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Dem Sturm trotzen - Essay | Deutsche Außenpolitik | bpb.de

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Dem Sturm trotzen - Essay Deutsche Außenpolitik in einer Zeit der Komplexität aus Sicht der USA

Rachel Rizzo

/ 9 Minuten zu lesen

Seit Jahrzehnten besteht zwischen den USA und Deutschland eine solide Beziehung, die auf gegenseitigem Vertrauen, Kooperation und der Verpflichtung auf gemeinsame Werte beruht. Seit dem Ende des Kalten Krieges und der deutschen Wiedervereinigung haben sich beide Staaten Seite an Seite zahlreichen schwierigen Situationen gestellt und sind daraus gestärkt und mit einem besseren Verständnis für den jeweils anderen hervorgegangen.

Im Laufe der vergangenen 25 Jahre und vor allem im zurückliegenden Jahrzehnt hat insbesondere Deutschland bedeutende Fortschritte gemacht, von denen die bilaterale Allianz profitiert: Die Bundesrepublik ist zum Schlüsselakteur in Europa geworden und hat "auf eine Vergangenheit aus Krieg und Dominanz eine Gegenwart von Frieden und Kooperation gebaut". Von den unermüdlichen Bemühungen zur Friedensvermittlung in der Ukraine über die Rettung der vor dem Zusammenbruch stehenden Eurozone bis hin zur europäischen Führungsrolle in einer Migrationskrise von historischem Ausmaß hat Deutschland unter Bundeskanzlerin Angela Merkel beispiellose Führungsstärke unter widrigen Umständen bewiesen.

Dennoch waren die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland nicht perfekt. Im vergangenen Jahrzehnt gab es schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten über die amerikanische Invasion in den Irak, die sich als einer der größten außenpolitischen Fehler der US-Geschichte erwies. 2013 haben die Enthüllungen über die Spionageaktivitäten der National Security Agency (NSA) die bilateralen Beziehungen erneut immens unter Druck gesetzt, insbesondere als aufgedeckt wurde, dass die NSA Kanzlerin Merkel selbst ausspioniert hat. Dabei wurde offenkundig, dass grundlegende Unterschiede zwischen den beiden Ländern bestehen, was Datenschutz und Bürgerrechte betrifft sowie hinsichtlich der Frage, was einen starken Verbündeten ausmacht.

An der öffentlichen Meinung in beiden Ländern zeichnet sich ab, dass sich die Beziehung langsam erholt und ein weitgehender gegenseitiger Respekt zwischen der US- und der deutschen Bevölkerung herrscht. Eine Umfrage des Pew Research Center zeigt, dass 70 Prozent der US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner Deutschland für einen verlässlichen Verbündeten halten und 60 Prozent der Deutschen den Vereinigten Staaten vertrauen. Gleichermaßen befürworten 59 Prozent der Deutschen die Art und Weise der Gestaltung der bilateralen Beziehungen durch US-Präsident Barack Obama und 71 Prozent diejenige von Kanzlerin Merkel.

Inmitten zahlreicher Krisen, mit denen Europa derzeit konfrontiert ist, muss der nächste US-Präsident oder die nächste US-Präsidentin sich auf Deutschland als eine der stärksten europäischen Stimmen verlassen können und zugleich gewährleisten, dass Meinungsverschiedenheiten die zukünftige bilaterale Kooperation nicht behindern. Drei Schlüsselthemen werden die Zukunft des Verhältnisses zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland bestimmen: die Rolle der Bundesrepublik in der NATO, die Ansätze beider Länder gegenüber Russland und schließlich der Umgang mit der zunehmend instabilen Situation im Nahen und Mittleren Osten. Aus der Perspektive Washingtons wird Deutschland in allen drei Bereichen unverzichtbar sein. Als größte europäische Volkswirtschaft mit einem Bruttoinlandsprodukt von mehr als 3,8 Billionen US-Dollar und als einer der mächtigsten Akteure auf internationalem Parkett hat Deutschland bereits große Schritte unternommen, um aus seiner außenpolitischen Zurückhaltung herauszutreten. Wenn es diesen Weg fortsetzt und sich die Außen- und Verteidigungspolitik ebenso zu eigen macht wie die Wirtschaftspolitik, wird die bilaterale Beziehung zu den USA davon profitieren.

NATO und Verteidigung

Im Verteidigungsbereich haben die Vereinigten Staaten Deutschland aufgefordert, weitaus aktiver zu werden, insbesondere innerhalb der NATO. Gleichzeitig versucht die NATO selbst herauszufinden, wie sie sich anpassen und verändern muss, um einer Reihe neuer sicherheitspolitischen Herausforderungen zu begegnen. Ohne eine deutsche Führungsrolle wird dies nur schwer gelingen.

Aufgrund seiner schmerzlichen und katastrophalen Geschichte im 20. Jahrhundert hat Deutschland bislang gezögert, eine solche einzunehmen. Folglich hat es militärische Investitionen vernachlässigt und eine mangelnde Bereitschaft an den Tag gelegt, sich an NATO-Missionen zu beteiligen, wie etwa in Libyen 2011. Heute bemüht sich Deutschland jedoch, als ein verteidigungspolitischer Anführer Europas aufzutreten, und die USA werden weiterhin auf die Unterstützung Berlins setzen, wenn es darum geht, die NATO zu modernisieren.

