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Religion und Flucht im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa | Flucht historisch | bpb.de

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Religion und Flucht im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa

Susanne Lachenicht

/ 18 Minuten zu lesen

In der Regel versuchten spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Staaten einen religiös beziehungsweise konfessionell einheitlichen Untertanenverband zu schaffen. Verfolgung aus religiösen Gründen löste vom 14. bis 18. Jahrhundert vielfältige Fluchtbewegungen aus.

Flucht und Migration gab es in der Zeit zwischen dem ausgehenden 14. und dem späten 18. Jahrhundert in unterschiedlichen Kontexten: klimatisch oder durch Umweltkatastrophen bedingt, durch Kriege oder Bürgerkriege verursacht, Flucht vor Unfreiheit (vor Leibeigenschaft, Sklaverei oder Soldatenpressen) sowie Flucht vor Verfolgung aufgrund von religiös-konfessionellen, teilweise auch ethnisch-religiösen Zugehörigkeiten, um die es in diesem Beitrag geht.

In der Regel versuchten spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Staaten einen religiös beziehungsweise konfessionell einheitlichen Untertanenverband zu schaffen, um über die "Kanzel" Kontrolle über die "Gewissen" ihrer Untertanen beziehungsweise im sozialen Bereich ausüben zu können. Die jeweilige "Staatsreligion" und ihre Institutionen waren eng mit dem weltlichen Fürsten verbunden beziehungsweise gingen in geistlichen Fürstentümern und in vielen protestantischen Territorien in einer Hand zusammen. Verfolgt wurden Andersgläubige, weil man sie als Gefahr für Staat und Kirche, für Orthodoxie und gesellschaftlichen Frieden sah. Dies änderte sich erst mit der Etablierung von Glaubens- und Religionsfreiheit mit der Amerikanischen beziehungsweise Französischen Revolution im 18. Jahrhundert. Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Staaten hatten allerdings dann Interesse an Andersgläubigen, wenn diese wirtschaftlich, militärisch, geopolitisch oder demografisch von Nutzen schienen. Utilitaristische Motive spielten bei der Aufnahme von Andersgläubigen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit eine entscheidende Rolle für Staats- und Imperienbildung und Merkantilismus.

Fluchtbewegungen bis Ende des 18. Jahrhunderts

Die Verfolgung und Ausweisung von Juden seit der Zeit der Kreuzzüge gehört zu den bekanntesten Beispielen für erzwungene Migrationen im Europa der Vormoderne, der Zeit zwischen etwa dem 6. und dem späten 18. Jahrhundert. Oft weniger bekannt ist die Ausweisung der Sepharden 1492, das heißt von auf der iberischen Halbinsel lebenden Juden. Im Zuge der Reconquista, der "Rückeroberung" des heutigen Spanien und Portugal durch christliche Fürsten und die Verdrängung maurischer, das heißt muslimischer, Herrscher wurde 1492 Granada als letztes Kalifat auf der iberischen Halbinsel beseitigt. Im gleichen Jahr, in dem Christopher Columbus Amerika "entdeckte", erließen die "Allerkatholischsten Könige", Isabella von Kastilien und ihr Ehemann Ferdinand von Aragon, das sogenannte Alhambraedikt, das sämtlichen in ihren Herrschaftsgebieten lebenden Juden vorschrieb, diese zu verlassen, sollten sie nicht zum christlichen Glauben konvertieren. Etwa 150.000 bis 165.000 Sepharden verließen die spanischen Territorien und siedelten sich in Portugal, Nordafrika und dem östlichen Mittelmeerraum an, der seit der Eroberung von Konstantinopel 1453 unter osmanischer Herrschaft stand.

Die muslimischen Untertanen der spanischen Kronen verblieben zunächst auf der iberischen Halbinsel. Sie wurden systematisch erst im frühen 17. Jahrhundert vertrieben beziehungsweise teilweise zwangsdeportiert, insgesamt 270.000 bis 300.000 sogenannte Morisken. Die zweite sephardische Diaspora entstand, als 1580 Portugal unter die Herrschaft Philipps II. von Spanien kam. Diese Sepharden, die sogenannten Portugiesen, siedelten sich unter anderem in Bordeaux und Aquitanien, Amsterdam, London, Hamburg und größeren Teilen der atlantischen Welt an, in den Kolonien Englands, Frankreichs und der Niederlande in Übersee, unter anderem in der Karibik, in Westafrika, in Surinam und in den Carolinas. Auch andere Glaubensgemeinschaften wurden im Spätmittelalter für ihren Glauben verfolgt, mussten fliehen oder wurden zwangsdeportiert: christliche "Ketzer" wie die Albigenser oder die Anhänger der Protoreformatoren John Wycliffe (etwa 1330–1384), die Lollarden, und Jan Hus (etwa 1369–1415), die Hussiten.

