Migration, Flucht und Asyl sind zentrale Themen der gegenwärtigen öffentlichen Debatte in Deutschland und Europa. Angesichts der tagesaktuellen Krisenbewältigung gerät die historische Tiefendimension von Migrationsbewegungen dabei oftmals aus dem Blick. Waren Ostasien und Europa am Ende des Zweiten Weltkriegs die Regionen, von denen die größten Flüchtlingsbewegungen ausgingen,
Der Beitrag konzentriert sich auf die Diskurse, Akteure und Praktiken des globalen Flüchtlingsregimes im Kontext des Afghanistankriegs, der bis Ende der 1980er Jahre mehr als drei Millionen Afghanen nach Pakistan und 2,2 Millionen in den Iran fliehen ließ.
Im Folgenden wird zunächst die zeitgenössische politische Konstellation im Nahen und Mittleren Osten skizziert. Nach einer Analyse der im Untersuchungszeitraum auf globaler Ebene geführten flüchtlingspolitischen Diskurse und ihrer normativen Grundlagen werden die beteiligten Akteure, ihre Interessen, Motive und Strategien herausgearbeitet, um anschließend deren politische und humanitäre Praktiken vor Ort in den Blick zu nehmen.
Der Nahe und Mittlere Osten als Krisenregion
Ende der 1970er Jahre geriet der Nahe und Mittlere Osten auf die internationale Tagesordnung. Ursächlich hierfür waren globale und regionale, zum Teil weit zurückreichende Konfliktpotenziale: erstens die bipolare Blockstruktur der internationalen Beziehungen entlang der Trennlinien des Kalten Kriegs; zweitens die Erschließung der Ölquellen in den Golfstaaten bei gleichzeitig wachsender energiepolitischer Abhängigkeit der westlichen Industriestaaten; drittens die Nachwirkungen der Entkolonialisierung der nach dem Zweiten Weltkrieg unabhängig gewordenen Staaten der Region und als eine ihrer wirkmächtigen Folgen die Entstehung des sogenannten arabischen Nationalismus; und schließlich viertens die zunehmende gesellschaftliche und politische Islamisierung weiter Teile des Nahen und Mittleren Ostens. Diese verschiedenen Konfliktstränge bündelten sich in unterschiedlicher Intensität in vier Spannungsherden, die die Region Ende der 1970er Jahre zu einer der bis heute gefährlichsten Krisenregionen der Welt werden ließen.
Als erster dieser Spannungsherde ist der israelisch-palästinensische Konflikt zu nennen, der sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in mehreren Wellen zu einem langfristigen, strukturellen Konflikt entwickelte.
Damit ist bereits der zweite Konfliktherd benannt. Mit dem Sturz des Schahs im Frühjahr 1979 und der Ausrufung der "Islamischen Republik" durch Ayatollah Khomeini verlor der Westen auf Jahrzehnte einen wichtigen Verbündeten und Öllieferanten in der Region.
Dieser dritte Spannungsherd eskalierte im September 1980, als Bagdad die – durch den politischen Umsturz ausgelöste – innenpolitische Schwächeperiode Teherans zu einem Angriffskrieg gegen den Iran nutzte.
Dieser vierte Spannungsherd, der seit Ende der 1970er Jahre gärende Afghanistan-Konflikt, entwickelte sich mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen im Dezember 1979 zu einer veritablen internationalen Krise und trug dazu bei, die Ära der Entspannung in einen "Zweiten Kalten Krieg" münden zu lassen.
Der anschließende Bürgerkrieg zwischen den von Moskau unterstützten afghanischen Regierungstruppen einerseits und den afghanischen Aufständischen andererseits führte zu einer wellenartig verlaufenden Massenfluchtbewegung in die Nachbarstaaten – neben dem Iran vor allem Pakistan. Waren Ende 1979 bereits über 400.000 Afghanen nach Pakistan geflohen, stieg ihre Zahl bis 1988 auf mehr als drei Millionen an.
Pakistan als das Zielland Nummer eins für afghanische Flüchtlinge hatte selbst mit schwerwiegenden innen-, außen- und sicherheitspolitischen Problemen zu kämpfen. Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende der britischen Kolonialherrschaft war Pakistan 1947 ohne Rücksicht auf ethnische und religiöse Strukturen als unabhängiger Staat gegründet und 1956 zur Islamischen Republik erklärt worden. Der Bezug auf die Religion konnte jedoch weder die fehlende nationale Identität ersetzen noch die chronische Instabilität der politischen Verhältnisse oder separatistische Bestrebungen einzelner Landesteile eindämmen. Die Geschichte Pakistans ist daher bis zum heutigen Tag von einem Wechsel zwischen demokratischen und diktatorischen Phasen geprägt. 1977 putschte General Mohammed Zia-ul-Haq in Islamabad und leitete damit die dritte Militärdiktatur ein, die erst 1988 durch eine weitere demokratische Periode abgelöst werden sollte.
