Willkommenskultur durch "Schicksalsvergleich"
Die deutsche Vertreibungserinnerung in der Flüchtlingsdebatte
Stephan Scholz
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Vergleiche mit "Flucht und Vertreibung" der Deutschen sind ein neues Phänomen in der Zuwanderungsdebatte und Folge einer veränderten Erinnerungskultur. Sie können sich als integrative Ressource für die Migrationsgesellschaft bei der Bewältigung gegenwärtiger und zukünftiger Herausforderungen erweisen.
Die Fremdlinge sollst du nicht bedrängen und bedrücken; denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen." Dieses Bibelzitat war im September 2015 auf einem großformatigen Plakat vor dem Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zu lesen (Abbildung 1). Kombiniert war der Text mit einem Schwarz-Weiß-Foto eines Flüchtlingstrecks mit der Angabe "Walternienburg, 1945". Als Teil einer Kampagne der Evangelischen Kirche im Rheinland sollte das Plakat über den historischen Bezug zu eigenen Fluchterfahrungen zu einem humanen Umgang mit Flüchtlingen der Gegenwart aufrufen.
Dieselbe Absicht war mit einer Plakataktion der Stadt Leipzig verbunden. Im Oktober 2015 ließ die Stadtverwaltung ein Banner an die Fassade des Rathauses anbringen, das ohne jeden Textzusatz zwei Fotografien nebeneinanderstellte, in deren Zentrum jeweils eine Frau mit Kind in einer Ruinenlandschaft zu sehen war (Abbildung 2). Das linke Foto war in Danzig 1945 entstanden, das rechte im syrischen Kobane 2015. Die Stadtverwaltung ging davon aus, dass die Bilder allgemein bekannt waren: "Das eine aus dem Schulbuch, das andere aus den Nachrichten." Allein die visuelle Verknüpfung ähnlicher Bildmotive sollte hier eine Analogie zwischen "Flucht und Vertreibung" der Deutschen am Ende und infolge des Zweiten Weltkriegs und aktuellen Fluchtbewegungen herstellen und durch Rückgriff auf die historische Erinnerung für Toleranz und Empathie gegenüber Flüchtlingen in der Gegenwart werben.
Es ist wohl kein Zufall, dass gerade Kirchen und Kommunen über diesen historischen Bezug an das Mitgefühl der deutschen Bevölkerung appellieren. Sowohl bei der Aufnahme der deutschen Vertriebenen vor 70 Jahren als auch gegenwärtig gehören sie zu den wichtigsten Akteuren bei der praktischen Bewältigung des stark angestiegenen Zuzugs von Flüchtlingen. Auch für die Motivation vieler Ehrenamtlicher in der Flüchtlingshilfe ist der historische Bezug, der vielfach auch ein persönlicher ist, offenbar von Bedeutung. Fast ein Drittel gibt an, selbst einen familiären "Vertreibungshintergrund" zu besitzen – ein deutlich höherer Wert als der entsprechende Anteil in der Gesamtbevölkerung, der bei einem Viertel liegt. Aber auch über den Kreis der familiär selbst Betroffenen hinaus hat sich in weiten Teilen der Gesellschaft eine Willkommenshaltung herausgebildet, in der immer wieder auch Analogien zu den deutschen Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg gezogen wurden.
Abbildung 2: Banner am Leipziger Rathaus, Oktober 2015
Empathie durch Erinnerung?
Am prominentesten zog Bundespräsident Joachim Gauck diese Analogie in seiner Rede zum nationalen "Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung", der erstmals im Sommer 2015 begangen wurde. Die große Koalition hatte den Gedenktag 2014 auf Initiative des Bunds der Vertriebenen (BdV) nach langjährigen und kontroversen Diskussionen beschlossen und bewusst auf den Weltflüchtlingstag der Vereinten Nationen am 20. Juni gelegt, um an die historische Erinnerung auch Gegenwartsbezüge knüpfen zu können. Darüber hinaus legten auch die steigenden Flüchtlingszahlen im Sommer 2015 eine Verbindung nahe.