Mit der Reformation nahm die Verfolgung und Flucht Andersgläubiger in Europa bislang unbekannte Ausmaße an. Die Angst vor Häresien und ihren Auswirkungen nicht nur auf die "Rechtgläubigen" und ihre Kirchen, sondern auch auf frühneuzeitliche Staaten und ihre Herrscher führte dazu, dass zwischen dem frühen 16. und dem späten 18. Jahrhundert Tausende von Menschen vertrieben wurden beziehungsweise vor Verfolgung flohen, unter anderem Täufer, Hutterer, Mennoniten, Wallonen, Hugenotten, niederländische Katholiken, Puritaner, Quäker, Böhmen, Herrnhuter, Salzburger Protestanten, Protestanten aus der Steiermark und aus Kärnten, katholische Akadier (heutiges Nova Scotia/Kanada), French Prophets und Shaker.

Zu den bekanntesten Massakern an "Häretikern" gehört jenes an den Hugenotten in der "Bartholomäusnacht" von 1572. Anlässlich der Hochzeit des Protestanten Heinrich von Navarra mit der französischen Königstochter Margarete von Valois in Paris befanden sich Tausende von Anhängern Heinrichs, calvinistische Protestanten – Hugenotten – in der Stadt. Diese wurden zusammen mit einem ihrer wichtigsten Führer, dem Admiral Gaspard de Coligny, ermordet. In der Zeit der Hugenottenkriege in Frankreich, in die dieses Massaker fällt, die Jahre zwischen 1562 und 1598 (1629), verließen zwischen 10.000 und 30.000 Hugenotten Frankreich und fanden Schutz im protestantischen England, den calvinistisch werdenden nördlichen Niederlanden und den reformierten Kantonen der Eidgenossenschaft, teilweise auch in der Kurpfalz. Als Ludwig XIV. 1685 im Edikt von Fontainebleau den Protestantismus und seine Institutionen im katholischen Frankreich verbot, verließen etwa 150.000 bis 200.000 weitere Hugenotten trotz Auswanderungsverbot das Land und emigrierten in die reformierten Schweizer Kantone, nach England, in die nördlichen Niederlande, die Kurpfalz, Brandenburg-Preußen, Schweden, Surinam, Südafrika, die britischen Kolonien in Nordamerika, aber auch nach Irland. Aus den 1581 entstehenden Vereinigten Provinzen der Niederlande flohen Tausende von Katholiken, aus den Spanischen Niederlanden (dem heutigen Belgien) zwischen 1568 und 1648 60.000 bis 150.000 Protestanten, die sich im nördlichen Nachbarland, England, der Kurpfalz und Brandenburg-Preußen ansiedelten.

Mit dem Westfälischen Frieden von 1648 bekamen die Territorien im Reich das bereits 1555 lutherischen und katholischen Reichsfürsten und -städten gewährte ius reformandi erneut zuerkannt, das nun auch für calvinistische Reichsstände galt. Dieses ius reformandi erlaubte es dem Landesherrn, die Konfession all seiner Untertanen zu bestimmen. Denjenigen, die nicht diesen Glauben annehmen wollten, stand theoretisch ein Auswanderungsrecht (ius emigrandi) zu, von dem beispielsweise böhmische Protestanten Gebrauch machten, die nach Preußen und Sachsen auswanderten.

Ab den 1620er Jahren verließen radikale Anglikaner, die sogenannten Puritaner, England, um in den englischen Kolonien in Nordamerika, in Plymouth, Rhode Island und Boston neue Gemeinwesen zu errichten. In den 1630er Jahren folgten englische Katholiken, die in der Kolonie Maryland angesiedelt wurden, und ab den 1650er Jahren Presbyterianer und Quäker, die nach 1680 eine dauerhafte Bleibe in Pennsylvania fanden. In den 1730er Jahren wurden aus den Gebieten der österreichischen Habsburger "Kryptoprotestanten" (versteckte Religionsausübung bei offizieller Annahme des katholischen Glaubens) deportiert. Der Fürstbischof von Salzburg wies "seine" Protestanten aus, die in Preußen und der britischen Kolonie Georgia in Nordamerika eine neue Heimat fanden. Radikale Pietisten, die Herrnhuter, wurden aus Sachsen vertrieben und fanden Aufnahme unter anderem in Pennsylvania, Surinam und im russischen Zarenreich. Letzteres nahm im späten 18. Jahrhundert auch preußische Mennoniten auf. Zwischen 1755 und 1763 deportierten die Briten katholisch-französische Akadier aus Nova Scotia und siedelten diese in anderen Teilen des britischen Empire an.