Gegenwärtig betragen die Verteidigungsausgaben der Bundesrepublik etwa 33 Milliarden Euro pro Jahr, das entspricht rund 1,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Als Reaktion auf eindringliche Bitten internationaler Führungspersönlichkeiten, diesen Wert zu erhöhen, will die Bundesregierung in den kommenden Jahren investieren, um bis 2019 die Verteidigungsausgaben auf mehr als 35 Milliarden Euro pro Jahr zu steigern. Dadurch wäre Deutschland zwar näher an der nicht durchgesetzten NATO-Regel, dass jedes Mitglied der Allianz zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben muss, läge aber immer noch deutlich darunter. Der deutsche Fall zeigt jedoch auch, dass bei Verteidigungsausgaben "mehr" nicht automatisch "besser" bedeutet.

Innerhalb der NATO ist Berlin in eine aktivere Rolle hineingewachsen, wie sie noch vor wenigen Jahren kaum vorstellbar gewesen wäre. Deutschland hat sich als eine der Rahmennationen der Very High Readiness Joint Task Force der NATO verpflichtet und baut mit Polen und Dänemark das Multinationale Korps Nord-Ost aus. Als Teil der Bemühungen der NATO, ihre Ostflanke zu stärken, wird sie zudem wahrscheinlich ein Bataillon entweder in Polen oder in den baltischen Staaten bereitstellen. Diese Schritte zeigen, dass Output mindestens genauso als Leistungsmaß geeignet ist wie der am Prozentsatz des Bruttoinlandsprodukts gemessene Input.

Das größere Engagement der Bundesrepublik innerhalb der Allianz kommt genau zum richtigen Zeitpunkt: Die US-amerikanische Öffentlichkeit wird zunehmend skeptischer hinsichtlich der gewichtigen Rolle der Vereinigten Staaten bei der Verteidigung Europas, und gleichzeitig fordern US-Politiker einen größeren Beitrag der europäischen Bündnispartner. Die Rolle, die Deutschland übernommen hat, ist ein Schritt in die richtige Richtung, und sollte andere in der Allianz dazu ermutigen, ihren eigenen Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung Europas zu erhöhen.

Russland

Unter Präsident Wladimir Putin legt Russland nach der Annexion der Krim weiterhin ein offensives Gebaren an den Tag und bereitet den NATO-Partnern zunehmend Sorge. Hinsichtlich des jeweiligen Umgangs der Vereinigten Staaten und Deutschlands mit Russland bestehen Meinungsverschiedenheiten, die sich in Politiken und Umfragen widerspiegeln. Etwa 55 Prozent der Amerikaner sind der Meinung, die Haltung der USA gegenüber Russland sei nicht hart genug, während 62 Prozent der Deutschen der Meinung sind, die Linie ihres Landes sei zu hart. Hier muss die Bundesrepublik allein über den weiteren Verlauf ihres bilateralen Verhältnisses zu Russland entscheiden.

Im Laufe der vergangenen sechs Monate ist der Ton zwischen Deutschland und Russland schärfer geworden, und die bilateralen Beziehungen sind abgekühlt. Die Bundesrepublik warf Russland eine intensive Desinformationskampagne vor, besonders nach den Angriffen auf Frauen in der Silvesternacht in Köln und der Behauptung des russischen Außenministers Sergej Lawrow, Deutschland würde das Migrationsproblem "unter den Teppich kehren".

Diese Situation wird durch die historisch engen Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Ländern noch komplizierter. Dennoch ist Kanzlerin Merkel eine der wichtigsten Stimmen in Europa, die Russland die Stirn bieten. Sie hat de facto die Führung im sogenannten Normandie-Format mit Frankreich, Russland und der Ukraine übernommen, um eine Lösung des Konflikts in der Ostukraine zu unterstützen. Zudem waren und sind die deutschen Bemühungen entscheidend, um nach der Annexion der Krim die EU-Sanktionen gegen Russland zu koordinieren und den europäischen Zusammenhalt im Nachgang der Ukraine-Krise zu wahren.

Im Sommer 2016 wird die Europäische Union erneut mit der Frage konfrontiert, ob sie die intensiven Sanktionen gegen die russische Energie-, Finanz- und Verteidigungswirtschaft nach ihrem Auslaufen im Juli verlängert. Das Ziel sollte sein, die Sanktionen nach und nach aufzuheben, da sie sich sogar auf die deutsche Volkswirtschaft nachteilig auswirken. Russland hat jedoch die Bedingungen des Minsker Abkommens noch nicht erfüllt, und Deutschland sollte daher für eine Verlängerung der Sanktionen eintreten – trotz des unvermeidlichen Widerstands von Mitgliedstaaten der Europäischen Union, in denen es wie etwa in Ungarn und Griechenland politische Parteien mit engen Beziehungen zur russischen Regierung gibt.