Aus der zentralen Gedenkrede des Bundespräsidenten zitierten die Medien am häufigsten seinen Wunsch "die Erinnerung an die geflüchteten und vertriebenen Menschen von damals könnte unser Verständnis für geflüchtete und vertriebene Menschen von heute vertiefen". Gauck bezeichnete die heutigen Flüchtlinge als "Nachfahren der Vertriebenen bei Kriegsende" und betonte, dass "die Schicksale von damals und die Schicksale von heute" auf eine "ganz existenzielle Weise" zusammengehörten. Der von Gauck angestellte "Schicksalsvergleich" kam in der Gedenkveranstaltung auch darin zum Ausdruck, dass seiner Rede die Erlebnisberichte zweier Frauen folgten, die von ihrer Vertreibung beziehungsweise Flucht aus dem Sudetenland 1945 und aus Somalia 2012 erzählten. Ähnlich choreografiert waren seit dem "‚Migrationssommer‘ 2015" zahlreiche zivilgesellschaftlich organisierte Veranstaltungen auf lokaler Ebene. Vielerorts gaben deutsche Vertriebene und geflüchtete Zuwanderer Auskunft über ihr "Schicksal Flucht" (so der Titel einer Veranstaltung in Oldenburg im September 2015) und boten damit die Möglichkeit, Gemeinsamkeiten und Unterschiede abzuwägen.
Auch in den Medien wurden seitdem häufig "Schicksalsvergleiche" angestellt. "Hört sich an wie das Schicksal einer Syrerin, oder? Es ist aber die Geschichte von Gertrude Weißenborn, die 1945 aus Königsberg flieht", hieß es etwa in einer Sendung der Reihe "Letzter Ausweg Flucht" des Rundfunks Berlin-Brandenburg, in der im Hinblick auf die heutige Flüchtlingsdebatte historische Texte von Deutschen mit Flucht- und Migrationserfahrung vorgelesen wurden. Und der Bundesvorsitzende der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Bernd Posselt, sprach im September 2015 von den in Europa zu verteilenden Flüchtlingen als "Schicksalsgefährten" der deutschen Vertriebenen, wenn er auch betonte, dass man die Vertreibung beider Gruppen nicht völlig gleichsetzen könne.
Diese Bereitschaft zum "Schicksalsvergleich" mit aktuellen Flüchtlingen ist ein neues Phänomen. Noch zu Beginn der 1990er Jahre, als die Zahl der Asylsuchenden in Deutschland schon einmal stark angestiegen war, war es vollkommen unüblich, die deutsche Erfahrung von "Flucht und Vertreibung" zu den Erfahrungen aktueller Flüchtlinge und Zuwanderer ins Verhältnis zu setzen. Der Volkskundler Albrecht Lehmann, der zu dieser Zeit den erzählenden Umgang von deutschen Vertriebenen mit ihrer Vertreibungserfahrung untersuchte, konnte damals kaum "Schicksalsvergleiche" mit zuwandernden Flüchtlingen feststellen. Er rief Mitte der 1990er Jahre dazu auf, stärker eine solche vergleichende Perspektive einzunehmen, um "in der Öffentlichkeit das Bewusstsein am Leben zu erhalten oder zu wecken, daß es in diesem Jahrhundert schon einmal gelungen ist, die Situation eines teils friedlichen teils konfliktreichen Kulturkontakts im Kontext einer Masseneinwanderung im Interesse beider Gruppen erfolgreich zu bestehen". Auch der Migrationsforscher Klaus J. Bade beklagte Anfang der 1990er Jahre "die fehlende Verbindung von historischen Erfahrungen und aktuellen Problemen". Sowohl Lehmanns Appell als auch Bades Kritik blieben damals jedoch weitgehend ungehört und wirkungslos.