Aufnahmegründe

Warum nahmen europäische Städte, Provinzen und Staaten beziehungsweise deren Kolonien Flüchtlinge auf, warum gewährten sie Asyl, selbst wenn diese Flüchtlinge aus der Perspektive der Aufnahmestaaten oft keine "Rechtgläubigen" waren? Christliche Barmherzigkeit war ein Grund, der Regierungen in der Frühen Neuzeit dazu bewegte, Flüchtlinge aufzunehmen. Aufnahmepolitik war aber auch häufig von utilitaristischen Motiven geleitet, ökonomischen, geopolitischen, demografischen, militärischen und konfessionell-religiösen. Diese Motive lassen sich oft nicht klar voneinander trennen beziehungsweise bedingten sich gegenseitig.

Christliche Barmherzigkeit war in der Frühen Neuzeit meist konfessionalisiert. Calvinistische Städte und Staaten organisierten Kollekten für verfolgte Calvinisten, Lutheraner taten das Gleiche für lutherische Brüder und Schwestern. Frankreich, Spanien und die italienischen Staaten nahmen nach den jakobitischen Kriegen des späten 17. Jahrhunderts irische und englische Katholiken auf. Trotz der Differenzen zwischen Calvinisten und Lutheranern beziehungsweise anglikanischen Calvinisten und schottischen Presbyterianern entwickelte sich spätestens in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die "Protestantische Internationale", nicht zuletzt um die "katholische Hydra", Frankreich und Spanien, gemeinsam zu besiegen. In der Regierungszeit Elisabeths I. wurde England zur Schutzmacht des Protestantismus in Europa, eine Rolle, die Wilhelm von Oranien in den 1680er Jahren übernahm. Nichtanglikanische Protestanten vom europäischen Kontinent fanden Schutz und Asyl in England und seinen Kolonien in Übersee. Zwischen 1709 und 1712 nahm England beispielsweise lutherische Pfälzer auf und siedelte einen Teil von ihnen in Irland und dem heutigen Staat New York an. Lutherische Territorien wie Württemberg, Brandenburg-Bayreuth oder Kursachsen nahmen auch Calvinisten auf.

Christliche Barmherzigkeit gab es durchaus auch für nichtchristliche Flüchtlinge. So meinte 1616 der niederländische Theologe und Rechtsgelehrte Hugo Grotius (1583–1645) zwar, dass die Aufnahme von Tausenden von Juden die Existenz der jungen niederländischen Republik bedrohen würde, betonte aber im gleichen Atemzug, dass die niederländischen Calvinisten trotzdem aus Barmherzigkeit, Liebe und Vergebung aschkenasische und sephardische Juden aufnehmen müssten.

Bei der Gewährung von Asyl beziehungsweise Aufnahmeprivilegien spielten in der Frühen Neuzeit wirtschaftliche Interessen und Erwartungen eine große Rolle. Von der Aufnahme von Sepharden erhofften sich die jungen Vereinigten Niederlande vor allem Vorteile und Profite aus deren Handelsnetzwerken, ebenso England, etwa bei der Ansiedlung von Sepharden auf Jamaika ab den 1650er Jahren. Sephardische Juden wurden so "agents and victims of Empire". Sephardische beziehungsweise Conversos-Netzwerke verbanden Räume, Menschen und Güter miteinander: europäische, amerikanische, afrikanische und asiatische Welten, jüdische, christliche, muslimische, indigene amerikanische und afrikanische Kulturen. Sepharden wurden durch ihre Netzwerke zu "cross-cultural brokers par excellence". Sie waren zwischen Marokko, der afrikanischen Westküste, der Levante, Brasilien und der Karibik wichtige Akteure im Sklaven- und Zuckerhandel, für Indigo, Tabak, Reis, später dann auch Tee und Kaffee – Netzwerke, in die spätestens ab den 1680er Jahren Hugenotten hineinstießen. Von Letzteren erwarteten sich europäische Fürsten nach 1685 Innovationen im Bereich Textil und Luxuswaren – ein Impetus, der in Brandenburg-Preußen oder auch in Brandenburg-Bayreuth lange auf sich warten ließ, da die Absatzmärkte für Luxuswaren dort zu klein waren. Trotz großzügiger Unterstützung durch die preußischen Landesherren gingen viele französische Manufakturisten bankrott. In den britischen Kolonien in Nordamerika hoffte man durch die Ansiedlung von Hugenotten auf Wein, Oliven und Seidenraupen, um von Importen aus Spanien und Portugal unabhängig zu werden.

