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Suche nach Gestaltungsmacht | Deutsche Außenpolitik | bpb.de

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Suche nach Gestaltungsmacht Deutschlands Außenpolitik in Europa

Josef Janning

/ 16 Minuten zu lesen

Die Krisen der vergangenen Jahre haben Deutschland in eine Führungsrolle in Europa gehoben. Dafür scheint Deutschland inhaltlich und operativ schlecht vorbereitet, zumal dem Land in Europa eine verlässliche politische Mitte fehlt, aus der heraus es agieren kann.

Eine Rückschau auf die gut 25 Jahre seit der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 kann zu keinem anderen Resümee kommen: Die Position und Rolle Deutschlands in der europäischen und internationalen Politik hat sich grundlegend gewandelt, ebenso die Ziele und Handlungsstrategien deutscher Außenpolitik. Weder die Umbrüche in der internationalen Politik noch der Konstellationswandel in Europa wurden damals von politischen Akteuren oder Experten annähernd erfasst. Es gab Stimmen, die einen bedeutsamen Machtzuwachs Deutschlands antizipierten, doch auch sie konnten nicht vorhersehen, wie wenig die deutsche Politik tatsächlich aus diesem Zuwachs machen würde.

Während die Zahl der Vetospieler in einer Europäischen Union mit 28 Mitgliedstaaten deutlich zugenommen hat, ist die Gestaltungsmacht Deutschlands nicht mitgewachsen, mehr noch: Deutschland trifft in Europa auf eine Abgrenzungs- und Verweigerungshaltung, die sich nicht primär gegen seine politischen Ziele richtet, sondern gegen seine wahrgenommene Dominanz und den Stil des Regierungshandelns. Von "Gegenmachtbildung" zu sprechen scheint verfrüht; dafür sind die Potenziale zu begrenzt, und bislang kann der Versuch, diese durch die Mobilisierung größerer Mächte zu hebeln, nur auf Russland setzen. Verließe Großbritannien jedoch die Europäische Union im Konflikt über die Austrittsbedingungen und zöge mit Marine Le Pen eine nationalpopulistische Präsidentin in den Élysée-Palast, könnte sich das rasch ändern. Die Opposition gegen Deutschlands dominante Rolle in der Europäischen Union könnte dann unter mächtigeren Verbündeten wählen.

Dreimal deutsche Außenpolitik

Die Literatur zur Außenpolitik der Bundesrepublik im Wandel der Zeit und Konstellationen ist kaum zu überschauen. In ihren grundlegenden Analysen ist sie hingegen vergleichsweise übersichtlich. Die Verarbeitung der jüngsten Entwicklungen ist noch im Gange, dementsprechend steht eine umfassende Einordnung deutscher Außenpolitik unter den Vorzeichen einer hegemonialen Rolle in Europa – sei sie nun halb-hegemonial oder hegemonial wider Willen – noch aus. Für die Stationen auf dem Weg dorthin bietet sich jedoch ein ebenso einfacher wie aufschlussreicher Zugang, mit dem sich die wichtigen Debatten, die konzeptionellen Entwürfe und analytischen Ansätze, die wichtigsten Köpfe und die relevante Literatur erschließen lassen.

Drei Publikationen bündeln die Summe der Erforschung und Erfahrung deutscher Außenpolitik. Der Politikwissenschaftler und Zeithistoriker Hans-Peter Schwarz versammelte 1975 in einem Handbuch die Beiträge renommierter Autoren aus Wissenschaft und politischer Praxis, die sich auf dem Stand der damaligen Forschung detailliert mit Lage, Interessen und Strategien der Außenpolitik des westdeutschen Staates auf dem Höhepunkt seiner Konsolidierung befassten. Als Standardwerk wurde es in den 1990er Jahren durch die vierbändige Edition "Deutschlands neue Außenpolitik" abgelöst. Gemeinsam mit wechselnden Mitherausgebern und führenden Experten dieser Zeit unternahm es der Politikwissenschaftler Karl Kaiser, die Lage, Interessen, Strukturen, Prozesse und Strategien der Außenpolitik des vereinten Deutschlands zu vermessen.