Dabei hatten "Schicksalsvergleiche" in der bundesdeutschen Erinnerung an die erzwungene Migration aus dem Osten am Ende und infolge des Zweiten Weltkriegs immer wieder eine Rolle gespielt, sich aber kaum einmal auf ausländische Zuwanderer bezogen. Dass heute eine derartige Bereitschaft zum Vergleich existiert und zu einer neuen Form der Willkommenshaltung gegenüber Geflüchteten beiträgt, ist Folge einer jüngeren Entwicklung in der deutschen Erinnerungskultur, die sich seit der Jahrtausendwende vollzogen hat.
Vertriebene, Einheimische und "andere" Opfer
Bereits zu Beginn des deutschen Erinnerns an "Flucht und Vertreibung" wurden "Schicksalsvergleiche" angestellt. Dominant war in den ersten Nachkriegsjahren bis in die 1960er Jahre hinein der Vergleich von Vertriebenen und Einheimischen. In konfliktträchtiger Weise wurden insbesondere die erlittenen Kriegsverluste und der daraus resultierende Opferstatus gegeneinander aufgerechnet, sodass es vielfach zu einer veritablen, von Neid geprägten Opferkonkurrenz kam. Innerhalb der deutschen Bevölkerung war das Gefühl verbreitet, zu dem auch kulturelle und sprachliche Differenzen beitrugen, "zwei getrennten Schicksalsgemeinschaften" anzugehören.
Um diesem Gefühl entgegenzuwirken, hoben Politik und Vertriebenenverbände in der Bundesrepublik immer wieder die nationale Zusammengehörigkeit von Einheimischen und Vertriebenen hervor. Die Betonung des deutschen Charakters der Vertriebenen und ihrer Herkunftsgebiete hatte nicht nur ein revisionistisches, sondern auch ein integratives Ziel. Der deutschlandpolitische Revisionismus in Bezug auf die Ostgrenze diente zwei Jahrzehnte lang auch dazu, die Gesellschaft ideologisch zu einen. Gleichzeitig stellte er die Integration der Vertriebenen unter den Vorbehalt einer möglichen Rückkehr und wirkte insofern wieder desintegrativ.
Das langfristig am stärksten einigende Band zwischen Einheimischen und Vertriebenen bestand jedoch aus dem frühzeitig postulierten Narrativ des gemeinsamen Wiederaufbaus im Rahmen des Mythos vom "Wirtschaftswunder" und aus dem staatlich forcierten Ideologem einer erfolgreichen Integration. Beides überlagerte bestehende oder empfundene Unterschiede und führte tatsächlich zu einem wachsenden Zusammengehörigkeitsgefühl, sodass in den 1980er Jahren "Schicksalsvergleiche" zwischen Einheimischen und Vertriebenen auch rückblickend kaum noch angestellt wurden.
Dem Gegensatz zwischen Einheimischen und Vertriebenen wurde in den 1950er Jahren auch dadurch begegnet, dass "Flucht und Vertreibung" zu einem wichtigen Baustein deutscher Opferidentität wurde. Die Konstruktion einer deutschen Kriegsopfergemeinschaft führte Verlusterfahrungen unterschiedlicher Art in einem nationalen Opfernarrativ zusammen, das den Zweiten Weltkrieg zu einer schicksalhaften Erfahrung des gesamten deutschen Volkes verklärte und etwaige Unterschiede überbrücken sollte. Im Rahmen dieser Opferstilisierung, in der die Zwangsmigration aus dem Osten nunmehr eine zentrale Rolle spielte, war in der Frühzeit der Bundesrepublik ein weiterer "Schicksalsvergleich" durchaus üblich: Der Vergleich zwischen Vertriebenen und NS-Opfern, insbesondere den Juden.