Eng mit der wirtschaftlichen "Nutzbarmachung" von Flüchtlingen verbunden war die Absicht der expandierenden europäischen Staaten, der imperial states, Andersgläubige an der frontier (der Grenze) der entstehenden Imperien in Südost- und Osteuropa und in Übersee anzusiedeln. England versuchte, vor allem europäische (und nicht nur die eigenen) Nonkonformisten (Nichtanglikaner) in den entstehenden britischen Kolonien anzusiedeln: irische Katholiken, schottische Presbyterianer, deutsche Lutheraner, französische Hugenotten, deutsche und niederländische Mennoniten, Herrnhuter, aschkenasische und sephardische Juden, die dabei helfen sollten, die britische frontier gegen Indigene ("Indianer"), aber auch gegen konkurrierende europäische Imperien wie Spanien oder Frankreich zu sichern. Einladungsschreiben an verfolgte Protestanten des katholischen Europa waren mit weitreichenden Privilegien, aber auch großen Erwartungen im Hinblick auf Landesausbau und Kolonisierung verbunden.

Einige Fürsten in Europa entschieden sich auch für interne Kolonisation, so etwa der Kurfürst von Brandenburg, der bereits ab den 1640er Jahren Niederländer, Schweizer und Hugenotten ins Land holte, um die Repeuplierung des Lands nach den Verheerungen des Dreißigjährigen Kriegs voranzutreiben und um sich niederländisches Wissen in Sachen Trockenlegung von Sümpfen und Deichbau ins Land zu holen beziehungsweise das Manufakturwesen voranzutreiben. Auch das russische Zarenreich gewährte Glaubensflüchtlingen Asyl – zur Kolonisierung Sibiriens, der Wolga- und der Schwarzmeerregion. Unter den etwa 20000 Deutschen, die zwischen 1763 und 1766 in Russland angesiedelt wurden, fanden sich Herrnhuter Glaubensflüchtlinge. In den 1780er Jahren wurden Mennoniten aus Danzig und Ostpreußen in Russland angesiedelt.

Eng mit Landesausbau und Kolonisierung verbunden war die militärische Sicherung von Grenzen. Gerade in Irland, Großbritanniens ältester Kolonie, wurden ab den 1590er Jahren englische Siedler in der Provinz Munster, ab 1607 auch in Ulster nicht zuletzt aus militärischem Interesse angesiedelt. In den 1690er Jahren folgten hugenottische Offiziere und Soldaten in militärstrategisch wichtigen Städten wie Dublin, Portarlington, Youghal, Belfast, Waterford und Kilkenny. Ähnliches galt für Salzburger Protestanten in Georgia, die eigene Milizen zur Verteidigung ihrer Siedlungen gründen sollten. Solche Arrangements finden sich auch mit mennonitischen und Herrnhuter Siedlungen im russischen Zarenreich. Während des Interregnums in England (1649–1660) waren es die Sepharden, die Oliver Cromwell bei seinem "Western Design" (Versuch, die spanischen Kolonien in der Karibik unter englische Herrschaft zu bringen) mit militärischer Expertise unterstützten und 30 Jahre später die Armeen Wilhelms von Oranien mit Militär- und Versorgungsgütern ausstatteten.

Asylgewährung

Was bedeutete es in der Frühen Neuzeit, als Flüchtling Asyl zu bekommen? Asyl meinte temporär oder dauerhaft gewährte Privilegien, die Individuen oder Gruppen zugestanden wurden und auf den ersten Blick oft sehr heterogen zu sein schienen. Ein komparativer Blick auf Asyl und Aufnahmeprivilegien zeigt jedoch – bei aller Diversität – Ähnlichkeiten: Gruppen von Flüchtlingen beziehungsweise Immigranten wurden im Europa der Frühen Neuzeit und in den Kolonien meist als separate Glaubensgemeinschaften angesiedelt. Die Verwaltung dieser "Fremdengemeinden" lag meist in der Hand der "Fremden" selbst und schloss neben der Organisation des religiös-konfessionellen Lebens Bildungs- und Sozialsysteme mit ein. In einigen Fällen wurde diesen Gemeinden auch ein eigenes Recht, eine eigene Jurisdiktion und Miliz, oft auch ein eigener Siedlungsraum zugestanden, dies vor allem dann, wenn Flüchtlinge an der frontier angesiedelt wurden. Für Asyl gewährende Staaten implizierte dies, dass sich die Fremdengemeinden weitgehend eigenständig um die Angehörigen ihrer "Nation" zu kümmern hatten beziehungsweise für diese in solidum gegenüber den Aufnahmestaaten zu haften hatten. Was man mit dem anachronistischen Begriff des Outsourcing beschreiben könnte, war frühneuzeitliche Rationalität: Bereiche, in denen die Kirchen verantwortlich für ihre Mitglieder waren, wurden auch an die Fremdengemeinden übertragen: Bildungswesen, Soziales, einschließlich Kranken-, Alten- und Armenversorgung, Sozial- und Familienrecht, soziale Kontrolle und Sozialdisziplinierung.