Wenn bei Schwarz und den Autoren seines Handbuchs die deutsche Außenpolitik vor allem als durch die äußeren Rahmenbedingungen bestimmte Strategie der Eingliederung in "den Westen" dekliniert wurde, so bestimmte die Wahrnehmung des Neuen, der Umbrüche und der darin liegenden Chancen die Perspektive vieler Beiträge der neuen Reihe. Bei einem Vergleich der beiden Werke fällt eine Verschiebung bei der Bewertung der Rolle Deutschlands ins Auge: In den 1970er Jahren zielten die Handlungsempfehlungen der Autoren auf eine Mitgestaltung des vorgegebenen Rahmens, in den 1990er Jahren erstmals auch auf eine Definitions- und Gestaltungsrolle deutscher Außenpolitik.

Ein Jahrzehnt später hatte sich die Betrachtung deutscher Außenpolitik erneut gewandelt: In dem 2007 von den Politologen Siegmar Schmidt, Gunther Hellmann und Reinhard Wolf herausgegebenen Handbuch zur deutschen Außenpolitik bestimmten die Risiken und Konflikte der internationalen Politik den Tenor vieler Beiträge. Mit Blick auf Europa war die Zuversicht in die Weiterentwicklung der Integration wachsender Skepsis gewichen. Die Erwartungen an die Europäische Union hatten sich nicht erfüllt, und Rollenkonflikte ließen sich bereits erkennen, die aus dem Gewicht der Bundesrepublik in einer stagnierenden Union resultierten. Die Politik Deutschlands in Europa war "britischer" geworden im Sinne einer stärker auf die Verfolgung der Eigeninteressen gerichteten Linie. Berlins aktivere internationale Rolle wurde breit diskutiert, doch die Führungsfrage stellte sich eher am Rande. Dabei gehörte sie für die Herausgeber bereits zu den zentralen Analysemustern. In ihrer Einführung stellten Schmidt, Hellmann und Wolf explizit die von deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern überwiegend geäußerte Erwartung einer Kontinuität in der deutschen Außenpolitik nach 1990 den Positionen US-amerikanischer Neorealisten wie Kenneth Waltz oder John Mearsheimer gegenüber, für die Deutschland mit der Wiedervereinigung in den Status einer Großmacht zurückgekehrt sei und diesen Platz in einem machtbestimmten internationalen System mit der Zeit auch einnehmen werde.

Unverzichtbare Macht?

Heute hat der einstige "kranke Mann Europas" zu neuer wirtschaftlicher Stärke und einem hohen Beschäftigungsniveau gefunden, vom "Maastricht-Sünder" ist Deutschland zum "Zuchtmeister" der Währungsunion geworden, statt selbstbewusster Verweigerung wie im Irak-Krieg ergreift Deutschland ganz selbstverständlich die Initiative, sei es im Ukraine-Konflikt oder bei der Aushandlung des europäisch-türkischen Flüchtlingsabkommens.

Zu Beginn ihrer Kanzlerschaft löste Angela Merkel ihre erste Krise, die Verhandlungen über den mittelfristigen Finanzrahmen der Europäischen Union, noch mit den bewährten Mitteln ihrer Vorgänger, indem sie die Blockade durch deutsche Mehrleistungen überwand: Der Konflikt zwischen Großbritannien und Frankreich drohte zulasten der ostmitteleuropäischen Staaten auszugehen. Teil des von Merkel durchgesetzten Kompromisses war die Erklärung der Bundesregierung, zugunsten Polens auf rund 100 Millionen Euro zu verzichten, die Deutschland zustanden. Heute nutzt sie die Unerlässlichkeit deutscher Zustimmung oder Beteiligung an europäischen Initiativen innerhalb oder außerhalb der Europäischen Union zur Durchsetzung der Ziele und Präferenzen der Bundesregierung.

Diese Veränderungen haben die Debatte um die Rolle Deutschlands in der internationalen Politik drastisch zugespitzt. Die alte "deutsche Frage" nach der Verträglichkeit des Gewichts Deutschlands mit der Ordnung Europas ist zurück, seit der Teilung des Landes 1949 schärfer denn je. Diese Zuspitzung resultiert nicht nur aus den skizzierten Entwicklungen und ihren Folgen für die Europäische Union, sondern speist sich auch aus dem Wandel des internationalen Systems. Es gibt seitens der klassischen Großmächte keine ordnungspolitische Strategie mehr für Europa: Das Interesse der Vereinigten Staaten an Europa schwindet, und Deutschlands Stärke wird in Washington eher als Chance denn als Problem wahrgenommen; Russland betreibt nicht die Ordnung Europas sondern deren Relativierung; Frankreich und Großbritannien fehlt die Kraft oder der Wille, Europas Ordnung zu prägen. Die traditionelle Antwort auf das Problem der deutschen Macht in der Mitte Europas, nämlich die Durchsetzung einer Ordnung, die Deutschland seinen Platz zuweist, fällt aus.