In der "Charta der deutschen Heimatvertriebenen" von 1950, die von den Vertriebenenverbänden bis heute als ihr "Grundgesetz" betrachtet wird, erklärten sie die deutschen Vertriebenen zu den "vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen". Andere Opfergruppen, die damit in einer imaginären Opferhierarchie auf die hinteren Plätze verwiesen wurden, wurden nicht genannt. Der Soziologe und Doyen der westdeutschen Vertriebenenforschung Eugen Lemberg äußerte sich im selben Jahr direkter: "Was Juden durch Deutsche zugefügt wurde, ist diesen von Tschechen und Polen widerfahren." Lemberg brachte damit eine weit verbreitete Ansicht zum Ausdruck, nach der zwischen der Vernichtung der Juden und der Vertreibung der Deutschen kein großer Unterschied bestand. Auch SPD-Abgeordnete bezeichneten die Vertreibung im Bundestag Mitte der 1950er Jahre noch selbstverständlich und ohne Anstoß zu erregen als "Völkermord". Mit der Vertreibung der Deutschen hatte nach der Rechnung Vieler zu dieser Zeit bereits ein Schuldausgleich stattgefunden.
Seit den 1970er Jahren veränderte sich die gesellschaftliche Erinnerung an "Flucht und Vertreibung" im Zuge einer stärkeren Hinwendung zu den NS-Opfern und Bewusstwerdung der deutschen Täterschaft sowie einer auf Annäherung setzenden Neuen Ostpolitik, die eine faktische Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze mit sich brachte. Die Fokussierung auf die eigenen Kriegsopfer und damit auch auf die Vertriebenen nahm ab. Die deutsche Zwangsmigration wurde stärker in den Kontext des von Deutschland verantworteten Zweiten Weltkriegs eingebettet und als dessen unmittelbare Folge betrachtet. Der "Schicksalsvergleich" mit den NS-Opfern galt zunehmend als unangemessen und als ein Instrument der Schuldabwehr.
Treffend zum Ausdruck brachte Bundespräsident Richard von Weizsäcker diesen Wandel in der Erinnerung in seiner Rede zum 8. Mai 1985. Er erklärte, dass die Ursachen von "Flucht und Vertreibung" nicht am Ende, sondern am Anfang des Kriegs zu suchen seien und am Beginn "jener Gewaltherrschaft, die zum Kriege führte". Gleichwohl blieb im Erinnerungsmilieu der Vertriebenenverbände und der konservativen Parteien der früher gepflegte Vertreibungsdiskurs bis zur Wiedervereinigung weitgehend erhalten. Der BdV erklärte etwa anlässlich der TV-Serie "Holocaust" 1980, die Vertreibung könne "in ihrem Grauen auch als Holocaust bezeichnet werden".
Neues Opferbewusstsein
Die Wiedervereinigung von 1990 führte mit der endgültigen Grenzanerkennung zunächst zu einer Entpolitisierung der Vertreibungserinnerung, die auch einem eher linksliberalen Erinnerungsmilieu eine neue Annäherung an das Thema ermöglichte. Nachdem die Nachkriegszeit nun endgültig beendet und die Tätervergangenheit aufgearbeitet zu sein schien, kam es in der Berliner Republik zu einer erneuten Hinwendung breiter gesellschaftlicher Kreise zu den deutschen Kriegsopfern, zunächst zu den Luftkriegstoten und dann zu den Vertriebenen. Die Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien regten Ende der 1990er Jahre zu einem weiteren "Schicksalsvergleich" an, in dem die deutschen Vertriebenen nun rückblickend ebenfalls als Opfer "ethnischer Säuberungen" erschienen.
Das Konstrukt eines "Jahrhunderts der ethnischen Säuberungen" löste die Vertreibungserinnerung aus dem ursächlichen Kontext des Zweiten Weltkriegs und ließ Vertreibung und Völkermord wieder näher aneinanderrücken. Die Initiatoren des vieldiskutierten "Zentrums gegen Vertreibungen" nannten die Vertreibung rundheraus einen "Genozid". Der Holocaust bildete in der gesellschaftlichen Debatte nun den allgegenwärtigen Bezugspunkt im Hintergrund, während direkte Vergleiche eher mit anderen Genoziden, vor allem mit dem Völkermord an den Armeniern, gezogen wurden.