Das, was in der Forschung als ethnisch-religiöse Enklave, Sondergemeinschaft oder "fremde Nation" im frühneuzeitlichen Staat einschließlich seiner Kolonien beschrieben wird, war also bei der Gewährung von Asyl der Normalfall, wobei die Separatrechte dieser Enklaven unterschiedlich weit gingen und an der Peripherie eines Imperiums in der Regel weiter reichten als in der Metropole. Während sich beispielsweise Fremdengemeinden im England des 16. bis 18. Jahrhunderts englischem Recht und dem englischen Magistrat unterstellen, ab der Mitte des 16. Jahrhunderts einen Suprematseid schwören und sich offiziell der anglikanischen Bischofskirche unterwerfen mussten, gestaltete sich die ethnisch-religiöse Enklave an den Grenzen des ersten britischen Weltreichs, in den Provinzen und Städten der Niederlande und im Frankreich Ludwigs XIV. anders.

Presbyterianische Schotten wurden in Rotterdam in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts als ethnische Enklave mit korporativem Status und eigenen Kirchen etabliert. In Amsterdam entwickelte der Magistrat ein ähnliches Modell für die sephardische Gemeinschaft. Die als "portugiesische Nation" bezeichneten Sepharden behandelten die Stadtväter als religiöse und ethnische Enklave. Sie gestatteten ihnen in der zweiten Dekade des 17. Jahrhunderts, eine Synagoge zu errichten. In den 1620er Jahren bekam die sephardische Gemeinde eine eigene Verwaltung, die sich um das religiöse Leben, Armenfürsorge, Steuereinziehung, koscheres Schächten und die Vertretung der sephardischen Gemeinschaft gegenüber dem Rat der Stadt kümmerte.

Auch in Frankreich gab es in Bordeaux eine sephardische Gemeinde – von den königlichen Autoritäten als nation bezeichnet –, die nach einem Amsterdam ähnlichen Modell angesiedelt und mit Privilegien ausgestattet worden war. Sie hatte eigene Synagogen, eine interne Administration, Badehäuser, ein Erziehungs- und Schulwesen, eine Sonderbesteuerung, Armenfürsorge und eine eigene Jurisdiktion für religiöse und soziale Belange.

Welche Rolle spielten Flüchtlinge, wenn es um die Gewährung von Asyl und Aufnahmeprivilegien ging? Weniger der einzelne Flüchtling als für ihren Glauben verfolgte Gruppen beziehungsweise das, was in der Diasporaforschung als gate-keeper bezeichnet wird – Pastoren, Priester, militärische Führer, Kaufmannsfamilien, Rabbis, Imame –, hatten bei der Aushandlung von Asyl eine nicht zu unterschätzende Rolle inne.

Als conditio sine qua non galt der Schutz beziehungsweise die Aufrechterhaltung des Bekenntnisses, für das die Flüchtlinge in ihrer Heimat verfolgt worden waren. Das, was man heute als ethnische beziehungsweise religiöse Identität bezeichnen würde, sollte durch Strukturen geschützt werden, die zunächst eine Binnenintegration der Flüchtlinge und die "Bewahrung" von Glaube und Identität hervorbringen sollten. Anders gesagt, die ethnisch-religiöse Enklave entsprach den Zielen der gate-keeper von Glaubensflüchtlingen. Mit dem Pochen auf Sonderrechten der Fremdengemeinden gingen Versuche einher, parallel eine Gleichstellung mit anderen Untertanen zu erreichen. Denization oder Naturalisierung wurden im ersten britischen Empire auf der individuellen Ebene wichtig, ebenso der Erwerb der Bürgerschaft beispielsweise in Amsterdam oder Rotterdam bei gleichzeitiger Integration in die ethnisch-religiösen Enklaven.

Auffallend ist die genaue Kenntnis der gate-keeper von Glaubensflüchtlingen, was anderen Flüchtlingen zuvor gewährte Privilegien anging. Vor allem das Edikt von Potsdam von 1685 wurde zu einem maßgeblichen Dokument, an dem sich Asyl- beziehungsweise Privilegienforderungen nicht nur von Hugenotten, sondern auch von anderen Flüchtlingen orientierten. Das Edikt gewährte Hugenotten die Etablierung von "Colonien" mit eigenen Kirchen, Schulen, einer eigenen Jurisdiktion in Colonieangelegenheiten, eigenem Recht, Steuerfreiheit für zehn Jahre, Land und Baumaterialien, Finanzhilfen beim Aufbau von Handwerksbetrieben und Manufakturen. Vom Dienst im Militär und Einquartierungen waren sie befreit; Glaubensfreiheit wurde gewährt. Allerdings mussten die brandenburgischen Hugenotten den Kurfürsten als geistliches Oberhaupt ihrer Kirchen anerkennen – was ebenso wie in England eigentlich gegen französisch-reformierte Prinzipien der Kirchenhierarchie verstieß. Hugenotten bildeten so die nation française im brandenburgisch-preußischen Staat, wie dies immer wieder die Dekrete des Landesfürsten betonten.