Außenpolitisch bestanden an der Westgrenze Pakistans mit der "Paschtunen-Frage" ethnische Konflikte mit Afghanistan.
Normen und Diskurse
Ein Blick auf die internationalen Debatten um Flüchtlingspolitik in den 1980er Jahren und die darin erkennbaren Normen, Prinzipien und Argumentationslogiken führt zu einem hochinteressanten, zweifachen Befund:
Erstens diskutierte die internationale Gemeinschaft im Rahmen der UN-Generalversammlung wie auch der Gremien des Hohen Flüchtlingskommissars (UNHCR) eine Initiative der Bundesregierung zur "Internationalen Zusammenarbeit zur Vermeidung neuer Flüchtlingsströme". Der vom Auswärtigen Amt Ende 1980 eingebrachte Resolutionsentwurf zielte darauf ab, von der bisherigen Politik einer humanitären "Flüchtlingsbehandlung zu einer Politik der Flüchtlingsverhinderung überzugehen. (…) Das Flüchtlingsproblem muss daher an seiner Wurzel gepackt werden."
Zweitens wurde parallel dazu in den Gremien der NATO, der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) und der internationalen, sowjetischen und osteuropäischen Presseberichterstattung die afghanische Flüchtlingsfrage diskutiert. Die westlichen Verbündeten, aber auch die Mitgliedstaaten der OIC, die mit Ausnahme der Türkei alle der Bewegung der Blockfreien angehörten, teilten die gemeinsame Bedrohungswahrnehmung eines aggressiven sowjetischen Expansionsdrangs im Mittleren Osten. Diese Perzeption wurde mit dem medienwirksamen Bild der flüchtenden afghanischen Bevölkerung verknüpft und Moskau zum gemeinsamen Feind stilisiert. Die so konstruierte Interessenidentität erzeugte das Bild des passiven afghanischen Flüchtlings als Opfer des sozialistischen Weltmachtanspruchs.
Diskutiert wurden in diesem Zusammenhang humanitäre Hilfsmaßnahmen für die pakistanischen Flüchtlingslager ebenso wie die politische und materielle Unterstützung der dort ansässigen Afghanen, die militärischen Widerstand gegen das Kabuler Regime und die sowjetischen Truppen leisteten. Die Argumente, mit denen für solche Maßnahmen geworben wurde, unterschieden sich allerdings und folgten dem jeweiligen politischen Wertekanon der Protagonisten. So goss die OIC ihre Appelle in die Formel der islamischen Solidarität und rief ihre Mitgliedstaaten im Namen des Islam zu humanitären Hilfsleistungen für die Flüchtlinge und zur finanziellen Unterstützung eines "Heiligen Kriegs" gegen den atheistischen Sozialismus auf.
Unversehens hatte sich damit das Bild des zivilen afghanischen Flüchtlings als Opfer militärischer Auseinandersetzungen zu einer Stilisierung desselben als zentralem Akteur eines globalen Machtkampfs gewandelt. Die aktive Rolle der nach Pakistan geflohenen Afghanen dominierte auch die sowjetische und osteuropäische Propaganda – nicht zuletzt, da Moskau selbst Konfliktpartei dieses Bürgerkriegs war. Humanitäre Hilfsmaßnahmen für die "angeblichen afghanischen Flüchtlinge", bei denen es sich in Wahrheit um von der CIA gesteuerten "konterrevolutionären Abschaum" handle, sah Moskau als Beleg für die westliche Einmischung in die inneren Angelegenheiten Afghanistans an.
Insgesamt lässt sich konstatieren, dass die internationalen Debatten um eine strukturelle, präventive Bekämpfung der Fluchtursachen einerseits und diejenigen um den spezifischen Fall der afghanischen Flüchtlinge andererseits parallel von denselben Akteuren, jedoch getrennt geführt wurden und keinerlei diskursive Schnittmengen aufwiesen. Dies erscheint umso paradoxer, als der Nahe und Mittlere Osten bis heute zu den Regionen der Welt zählt, die die meisten Flüchtlinge hervorbringen.
