Seit jeher geht von der "Völkerwanderung" eine schaurige Faszination aus. Die Vorstellung endloser Wagentrecks aus hünenhaften Kämpfern und ihren Familien, die sich aus dem Innern Germaniens oder von noch entlegeneren Orten aus in Richtung des Römischen Reichs aufmachten und nach einer langen Phase des Ringens und Kämpfens auf dessen Boden ihre eigenen Reiche errichteten, hat sich in das kulturelle Gedächtnis Europas eingebrannt. Die Grundlagen der modernen Staatenwelt, so wird des Öfteren behauptet, seien in diesem Zusammenhang gelegt worden, und auch das politische und kulturelle Selbstverständnis der Europäer sowie einzelner Nationen unter ihnen wird mitunter auf die "Völkerwanderung" zurückgeführt. Gleichzeitig prägt die "Völkerwanderung" unsere Vorstellung historischer Epochenumbrüche. So wurde etwa die Antike lange als Phase zwischen zwei großen Migrationsbewegungen konzeptualisiert, der "Dorischen Wanderung", die man um 1200 v. Chr. ansetzte, und der "Völkerwanderung".
Nicht zufällig nimmt im deutschsprachigen Raum der Terminus "Völkerwanderung" als Bezeichnung jenes tief greifenden, mit Migrationen und Konflikten einhergehenden Transformationsprozesses, der den Übergang von der Spätantike in das Frühmittelalter gestaltet hat, eine dominierende Stellung ein und transportiert damit bereits eine wirkmächtige Interpretation: Die Initiative beziehungsweise Gestaltungsmacht soll damals bei den wandernden Gruppen gelegen haben. In den romanischen Sprachen wird demgegenüber eine andere Perspektive eingenommen: Wenn diese von invasions barbares oder invasioni barbariche sprechen, nehmen sie eher einen römischen Blickwinkel ein, verweisen damit auf jenes Gebilde, das von den Geschehnissen in besonderer Weise betroffen war, und suggerieren eine katastrophische Deutung. Insofern ebnen bereits Begrifflichkeiten die Pfade für gängige, subkutan national besetzte Interpretationsmuster, die auf einen Antagonismus wandernder Völker auf der einen sowie des statischen Imperium Romanum auf der anderen Seite hinauslaufen und sich in einen Römer-Germanen-Gegensatz hinein verengen, der auch in der traditionellen zeitlichen Eingrenzung der Völkerwanderung als Phase zwischen den großen "germanischen" Invasionen um 375 (Ankunft der Goten an der römischen Donaugrenze) und 568 (Langobardeneinfall in Italien) zum Ausdruck kommt.
Was aber haben wir uns unter der "Völkerwanderung" vorzustellen? In einer jüngeren, an ein breites Publikum gerichteten Einführung zu den Germanen heißt es: "Die Zeit der Völkerwanderung wird in den Jahren 375–568 angesetzt, es ist die Zeit zwischen Spätantike und Frühmittelalter. Sie wird ausgelöst durch den Einfall der aus Asien kommenden Hunnen, die [sic] die Völker zur Wanderung nach Süden und Westen trieb. Aber auch Bevölkerungszuwachs und damit verbunden Landnot sind Gründe der Völkerwanderung, ebenso Eroberungs- und Kriegslust. Ganz Europa bis hin zum Schwarzen Meer ist im Umbruch, die meisten Völker verlassen ihre alten Siedlungsgebiete, um neue zu erobern. Es ist das Ende des Römischen Reiches. Nicht mehr Rom, sondern die neue Kultur der Germanen nördlich der Alpen bestimmt von nun an das Geschehen."
Im Folgenden erörtere ich einige zentrale Aspekte, die in dieser für verbreitete Vorstellungen durchaus repräsentativen Definition angeführt werden oder mitschwingen, um aufzuzeigen, dass sie vor dem Hintergrund der Forschungsdiskussionen der vergangenen drei Jahrzehnte nicht mehr tragfähig sind. Dabei wird es allerdings nicht darum gehen, unzulängliche Definitionen schlicht durch neue Begriffsbestimmungen zu ersetzen; vielmehr soll deutlich werden, dass das Konzept einer großen, insbesondere für das Imperium Romanum zerstörerischen "Völkerwanderung" am Ausgang der Antike als solches inzwischen problematisch erscheint und durch differenziertere konzeptuelle Erwägungen abgelöst werden sollte. Das Ergebnis wird also eher unbequem sein, weil es uns nötigt, altvertraute Gewissheiten zu verabschieden, und weil es vor allem auf die beträchtliche Komplexität der zu betrachtenden Phänomene verweist; je schärfer einzelne Sachverhalte hervortreten, die uns ein erhöhtes Maß an Differenzierung und Präzisierung abverlangen, desto mehr verschwindet die "Völkerwanderung" als bequem handhabbarer Gesamtkomplex im Nebel.