Auf diese einmal für Brandenburg gewährten Privilegien beriefen sich nicht nur Hugenotten, als sie die englische Krone 1685 um Aufnahmeprivilegien baten, in der "Humble proposition faite au Roye et à son Parlément pour donner retraite aux étrangers protestants et aux prosélites dans ses Colonies de l’Amérique et surtout en Caroline". In Irland hingegen forderten Hugenotten dieselben Privilegien ein, die Schotten und Engländern ab 1607 im Zuge der "Ulster Plantation" gewährt worden waren. Als 1709 Schweizer Protestanten in den britischen Kolonien in Nordamerika angesiedelt worden waren, beriefen sie sich wiederum auf die Privilegien der Hugenotten, die diesen knapp 20 Jahre zuvor zugestanden worden waren.

Die "State Papers" der Könige von England sind voll von Petitionen unterschiedlichster protestantischer Flüchtlingsgruppen, in denen Privilegien gefordert und der Wert der Flüchtlinge für Wirtschaft, Kultur, Militär oder Landesausbau der potenziellen Aufnahmestaaten deutlich gemacht werden soll: Hugenotten warben für sich mit ihrer kulturellen Überlegenheit, mit ihrem Handwerks- oder Manufakturwesen, Sepharden mit ökonomischen Netzwerken, ebenso wie presbyterianische Schotten oder Schweizer Calvinisten. Im Fall der "Declaration of Hampton Court" von 1681, die Hugenotten in England Aufnahme gewährte, sind fast alle Forderungen erfüllt, die hugenottische Diplomaten in Petitionen an die Krone und den Bischof von London gefordert hatten: denization beziehungsweise Naturalisierung, freier Zugang zu allen Zünften und zu englischen Bildungsinstitutionen, Steuerfreiheit für ins Land mitgebrachte Güter, Armenhilfe und Glaubensfreiheit.

Fazit

Asyl in der Frühen Neuzeit beruhte zu einem größeren Teil auf utilitaristischen Interessen frühneuzeitlicher Staaten und Städte, die von den Glaubensflüchtlingen selbst im Sinne von zu erfüllenden Erwartungen genährt wurden. Asyl beziehungsweise die langfristige Aufnahme von Flüchtlingen wurde besonders dann von frühneuzeitlichen Staaten und Städten gewährt, wenn man sich besonders viel von den Flüchtlingen erwartete. Anders gesagt: Die Akteure frühneuzeitlicher Staatenbildung, der Rationalisierung von Wirtschaft, Militär, Verwaltung, Landesausbau und Kolonisation versuchten, frühneuzeitliche Fluchtbewegungen für sich nutzbar zu machen, und fanden in den Vertretern der Gruppen von Glaubensflüchtlingen zum Teil willige Verhandlungspartner, im Sinne einer – um einen weiteren anachronistischen Begriff zu bemühen – Win-win-Situation. Problematisch wurde es für Glaubensflüchtlinge, wenn Erwartungen nicht erfüllt wurden, wenn die Realitäten des Elends von Vertreibung oder Flucht die ersten Jahre und Jahrzehnte nach der Gewährung von Asyl und Aufnahme mitbestimmten.

Für die Frühe Neuzeit im Unterschied zu heute typisch ist neben vielen anderen Bereichen das Nichtvorhandensein von Rechtsgleichheit oder rechtlicher Gleichstellung und langfristiger Rechtssicherheit. Privilegien konnten zurückgenommen werden, viele Flüchtlinge wurden den "autochthonen" Untertanen nicht gleichgestellt. Dass Privilegien, Sonderrechte, unterschiedlicher Rechtsstatus, parallele, nicht vom Staat kontrollierte Sozial-, Werte-, Bildungs- und auch Rechtssysteme im frühneuzeitlichen Staat nebeneinander existieren konnten, dass es "fremde Nationen" als ethnische Enklaven mit Sonderrecht und Sonderjurisdiktion quasi als "Parallelgesellschaften" gab, ist die Konsequenz der frühneuzeitlichen ethnischen Enklave. Dies hieß allerdings nicht, dass Kontakte zu anderen Gruppen oder "Nationen" im frühneuzeitlichen Staat nicht stattfanden, dass keine – wie wir das heute nennen würden – Integration stattfand, im Gegenteil. Die ethnisch-religiöse Enklave der Frühen Neuzeit, die "fremde Nation" im Untertanenverband, ist allerdings in einem modernen, auf Rechtsgleichheit und -sicherheit für alle Individuen basierenden freiheitlich-demokratischen Staat undenkbar.