Nach der Jahrtausendwende führten medienwirksam platzierte Bestseller wie "Der Krebsgang" von Günter Grass, mehrteilige TV-Dokumentationen und Blockbuster wie "Die Flucht" oder "Die Gustloff" zu einem neuen Opferbewusstsein. Den Vertriebenen wurde im Hinblick auf ihre Diskriminierungserfahrungen in der Nachkriegszeit nun oftmals ein "doppelter Opferstatus" zugesprochen. Auch in dieser Hinsicht kam es wieder zu "Schicksalsvergleichen", wenn etwa der Historiker Andreas Kossert in seinem Sachbuch-Bestseller "Kalte Heimat" von einem "Rassismus" gegen Vertriebene aus dem Osten schrieb, gegen die nach 1945 gehetzt worden sei wie "zuvor gegen Juden und Slawen".
Der neue Erinnerungsboom nach der Jahrtausendwende etablierte eine einfühlende Perspektive auf die Deutschen als Opfer von Vertreibungen, die an einen universalen Menschenrechtsdiskurs anknüpfte und das Schicksal der Betroffenen in das Zentrum rückte, während die historischen Kontexte an Bedeutung verloren. Nicht von ungefähr wurden im visuellen Gedächtnis nun Bilder von Frauen und Kindern zu Ikonen von "Flucht und Vertreibung". Gerade über die visuelle Ebene hat diese neue opferzentrierte Erinnerungskultur aber auch das Fundament für eine aufgeschlossene und mitfühlende Haltung gegenüber dem Leid heutiger Flüchtlinge gelegt, für eine Bereitschaft zur Identifizierung und zum "Schicksalsvergleich".
"Flucht und Vertreibung" als Migrationsgeschichte?
Die neue Bereitschaft zum "Schicksalsvergleich" mit zuwandernden Flüchtlingen löst die Erinnerung an "Flucht und Vertreibung" aus dem Kontext eines "Jahrhunderts ethnischer Säuberungen", in dem sie als tendenziell "genozidales Verbrechen" erinnert wird. Sie überführt sie stärker in den Kontext der deutschen Migrationsgeschichte, in dem sie auch als Zwangsmigration in vielfältigen Beziehungen zu anderen historischen, aber auch gegenwärtigen Migrationsphänomenen steht. Das ist eine neue Entwicklung, die von Seiten der Migrationswissenschaft schon lange gefordert wird, der aber Vertriebenenverbände und Teile der Politik und Geschichtswissenschaft bis heute mit Skepsis gegenüberstehen.
Der BdV lehnt einen Vergleich der deutschen Vertriebenen mit zuwandernden ausländischen Migranten traditionell ab. Er betont dagegen zum einen den Zwangscharakter von "Flucht und Vertreibung" und zum anderen die nationale Zugehörigkeit der deutschen Vertriebenen. Ursprünglich war dies ein Reflex auf Diskriminierungserfahrungen und Vorbehalte der einheimischen Bevölkerung. Bereits der Zuzug der ausländischen "Gastarbeiter" seit den 1960er Jahren hatte die Möglichkeit geboten, den Staffelstab der auf der sozialen Leiter unten stehenden Neuankömmlinge weiterzugeben und sich in Abgrenzung von diesen als Teil einer national homogen gedachten Gesellschaft zu etablieren. In der jüngsten Zeit bröckelt dieser Vorbehalt jedoch, seitdem die Verbände bemerkt haben, dass das Flüchtlingsthema auch das Interesse an der Geschichte der deutschen Vertriebenen befördert und ihnen neue Anerkennung verschafft. Der BdV fordert heute, Flüchtlingen mit Mitgefühl zu begegnen, um gleichzeitig auf die mangelnde Empathie zu verweisen, die den deutschen Vertriebenen einst entgegengebracht worden sei.