Damit hat die Bundesrepublik es selbst in der Hand, ihre Rolle im europäischen Rahmen zu definieren. Nicht von Einkreisungsängsten oder Gegenallianzen getrieben, von Partnern umgeben und durch die Verbrechen des Nationalsozialismus vom Größenwahn geheilt, sieht der Politikwissenschaftler Herfried Münkler Deutschland als die mögliche und nötige Führungsmacht, die der europäischen Politik Richtung und Zentrum geben kann. Da eine politische Einigung Europas nach bundesstaatlichem Modell nicht zu erreichen sei, sieht Münkler mangels verfügbarer und realistischer Alternativen die Führung durch Deutschland geboten. An diesem Punkt setzt die Gegenthese an, wie sie der Germanist Hans Kundnani formuliert. Aus seiner Sicht produziert die deutsche Politik in Europa ein Paradox: Die Bundesrepublik scheint einerseits die dominante Macht zu sein und auch sein zu wollen, andererseits daraus resultierende Verantwortung und Kosten zu scheuen. Deutschland regiere Europa durch rigide Regeln und reklamiere für sich selbst eine politische Souveränität, die den eigenen Wirtschaftsinteressen Vorrang vor Werten und politischer Solidarität einräume. Ein solches Deutschland kann für Kundnani nicht führen, weil es keine Gefolgschaft findet. Der springende Punkt liege in der Weigerung Berlins, als Lösung der Euro-Krise die Staatsschulden in der Währungsunion zu vergemeinschaften – mit dieser Entscheidung sei Führung zu Beherrschung geworden.

Zwischen diesen beiden Positionen findet sich eine Vielzahl von Thesen und Entwürfen zur Rolle Deutschlands in Europa, die sich nicht leicht in ein Spektrum sortieren lassen. Die wohl augenfälligste Vokabel in dieser Debatte ist die des Hegemons. Sie prägt die englischsprachige Debatte zur deutschen Außenpolitik seit der Zuspitzung der Staatsschuldenkrise in der Europäischen Währungsunion. Die neuen politischen Bewegungen im Süden Europas haben die Vokabel bereitwillig aufgenommen, vor allem dort wird sie im vollen Wortsinn verwendet. Ansonsten ist Deutschland bestenfalls ein Hegemon mit Adjektiven. Für den Politologen William Paterson, der gemeinsam mit seinem Wissenschaftlerkollegen Simon Bulmer bereits die alte Bundesrepublik vor 1989 mit dem Bild des "Semi-Gullivers" beschrieben hatte, markiert die Euro-Krise den Wendepunkt; seither sieht er Deutschland in der Position eines "reluctant hegemon". Zur Leitvokabel wurde dieser Begriff durch die Berichterstattung des britischen "Economist", der 2013 voll des Lobes für die Kanzlerschaft Merkels das Widerstreben der deutschen Öffentlichkeit und das mangelnde Führungsverständnis der Eliten beklagte. Pragmatismus und Ordnungsidee seien die Stärken Deutschlands, die Mentalität eines Kleinstaates dagegen seine große Schwäche.

Die Gründe für das Zögern und den erkennbaren Unwillen der Bundesrepublik, die zugeschriebene Führungsrolle einzunehmen, sehen manche in der fortwirkenden historischen Erfahrung, andere im fehlenden strategischen Denken der politischen Klasse Deutschlands, wieder andere in der mangelnden Fähigkeit der deutschen Politik, die eigenen Ziele etwa in der Flüchtlingskrise auch gegen Widerstände durchzusetzen – Deutschland könne in den Worten des Historikers Ludwig Dehio mithin nur als halbhegemoniale Macht bezeichnet werden. Programmatisch gewendet führt die Analyse zum Bild von Deutschland als "benevolent hegemon", nachzulesen etwa bei dem Investor George Soros.