Akteure, Interessen, Strategien
Zu den Akteuren des globalen Flüchtlingsregimes gehört an prominentester Stelle der nach Ende des Zweiten Weltkriegs gegründete UNHCR. Sein auf Basis der Genfer Flüchtlingskonvention
Diese Bandbreite zeigte sich auch in Pakistan, wo der UNHCR seit 1979 seine bis dahin größte Operation verwirklichte.
Eine zweite wichtige Akteursgruppe sind inter- und transnational agierende humanitäre Hilfsorganisationen unterschiedlichster Couleur. In Pakistan waren neben der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung zahlreiche NGOs wie beispielsweise der British Council for Aid to Refugees, Médicins sans Frontières oder das Swedish Afghanistan Committee tätig. Auch in der Bundesrepublik entstanden etliche Organisationen, die sich auf Hilfsprogramme für die afghanischen Flüchtlinge in Pakistan spezialisierten und bei der Einwerbung von Spendengeldern miteinander konkurrierten. Eine herausgehobene Rolle nahm die von der Otto-Benecke-Stiftung (OBS) initiierte und durch Abgeordnete aller im Bundestag vertretenen Parteien sowie Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kirchen 1981 gegründete Organisation "HELP. Hilfe zur Selbsthilfe e.V." ein. Sie übernahm die Aufgabe, durch öffentlichkeitswirksame Maßnahmen Spenden privater Geldgeber sowie Mittel aus dem Bundeshaushalt zu akquirieren und mit diesen Geldern die Tätigkeit des Bonner Vereins für Afghanische Flüchtlingshilfe (VAF) zu unterstützen. Letzterer rekrutierte seine Mitglieder überwiegend aus in Westdeutschland ansässigen Exilafghanen und war darüber hinaus durch Personalunion eng mit OBS und HELP verbunden. In den pakistanischen Flüchtlingslagern wurde der VAF unter dem Namen Union Aid for Afghan Refugees tätig und erhielt erhebliche öffentliche Mittel für seine humanitären Hilfsprogramme.
Damit ist bereits auf eine dritte einflussreiche Akteursgruppe verwiesen: die Geldgeber weltweiter Flüchtlingshilfe, insbesondere Geberstaaten und -staatenverbünde wie die Europäische Gemeinschaft. Über ihre Eigenschaft als Spender hinaus treten diese auch in ihrer Verbindung zum UNHCR (etwa als Mitglieder in dessen Exekutivkomitee) und anderen Organisationen in Erscheinung, aber auch über bilaterale Verträge mit den Herkunfts- und Aufnahmeländern. In globalpolitisch relevanten Kriegen wie in Afghanistan vergrößern einzelne Staaten als direkte oder indirekte Konfliktpartei zudem die ohnehin bereits komplexen Akteurskonstellationen.
Für das Gastland Pakistan gestaltete sich die Einrichtung und Unterhaltung der Flüchtlingscamps, die überwiegend im 2500 Kilometer langen Grenzgebiet zu Afghanistan angesiedelt waren und deren Anzahl im Laufe der Jahre 300 überstieg, finanziell und infrastrukturell ausgesprochen schwierig. Hinzu kam, dass die oftmals nur schwer zugängliche Bergregion in die sogenannten Tribal Areas, die überwiegend von Paschtunen besiedelten, mit umfassenden Autonomierechten ausgestatteten Stammesgebiete, fiel und den Handlungsspielraum der Zentralgewalt in Islamabad zum Teil empfindlich einschränkte. Die Regierung Zia sah sich deshalb gezwungen, ein Hilfeersuchen an den UNHCR zu richten und um Unterstützung der internationalen Gemeinschaft bei der Versorgung der Flüchtlinge zu bitten.
Gleichwohl profitierte das Land außenpolitisch vom Afghanistankonflikt, schließlich bildete Pakistan für den Westen seither den wichtigsten Ansprechpartner für eine Stabilisierung der Region und die Eindämmung der sowjetischen Expansion. So stockten die NATO-Mitgliedstaaten ihre Militär- und Entwicklungshilfe an Islamabad substanziell auf und nahmen die von Zia gewünschten Umschuldungsverhandlungen auf, um den pakistanischen Staatshaushalt zu entlasten.
Last but not least sind die Flüchtlinge selbst zu nennen, die durch ihre Migration die Aktivitäten des globalen Flüchtlingsregimes ins Rollen bringen. Dabei agieren sie keineswegs nur als namenlose, passive Empfänger humanitärer Hilfe, wie das afghanisch-pakistanische Beispiel besonders deutlich illustriert. Etliche Flüchtlinge organisierten sich in antisozialistischen, überwiegend radikal-islamisch ausgerichteten Gruppen, die in Pakistan als politische Exilparteien zugelassen wurden und in den dortigen Camps einen Rückzugsort für ihren bewaffneten Widerstand gegen das Kabuler Regime fanden. In diesem Sinne spielten die afghanischen Bürgerkriegsflüchtlinge, von Peter Gatrell als "refugee warrior community"
Flüchtlingspolitische Praktiken
Flüchtlingslager sind bis heute die weltweit vorherrschende Form, in der Flüchtlinge offiziell untergebracht, humanitär versorgt und verwaltet werden.