In der Politik sind es vor allem konservative Kreise und insbesondere die CSU, die immer wieder hervorheben, dass die deutschen Vertriebenen und Spätaussiedler "nicht Migranten, sondern Deutsche" seien, und damit vor allem nationale Differenzen betonen. Der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Horst Seehofer wies den Vergleich mit heutigen Zuwanderern in der Gedenktagsrede des Bundespräsidenten 2015 umgehend zurück und demonstrierte mit dem Verweis auf das vermeintliche Problem eines "massenhaften Asylmissbrauchs" ein generelles Misstrauen gegenüber zuwandernden Flüchtlingen. Auch manche Historiker, die in den vergangenen Jahren eine Einordnung von "Flucht und Vertreibung" in den Kontext eines "Jahrhunderts der ethnischen Säuberungen" forciert haben, warnen, ein Vergleich mit heutigen Flüchtlingen führe "nicht nur in die Irre, er ist auch falsch".
Der Schriftsteller Arno Surminski verwies in einem Interview kürzlich auf die Frage nach den Bezügen zwischen der deutschen Zwangsmigration und der heutigen Flüchtlingsbewegung auf die aus seiner Sicht entscheidende Differenz: "die Angst vor den Fremden. (…) Diese Angst ist der große Unterschied." In der historischen Forschung wurden für die frühe Bundesrepublik aber durchaus große Überfremdungsängste der einheimischen Bevölkerung gegenüber den Vertriebenen festgestellt. Lehmann hat bereits Mitte der 1990er Jahre auch im Hinblick auf diese Ängste eine vergleichende Perspektive angemahnt, um im historischen Abgleich zu "verallgemeinerbaren Erkenntnissen über Akkulturationsprozesse" zu kommen, indem sowohl Ursachen als auch mögliche Lösungen für diese Ängste identifiziert würden.
Für die zukünftige Migrationsgesellschaft liegt in einer migrationshistorisch vergleichenden Perspektive, die den heute vielfach gezogenen "Schicksalsvergleich" ernst nimmt und ihn über die bloße Erfahrungsebene der Betroffenen hinaus auf einen Gesellschaftsvergleich ausdehnt, ein erhebliches Potenzial. Vor allem bei sozialen Problemen der Integration sowie in ihrer diskursiven Deutung bestehen Gemeinsamkeiten. Die deutsche Zuwanderungserfahrung ist ein wichtiges Kulturgut, das im Prozess der historischen Rückversicherung für den Umgang mit heutigen Zuwanderern und die Integration der Gesellschaft erschlossen und nutzbar gemacht werden sollte.
Die Geschichte der deutschen "Flucht und Vertreibung" sollte daher stärker in eine umfassende Migrationsgeschichte eingebettet und als solche in das allgemeine Bewusstsein der Gesellschaft gerufen werden. Dies könnte auch Anknüpfungspunkte für die steigende Zahl der Nachkommen nichtdeutscher Zuwanderer für diesen Teil deutscher Geschichte bieten und dazu beitragen, "der Falle einer einseitig nationalen Betrachtung oder eines auf die Opferperspektive verengten Diskurses zu entgehen". Bei aller gebotenen Berücksichtigung der Besonderheiten der deutschen Zwangsmigration, insbesondere auch ihrer Verursachung durch die deutsche Kriegspolitik, besitzt die migationshistorische Perspektive ein erhebliches integratives Potenzial bei der Bewältigung gegenwärtiger und zukünftiger Herausforderungen. Dieses Potenzial sollte nicht verschenkt, sondern fruchtbar gemacht werden.
Dr. phil. habil., geb. 1971; Privatdozent, Institut für Geschichte, Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg, Ammerländer Heerstraße 114–118, 26111 Oldenburg. E-Mail Link: stephan.scholz@uni-oldenburg.de