Naher und Mittlerer Osten

Nach wie vor stellt die Lage im Nahen und Mittleren Osten eine Herausforderung für die Vereinigten Staaten und Europa dar. Im Syrien-Konflikt ist kein Ende in Sicht, und die internationale Gemeinschaft schwankt zwischen der Unterstützung lokaler Kräfte im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) und der Vermeidung einer andauernden Verwicklung in einen weiteren langwierigen Krieg. Libyen versinkt im Chaos, und der IS nutzt die fragile Situation des Landes aus, um entlang des 190 Kilometer langen Küstenstreifens, den er kontrolliert, Anhänger zu rekrutieren und von dort aus Einsätze durchzuführen.

Im Rahmen der Anti-IS-Koalition beteiligt sich Deutschland mit 150 Einsatzkräften hauptsächlich im Irak, weitere 1200 leisten in der Türkei, Katar und Kuwait ihren Beitrag. Eines der stärksten Beispiele für die Unterstützung aus Berlin war die Entscheidung, sich an der Bewaffnung der kurdischen Peschmerga zu beteiligen. Im Kampf gegen den IS war dies ein entscheidender Schritt und zugleich ein Zeichen für eine neue, aktivere deutsche Außenpolitik. Dennoch benötigt die Koalition als Ganzes mehr, um den IS zu besiegen. Wie US-Präsident Obama bei der Eröffnung der Hannover-Messe im April 2016 unterstrich, sind die Vereinigten Staaten auf mehr Unterstützung angewiesen, um die begrenzten Gewinne der Koalition zu festigen: durch Ausbilder, um lokale Streitkräfte im Irak aufzubauen, sowie durch die Zusicherung größerer wirtschaftlicher Unterstützung für den Irak. Mit Ausnahme von Luftschlägen, die Kanzlerin Merkel für die deutsche Seite ausschließt, wird eine gesteigerte Unterstützung aus Deutschland im Irak eine Schlüsselrolle spielen.

Aufgrund der fortgesetzten Instabilität im Nahen und Mittleren Osten und in Nordafrika ist Europa derzeit mit einer Migrationsbewegung von historischem Ausmaß konfrontiert. Bislang hat die Bundesrepublik die Hauptlast dieser sogenannten Flüchtlingskrise getragen. Mehr als 1,1 Millionen Migrantinnen und Migranten, hauptsächlich aus Syrien, haben die deutsche Grenze übertreten, 442000 haben einen Asyl-Erstantrag gestellt. Auch unter enormem Druck hat Kanzlerin Merkel in einer unberechenbaren Zeit Geschick und Führungsstärke bewiesen. Sogar angesichts des Widerstands derjenigen, die mit den negativen Auswirkungen gesteigerter Migration auf Stimmenfang gehen, hat sie geschworen, keine Höchstgrenze für die Zahl der Asylsuchenden festzulegen.

Deutschland sollte diesen Pfad weiterverfolgen, um die Werte, für die die Europäische Union steht, hochzuhalten und der Antimigrationsrhetorik, die von Rechtsaußenparteien auch in der Bundesrepublik zu hören ist, etwas entgegenzusetzen. Obwohl massenhafte Migration zugegebenermaßen Schwierigkeiten mit sich bringt und Europa in vielerlei Hinsicht belastet, würden andere Länder von dieser Art von Offenheit, wie sie Deutschland zeigt, profitieren. Kurz gesagt: It is the right thing to do.

Ironischerweise gehören die USA zu denjenigen Staaten, die jene Maßstäbe nicht einhalten, die sie anderen setzen, und sich am deutschen Beispiel orientieren könnten. Durch einen sehr hitzigen Präsidentschaftswahlkampf tritt in den Vereinigten Staaten eine Antimigrationsrhetorik zutage, die teilweise der Rechtsaußenrhetorik in Europa gleicht. Es ist eine Schande, dass die USA lediglich 10000 syrische Flüchtlinge aufnehmen wollen. Deutschland und seine gleichgesinnten europäischen Nachbarn sollten die USA ermutigen, mehr zu tun.

Fazit

Für Europa ist dies eine heikle Zeit. Die ökonomische Unbeständigkeit des Kontinents und die Bedrohungen von außen gleichzeitig zu managen, erweist sich als schwierig. Durch seine Führungsstärke ist Deutschland in dieser Situation jedoch in der Lage, die europäische Einheit zu erhalten und sogar zu stärken. Das bedeutet, dass Berlin den Kurs einer aktiveren Außenpolitik durch ein gesteigertes Engagement innerhalb der NATO und der Anti-IS-Koalition sowie durch eine feste Haltung gegenüber Russland halten sollte. Gleichzeitig sind die bilateralen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten dabei von zentraler Bedeutung. Denn von ihrer Stärke hängt die Zukunft der transatlantischen Beziehungen insgesamt und des europäischen Projekts ab – sowie der damit verbundenen gemeinsamen Ziele und Werte.

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Strategy and Statecraft Program des Center for a New American Security in Washington D.C. E-Mail Link: rrizzo@cnas.org