Was bedeutet dies für das Beispiel afghanischer Flüchtlingscamps in Pakistan? Die größte Herausforderung für den UNHCR bildete die Einrichtung beziehungsweise Instandhaltung der Camps sowie die logistische Organisation von Transport und Verteilung der Hilfsgüter in den zum Teil schwer zugänglichen Lagern. Im Vordergrund standen dabei zunächst Programme der Nothilfe zum physischen Schutz der Ankommenden, ihre Versorgung mit Zelten, Medikamenten, Nahrungsmitteln, Trinkwasser und Kleidung sowie die Einrichtung sanitärer Anlagen; später wurden auch Programme zur beruflichen Ausbildung aufgelegt. Für einen reibungslosen Ablauf war die enge Kooperation mit den pakistanischen Behörden notwendig, ohne deren Genehmigung der UNHCR kaum Handlungsspielräume besaß. Zu diesen bürokratischen Hindernissen kam die zwingend erforderliche Koordination mit anderen Hilfsorganisationen, um Chaos und Doppelarbeit zu vermeiden.
Ein grundlegendes Problem, dem sich alle beteiligten Hilfsorganisationen ausgesetzt sahen, bildete die von Islamabad ausgegebene Weisung, dass nur diejenigen Flüchtlinge Anspruch auf Hilfsleistungen hatten, die sich unter einer der sieben in Peshawar ansässigen afghanischen Widerstandsparteien registrieren ließen.
Allerdings blieben UNHCR und NGOs gleichermaßen auf die Spendenbereitschaft ihrer Geberstaaten angewiesen, die – da die Sowjetunion Kriegspartei war – überwiegend aus dem westlichen Lager stammten und große Sympathien für die antisozialistischen Widerstandsbewegungen hegten.
Fazit
Am Beispiel der afghanischen Fluchtbewegung nach Pakistan konnten grundlegende Diskurse, Akteure und Praktiken des globalen Flüchtlingsregimes herausgearbeitet werden.
Erstens zeigten die in den 1980er Jahren geführten Debatten der internationalen Gemeinschaft, dass die Frage unmittelbarer humanitärer Soforthilfe für afghanische Flüchtlinge nahezu ausschließlich entlang der Argumentationslinien des Kalten Kriegs diskutiert wurde. Die zeitgleich verhandelte UN-Initiative der Bundesregierung zur Vermeidung neuer Flüchtlingsströme durch die Bekämpfung der Fluchtursachen – eine auch im aktuellen politischen Diskurs allgegenwärtige Forderung – erhob die Flüchtlingsfrage zum gemeinsamen Weltordnungsproblem der Industrie- und Entwicklungsländer. Eine diskursive Verbindung zur humanitären und vor allem militärischen Unterstützung der islamistischen Widerstandsgruppen in pakistanischen Flüchtlingslagern, die das Ziel der Bekämpfung von Zwangsmigration sichtbar konterkarierte, wurde indes nicht hergestellt.
Zweitens konnte die komplexe, netzwerkartige Akteurskonstellation des Flüchtlingsregimes skizziert werden, die durch gegenseitige Abhängigkeits-, Konkurrenz- und Kooperationsverhältnisse sowie divergierende Interessen gekennzeichnet war.
Drittens verdeutlicht die Praxis flüchtlingsbezogenen Handelns in den Afghan Refugee Villages eindrücklich das humanitäre und politische Dilemma vieler Hilfsorganisationen und staatlicher Akteure bei der Ausübung ihres Mandats in bewaffneten Konflikten.
Die Struktur der internationalen Beziehungen hat sich seit dem Ende des Kalten Kriegs gewandelt. Gleichwohl steht die internationale Flüchtlingspolitik heute vor ähnlichen Problemstellungen. Eine intensive Auseinandersetzung mit den Diskursen, Akteuren und Praktiken des globalen Flüchtlingsregimes, das sich im Nahen und Mittleren Osten seit den späten 1970er Jahren herausbildete, ist angesichts der aktuellen, durch Bürgerkrieg und Terrorismus ausgelösten Fluchtbewegung nach Europa deshalb dringender denn je.