In der deutschen Debatte wird der Begriff des Hegemons meist vermieden, auch das Wort "Führung" wird eher nur zögerlich verwendet. Dies mag damit zusammenhängen, dass Akteure und Experten in Deutschland die Debatte vielfach als Einforderung einseitiger Zugeständnisse und Leistungen wahrnehmen. Nur wenige sorgen sich um eine deutsche "Übermacht" oder spitzen wie der "Spiegel" die internationale Wahrnehmung auf das Bild eines "Vierten Reiches" zu. Kennzeichnender sind Analysen, die die Entscheidungskonflikte deutscher Außenpolitik zwischen der europäischen Integration als Milieuziel einerseits und den politischen wie finanziellen Möglichkeiten Deutschlands andererseits herausarbeiten.

Exemplarisch für dieses Denken steht die Analyse der Politikwissenschaftlerin Daniela Schwarzer, die ein pragmatisches Herantasten Deutschlands an seine neue Rolle beschreibt. An die Stelle früherer Reflexe und fester Handlungsachsen sei mehr Varianz im deutschen Agieren festzustellen, es sei situativer und zugleich entschlossen, wenn die Umstände dies erfordern. Die Bundesregierung sei in ihrer Außenpolitik beharrlich, wenn es um die Behauptung von Positionen und Präferenzen gehe, ob in der Euro- beziehungsweise Schuldenkrise, im Ukraine-Konflikt oder in der Flüchtlingspolitik. In jeder dieser drei Krisen habe Deutschland eine führende Rolle gespielt, im eigenen Interesse und mit dem Ziel, einen bestimmten europäischen Status zu behaupten. Das Besondere an der gegenwärtigen Lage liege weniger darin, dass Deutschland eine Führungsrolle wahrnimmt, sondern in der Frage, wie sich dies längerfristiger auswirkt. Der wunde Punkt liegt für Schwarzer und viele andere aus Politik und Wissenschaft in der scheinbaren Unmöglichkeit, die Führungsleistung in eine verstärkte europäische Handlungsfähigkeit zu verwandeln und Deutschlands Führung gewissermaßen zur Vorleistung einer Vertiefung der europäischen Integration zu machen. Was der Leiter des Planungsstabes im Auswärtigen Amt Thomas Bagger als "the German moment" bezeichnet hat, die günstige Konstellation innerer wie äußerer Faktoren, könne so zum deutschen Dauerlauf werden, wenn die Stärke der Bundesrepublik nicht zu einer Stärkung der Integration führe, sondern angesichts der Schwäche der Europäischen Union zur fortdauernden Notwendigkeit werde.

Einen eigenen Strang in der deutschen Debatte bildet die Frage nach der künftigen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Deutschlands wirtschaftliches und finanzielles Übergewicht steht sein militärisches Untergewicht gegenüber – zumindest in der internationalen Wahrnehmung. Das deutsche Dilemma besteht hier in der Abwägung von Ansprüchen und Interessen: Eine größere militärische Handlungsfähigkeit könnte dazu beitragen, Deutschlands internationale Position zu balancieren, seiner Stimme mehr Gewicht verleihen und weniger finanzielle Kompensationen erfordern. Andererseits würde dies deutlich mehr Aufwendungen bedeuten sowie eine stärkere innenpolitische Konsensbildung und europäische Abstimmung; vor allem wäre jedoch eine nach innen wie außen erkennbare Bestimmung und Priorisierung der Interessen und Ziele notwendig. Vielfach weichen deutsche Politikerinnen und Politiker dieser Aufgabe durch die Verwendung des Begriffs der Verantwortung aus. Dieser impliziert, bestimmtes Handeln basiere auf der entsprechenden Pflicht statt auf einer politischen Entscheidung, sein Gebrauch beschränkt jedoch die Debatte eher, als sie zu forcieren. Der von Außenminister Frank-Walter Steinmeier 2014 initiierte "Review-Prozess" der deutschen Außenpolitik war der bewusste Versuch, dieses Muster zu durchbrechen und das Verständnis der Deutschen für Herausforderungen der internationalen Lage, die exponierte Position Europas und damit auch Deutschlands sowie die Folgen für die Instrumente und Strategien deutscher Außen- und Sicherheitspolitik zu aktualisieren.

Zögernd, unwillig und zugleich nicht gegen seinen Willen, unvorbereitet, teilweise sicherlich auch ungeübt beziehungsweise unbeholfen hat Deutschland seine neue Rolle angenommen – unsicher mit Blick auf etwaige Kosten und Folgen, unbehaglich mit Blick auf mögliche negative Reaktionen der Partner und ohne die Aussicht auf ein Ende der Sonderstellung in einer entsprechend verstärkten Europäischen Union. Deutschland ist in Europa und in manchen Bereichen auch darüber hinaus zu einer "unverzichtbaren" Macht geworden, ohne die es keine Lösung oder kein Voranschreiten gibt, was jedoch nicht heißt, mit einer Beteiligung Deutschlands wäre das eine wie das andere schon gewonnen. Die offene Frage lautet, wie Deutschland seine Anliegen und Möglichkeiten im europäischen und internationalen Kontext strategisch umsetzen kann.