Damals wie heute unterliegen Flüchtlinge einem starken Spannungsverhältnis. Sie fliehen vor Verfolgung, die oft ethnisch-religiös motiviert ist, aufgrund von identitären Selbst- und Fremdzuschreibungen. Damit einhergehen kann – muss aber nicht – im Aufnahmeland der Versuch, diese ethnisch-religiös definierte Identität zu bewahren, gerade auch durch Institutionen wie Kirchen, Moscheen, Vereine, Kulturzentren. Gleichzeitig gab und gibt es die Notwendigkeit der rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen und bis zu einem gewissen Grad auch kulturellen Integration.

Was die Frühe Neuzeit und die Gegenwart diametral unterscheidet, ist der Kontext: Für Erstere prägend sind Ständegesellschaft, Korporationen, ein schwacher Staat, das Fehlen einer Staatsverfassung, nicht vorhandene Rechtsgleichheit, fehlende universelle Menschen- und Freiheitsrechte; für Letztere Staatsverfassungen, Rechtsgleichheit, Menschenrechte, individuelle Freiheiten, starke staatliche Institutionen mit Monopolen nicht nur im Sinne eines Gewaltmonopols, Institutionen, die sich heute sehr viel mehr als in der Frühen Neuzeit auch auf den Bildungs- und Sozialsektor erstrecken – eine Gegenwart, in der die Freiheit und Gleichheit des Individuums betont und Gruppenrechte und -privilegien immer dem allgemein geltenden Recht untergeordnet werden beziehungsweise nur in diesem verfassungsmäßig gesetzten Rahmen möglich sind.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Jane S. Gerber, The Jews of Spain: A History of the Sephardic Experience, New York 1994, S. 115–144; Esther Benbassa/Aron Rodrigue, Sephardi Jewry. A History of the Judeo-Spanish Community, 14th–20th Centuries, Los Angeles–London 2000, S. 22–28.

  2. Vgl. L.P. Harvey, Islamic Spain, 1250 to 1500, Chicago 1990, S. 331–335; Nicholas Terpstra, Religious Refugees in the Early Modern World. An Alternative History of the Reformation, Cambridge 2015, S. 2f.

  3. Vgl. Greta Grace Kroeker, Introduction, in: Timothy G. Fehler et al. (Hrsg.), Religious Diaspora in Early Modern Europe: Strategies of Exile, London 2014, S. 1–8; N. Terpstra (Anm. 2), S. 1–7.

  4. Vgl. Jean-Pierre Poussou, Mobilité et migrations, in: Jacques Dupâquier (Hrsg.), Histoire de la population française, Bd. 2: De la Renaissance à 1789, Paris 1995, S. 99–143, hier: S. 130.

  5. Vgl. Susanne Lachenicht, Hugenotten in Europa und Nordamerika. Migration und Integration in der Frühen Neuzeit, Frankfurt/M.–New York 2010, S. 69–80.

  6. Vgl. Raingard Esser, Niederländische Exulanten im England des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin 1996; Geert H. Janssen, The Dutch Revolt and Catholic Exile in Reformation Europe, Cambridge 2014, S. 3, S. 55ff.

  7. Vgl. Alexander Schunka, Gäste, die bleiben. Zuwanderer in Kursachsen und der Oberlausitz im 17. und frühen 18. Jahrhundert, Münster u.a. 2006.

  8. Vgl. Renate Wilson, Land, Population and Labor. Lutheran Immigrants in Colonial Georgia, in: Hartmut Lehmann/Hermann Wellenreuther/dies. (Hrsg.), In Search of Peace and Prosperity. New German Settlements in Eighteenth Century Europe and America, University Park 2000, S. 217–245.

  9. Vgl. Christopher Hodson, Idlers and Idolaters. Acadian Exiles and the Labour Regimes of British North America, 1755–1763, in: Susanne Lachenicht (Hrsg.), Religious Refugees in Europe, Asia and North America (6th–21st Century), Hamburg 2007, S. 197–212; ders., The Acadian Diaspora: An Eighteenth-Century History, Oxford–New York 2012.

