunlicherweise bleibt in der Debatte über die "Flüchtlingskrise" jedoch gerade ein Aspekt bislang unreflektiert, der in diesem Zusammenhang überlegenswert erscheint: So wurde in der historischen Forschung zwar eine breite Debatte über die innenpolitischen und sozialimperialistischen Motive für Bismarcks Entscheidung zugunsten der von ihm eigentlich abgelehnten Kolonialpolitik geführt; demgegenüber blieb eine Diskussion der innenpolitischen Motive für Merkels Entscheidung vom 5. September 2015, die den in Ungarn festsitzenden Flüchtlingen die Weiterreise nach Deutschland ermöglichte, bislang aus. Doch war ihr Entscheidungsspielraum nicht empfindlich eingeschränkt, wenn die Alternative zur Grenzöffnung auf einen Flüchtlingsstau nahe der deutschen Grenzen hinausgelaufen wäre, gegen den sich höchstwahrscheinlich eine breite gesellschaftliche und parteienübergreifende Opposition in Deutschland formiert hätte?

In einem solchen Sinn vermag historisches Orientierungswissen die Sensibilisierung für grundlegende Fragen aktueller Politik zu stimulieren – ganz im Geiste des Historikers Jacob Burckhardt, der meinte, Geschichte mache nicht klug für ein anderes Mal, sondern weise für immer.

ist Historiker mit dem Schwerpunkt Neueste und Zeitgeschichte und lebt in Berlin. E-Mail Link: lars.luedicke@alumni.hu-berlin.de