Macht ohne Mitte

Es sind nicht allein die historischen Belastungen und die finanziellen Nutzenerwägungen, aus denen die Zurückhaltung der Deutschen gegenüber einer führenden Rolle in der europäischen Politik resultiert. Mindestens drei weitere Aspekte sind mitentscheidend.

Erstens das Problem der Vermittlung nach innen: Der Appell an Größe und Würde verfängt nicht in einer eher nüchternen Nation wie der deutschen. Die aus Paris oder London zu hörende pathetische Rhetorik würde in Deutschland eher Argwohn als Zustimmung erzeugen. Dies hat die Bundeskanzlerin zuletzt mit ihrer Beschwörung der Leistungsfähigkeit Deutschlands in der Flüchtlingskrise erfahren. Die Rezeption und Wirkung ihrer humanitären Position übersteigt in vielen Partnerländern vermutlich die Wertschätzung, die ihrer Haltung in Deutschland selbst entgegengebracht wird. Der Politologe Thorsten Benner bezeichnete die Bundesrepublik in diesem Zusammenhang als "liberalen Hegemon" – wirksam könnte normative Vormachtstellung jedoch nur dann werden, wenn sie im Inneren weitgehend mitgetragen wird, und dies ist in Deutschland wohl nicht der Fall.

Zweitens die Lage der Welt: Mit Blick auf das internationale System, das sich derzeit in Unordnung befindet und in dem Regeln, Werte und Prozesse der Staatenwelt infrage gestellt werden, scheint der Zeitpunkt schlecht für Deutschland zu sein, um eine größere Rolle einzunehmen. Von ihrer Grundeinstellung und ihren Möglichkeiten her ist die Bundesrepublik eine Belohnungsmacht, die positive Entwicklungen und Potenziale verstärken und verstetigen möchte. In der Außenpolitik bevorzugt sie Win-win-Situationen und vertrauensvolle Beziehungen, möchte Chancen nutzen, statt Risiken zu kontrollieren oder einzudämmen. Auch wenn es Aufmerksamkeit und in gewissem Maße Einfluss verspricht, als Machtakteur in einem machtpolitisch bestimmten internationalen System wahrgenommen zu werden, würde die politische Klasse in Deutschland lieber das Management globaler Interdependenzen betreiben. Hier sähe sich Deutschland mit seiner europäischen Erfahrung und Stellung in der Europäischen Union besser aufgestellt als in der Geopolitik der Großmächte.

Drittens die außenpolitische Kultur: Deutschland widerstrebt die Exponiertheit und Einsamkeit einer führenden Rolle. Macht hat im politischen Denken hierzulande den Zweck, in einer guten Ordnung aufzugehen. Die Begründung deutscher Macht und Führung liegt daher im Bestreben, die Europäische Union zum Träger und Garanten einer solchen Ordnung zu machen. Wenn zu diesem Zweck das Interesse der Nachbarn, Deutschlands Macht europäisch zu binden, genutzt werden kann, ist dies nur im Sinne der Bundesrepublik – diese Logik führte seinerzeit Bundeskanzler Helmut Kohl und seinen Außenminister Hans-Dietrich Genscher nach Maastricht. Trotz zahlreicher Bemühungen hat die europäische Integration diese Erwartung Deutschlands seitdem enttäuscht. Wie es in der Bilanz des "Review-Prozesses" implizit festgehalten wurde, fehlt der Europäischen Union die Stärke, um aus der Stärke Deutschlands Nutzen zu ziehen.

Doch Deutschland fehlt viel mehr, denn ihm ist das Ziel abhandengekommen, das seine Macht legitimiert: Wozu sollte Deutschland seine militärischen Mittel stärken und Aktionsräume ausweiten, wenn nicht als Teil der Herstellung europäischer Verteidigungsfähigkeit? Gedacht als nationale Kapazität bliebe sie bestenfalls drittklassig und böte dennoch Grund genug zur politischen Abgrenzung seitens der Nachbarstaaten. Wozu sollte Deutschland Vorleistungen bei der Aufnahme von Flüchtlingen erbringen, wenn nicht als Teil einer europäischen Gesamtlösung? Die Integrität des Binnenraumes und der Vorrang gemeinsamer Lösungen rechtfertigen aus deutscher Sicht diese Belastung. Wozu sollte Deutschland Milliardenkredite im Euro-Raum verbürgen, wenn es nicht darum ginge, die Integrität des Regelwerks der Wirtschafts- und Währungsunion zu wahren?