  10. Vgl. Colm O’Conaill, Politics, Religion and Family Identity. The Exile and Return of the Dillon Family from the Williamite Conquest to the French Revolution, in: S. Lachenicht (Anm. 9), S. 121–132; Liam Chambers, Une seconde patrie: The Irish Colleges, Paris, in the Eighteenth and Nineteenth Centuries, in: Susanne Lachenicht/Kirsten Heinsohn (Hrsg.), Diaspora Identities. Exile, Nationalism and Cosmopolitanism in Past and Present, Frankfurt/M. u.a. 2009, S. 16–30, hier: S. 16.

  11. Vgl. John F. Bosher, Huguenot Merchants and the Protestant International in the Seventeenth Century, in: The William and Mary Quarterly, 52 (1995) 1, S. 77–100.

  12. Vgl. Andrew Pettegree, Foreign Protestant Communities in Sixteenth-Century London, Oxford 1986.

  13. Vgl. Philipp Otterness, Becoming German: The 1709 Palatine Migration to New York, Ithaca 2004.

  14. Vgl. S. Lachenicht (Anm. 5), S. 79, S. 106f.; Hugues Daussy, Le parti huguenot. Chronique d’une désillusion (1557–1572), Genf 2014.

  15. Vgl. Steven Nadler, Rembrandts’s Jews, Chicago 2003, S. 20.

  16. Vgl. Jonathan I. Israel, Diasporas within a Diaspora: Jews, Crypto-Jews and the World Maritime Empires, 1540–1740, Leiden 2002, S. 2f.

  17. Susanne Lachenicht, The Huguenots’ Maritime Networks, in: Dagmar Freist/dies. (Hrsg.), Connecting Worlds and Peoples. Early Modern Diasporas, New York 2016 (i.E.).

  18. Vgl. J.I. Israel (Anm. 16); Daviken Studnicki-Gizbert, A Nation upon the Ocean Sea. Portugal’s Atlantic Diaspora and the Crisis of the Spanish Empire, Oxford–New York 2007; Francesca Trivellato, The Familiarity of Strangers: The Sephardic Diaspora, Livorno, and Cross-Cultural Trade in the Early Modern Period, New Haven 2009.

  19. Vgl. S. Lachenicht (Anm. 5), S. 106ff.

  20. Vgl. ebd., S. 75f.

  21. Vgl. ebd., S. 168–192.

  22. Vgl. Roger Bartlett, Human Capital. The Settlement of Foreigners in Russia 1762–1804, Cambridge–New York 1979, S. 15–21.

  23. Vgl. ebd., S. 33f.

  24. Vgl. Michael Schippan, Der Beginn der deutschen Russlandauswanderung im 18. Jahrhundert, in: Mathias Beer/Dittmar Dahlmann (Hrsg.), Migration nach Ost- und Südosteuropa vom 18. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1999, S. 47–70.

  25. Vgl. Nicholas Canny, Kingdom and Colony: Ireland in the Atlantic World 1560–1800, Baltimore 1987.

  26. Vgl. R. Wilson (Anm. 8), S. 217ff.

  27. Vgl. Andreas Gestrich, German Religious Migration to Russia in the Eighteenth and Early Nineteenth Centuries, in: H. Lehmann/H. Wellenreuther/R. Wilson (Anm. 8), S. 77–98, hier: S. 90.

  28. Vgl. David Cesarani, Port Jews: Concepts, Cases and Questions, in: ders./Frank Cass (Hrsg.), Port Jews. Jewish Communities in Cosmopolitan Maritime Trading Centres, 1550–1950, London–Portland 2002, S. 1–11.

  29. Vgl. Douglas Catterall, Scots and Portuguese Migrants in the United Provinces (16th–17th Centuries), in: S. Lachenicht (Anm. 9), S. 53–80, hier: S. 70–74.

  30. Vgl. ebd., S. 75–80.

  31. Vgl. D. Cesarani (Anm. 28), S. 2–5.

  32. Vgl. Susanne Lachenicht, Etude comparée de la création et de la survie d’une identité huguenote en Angleterre et dans le Brandebourg au XVIIIe siècle, in: Philip Benedict/Hugues Daussy/Pierre-Olivier Lechot (Hrsg.), L’Identité huguenote. Faire mémoire et écrire l’histoire (XVIe–XXIe siècle), Genf 2014, S. 279–294.

  33. Vgl. S. Lachenicht (Anm. 5), S. 168–193.

  34. Vgl. ebd., S. 73–85.

  35. Vgl. ebd., S. 88.

  36. Vgl. ebd., S. 59–62, S. 111ff.

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Dr. phil. habil., geb. 1971; Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit, Kulturwissenschaftliche Fakultät, Universität Bayreuth, Universitätsstraße 30/GW II, 95440 Bayreuth. E-Mail Link: susanne.lachenicht@uni-bayreuth.de