Diese Fragen markieren die eigentlichen Probleme einer politischen Führung durch Deutschland in Europa. Das erste Problem liegt in der ordnungspolitischen Orthodoxie des deutschen Denkens, das auf die Strukturierung, Institutionalisierung und Verregelung versteift ist und Anreize und Werbung sowie Umwege und Umarmungen vernachlässigt, aber auch die Wirkung eines Vorbildes. Statt beispielsweise Gesellschaften und Regierungen im Süden der Europäischen Union mit Reformpartnerschaften, der Bereitstellung von Hilfen und Belohnungen zu gewinnen, glauben deutsche Politiker größtenteils an die Steuerungsleistung makropolitischer Zielwerte. Diese sind zwar nicht falsch, doch es erweist sich als Schwäche zu glauben, die Durchsetzung der Regeln reiche aus. Ähnlich gestaltet sich die Situation bei der Frage der europäischen Verteidigung: Eine große Lösung in Form europäischer Streitkräfte scheint noch in ferner Zukunft zu liegen. Statt darauf zu warten, könnte die Bundesrepublik schrittweise an einer kleinen Lösung arbeiten, etwa durch die Integration der eigenen Streitkräfte mit denen Polens und anderer Nachbarstaaten. Keiner der anderen großen EU-Staaten könnte praktische Schritte der Streitkräfteintegration besser leisten als Deutschland, wo die Strukturprobleme der kleineren Nachbarländer besser gesehen und verstanden werden als in Paris oder London.

Das zweite Problem liegt im Verlust verlässlicher Koalitionspartner. Die Europäische Union hat sich in den Stufen ihrer Erweiterung verändert, heute erscheint sie politisch fragmentiert und von Nutzenerwartungen dominiert. Diese Entwicklung wurde lange vernachlässigt, denn sie trug dazu bei, Deutschlands Rolle unter den großen EU-Staaten zu unterstreichen. Die gewachsene Zahl kleinerer Mitgliedstaaten und das Streben der Großen nach Bewahrung ihres Gewichts verstärkten jedoch nicht den supranationalen Impuls. Ganz im Gegenteil dominiert heute die Verhinderungsmacht, während die Gestaltungsmacht im System der Europäischen Union verkümmert. Zwar kann Deutschland als Vetospieler in nahezu jedem Politikbereich Entscheidungen verzögern oder behindern und so Lenkungswirkungen erzeugen, seine Fähigkeit, zu gestalten, sowie zu politischer und institutioneller Innovation ist jedoch bescheiden. Der wesentliche Milieufaktor früherer Phasen der Europapolitik, das Agieren im Rahmen einer Konsensgruppe aus größeren und kleineren Staaten, wurde nicht konsequent gepflegt und hat stark an Bedeutung und Wirkung eingebüßt. Deutschland will, wie Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen sagte, aus der Mitte führen, doch taugt die Maxime nicht als geografische Metapher. Mitte heißt hier, aus einem politischen Zentrum heraus zu führen, das nur in einem Kreis gleichgesinnter Regierungen entstehen kann, die ebenso wie die Bundesrepublik die Europäische Union zur Sicherung und Vertretung ihrer Interessen einsetzen wollen. Diesen Kreis muss Deutschland ins Leben rufen und pflegen und die eigenen Ideen und Ziele dort vermitteln und schärfen. In diesem Rahmen kann und muss Deutschland integrieren, statt zu dominieren.

Aus seiner Studie zum Ersten Weltkrieg hat Herfried Münkler geschlossen, dass eine Macht in der Mitte es sich kaum erlauben könne, Fehler zu machen. Darin liegt die Herausforderung deutscher Außenpolitik in Europa: Ob Deutschland es versteht, eine politische Mitte zu schaffen und zu bewahren, und nicht darin, ob Deutschland die Zentralmacht Europas ist.

ist Politikwissenschaftler und leitet das Berliner Büro des European Council on Foreign Relations. E-Mail Link: josef.janning@ecfr.eu