Völker, Stämme, Volksstämme
Das Kompositum "Völkerwanderung" stellt keinen Quellenbegriff dar, sondern eine sekundäre Wortbildung; antiken Zeitgenossen war die Vorstellung wandernder Einheiten zwar bekannt – Einwanderung zählte für sie sogar zu den wichtigsten Impulsgebern für Staatsbildungs- und Vergesellschaftungsprozesse –, aber eine migratio gentium zur Bezeichnung eines spezifischen Geschehniskomplexes in der Spätphase der römischen Geschichte kannten sie nicht. Auch der Gebrauch der Wendung migrationes gentium bei dem Humanisten Wolfgang Lazius (1514–1565), der gemeinhin als Schöpfer unseres modernen Begriffs gilt (mit seinem Werk "De aliquot gentium migrationibus" von 1557), erscheint noch recht unspezifisch. Zum Epochenbegriff im engeren Sinne gerinnt "Völkerwanderung" erst im 19. Jahrhundert; sinnbildlich sei die Definition in Grimms "Deutschem Wörterbuch" angeführt, in der von "der groszen bewegung der germanischen völker am ausgang des alterthums" gesprochen wird.
Der Zusammenhang zwischen den "frühen" und den "gegenwärtigen" Deutschen wurde unter Rückgriff auf den zunehmend emphatisch aufgeladenen und holistisch gebrauchten Volksbegriff akzentuiert. Im politisch parzellierten Deutschland gewann die Vorstellung eines einheitlichen Volkes, das als Kollektivsubjekt agieren konnte und ähnliche Eigenschaften besaß wie ein Individuum – Eigenschaften, die sich in "Volksliedern", "Volksdichtung" oder "Volkskultur" manifestierten – an Attraktivität. Die Amalgamierung von Germanen und Deutschen zu einem überzeitlich agierenden "Volk" ermöglichte Rück- und Vorausprojektionen vermeintlicher Heldentaten und Ereignisse und ließ sich im Kontext eines zunehmenden Nationalbewusstseins instrumentalisieren. Hier liegt eine wesentliche Ursache für die bald als selbstverständlich geltende Verknüpfung von "Völkerwanderung" und dem Untergang des Römischen Reichs: Die vermeintlichen Vorfahren der Deutschen hatten mit den Römern die Ahnherren des Erzfeinds Frankreich überwunden und an die Stelle des Imperium Romanum die Grundlagen des mittelalterlichen Europas gesetzt. Eine Folge dieser Sichtweise war die zeitliche Eingrenzung der "Völkerwanderung" auf den Zeitraum 375–568, also die Phase der "germanischen" Aktivitäten. Die im 6. Jahrhundert einsetzenden slawischen Bewegungen wurden in dieser Konzeption ebenso ausgeklammert wie die arabische Expansion seit dem frühen 7. Jahrhundert. Sie fügten sich nicht in die Vorstellung von der "Völkerwanderung" als einer von Germanen und damit dem deutschen Volk getragenen Bewegung ein.
Heute wissen wir sehr gut, dass die romantische Vorstellung von Völkern als handelnden, überzeitlich existenten Einheiten jeglichem empirischen Befund widerspricht. Völker sind keineswegs homogene, unveränderliche Entitäten, sondern höchst instabile soziale Gebilde, die permanenten Transformationsprozessen ausgesetzt sind, vorwiegend durch politische Klammern definiert werden und deren Zusammenhalt auf komplexen Identitätsbildungsprozessen beruht, die allenfalls in der Lage sind, temporäre Kohärenzsuggestionen zu erzeugen. Bereits das römische Kaiserreich selbst, ein gewaltiges Gebilde, das sich geografisch von Britannien bis in die Sahara, vom heutigen Portugal bis zum Zweistromland erstreckte, ließe sich als Vielvölkerstaat beschreiben, der nie zu vollständiger innerer Homogenität gelangt ist. Seine Kohärenz gewann es vor allem als fest gefügte politische Einheit, die durch Faktoren wie das gemeinsame Bürgerrecht, einen übergreifenden Kaiserkult, eine für alle Reichsbewohner verbindliche Gesetzgebung, aber auch durch weichere Aspekte wie etwa die Bedeutung des Lateinischen als Verwaltungs- und Militärsprache, weiträumige infrastrukturelle Maßnahmen sowie die Implementierung der römischen Stadtkultur beziehungsweise des Roman way of life in den meisten Provinzen gewährleistet wurde. Ein Bewohner Britanniens durfte sich dadurch ebenso als römischer Bürger fühlen wie ein Syrer, Ägypter oder eben auch ein Einwohner der Stadt Rom. Mit einem konventionellen Volksbegriff lässt sich dieses Konglomerat nicht annähernd beschreiben.
Ähnliche Probleme ergeben sich für jene Gruppen, die jenseits der Grenzen des Imperium Romanum angesiedelt waren. Zu einer politischen Einheit sogenannter germanischer Verbände ist es zu keinem Zeitpunkt gekommen. Das liegt nicht so sehr daran, dass allein die Frage, wie man denn eigentlich "germanisch" beziehungsweise "Germane" definieren soll, höchst umstritten ist
Ebenso wie der Begriff "Volk" bereiten indes auch der Terminus "Stamm" oder gar das Kompositum "Volksstamm" Probleme. In der Ethnologie sind Stämme mittlerweile eine gut erforschte und auch kritisch beleuchtete Kategorie. So attraktiv es auf den ersten Blick erscheinen mag, die etwa von Caesar oder Tacitus beschriebenen Kleinverbände im nördlichen Barbaricum als "Stämme" zu beschreiben – die von der Ethnologie erarbeiteten Kriterien passen schlichtweg nicht auf diese Gruppen oder sind dort zumindest nicht nachweisbar, und derselbe Vorbehalt gilt in besonderem Maße für jene Verbände, mit denen wir in der Spätantike konfrontiert werden.
Hinzu kommt, dass bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts sogenannte Stammesverfassungen als rückständig gegenüber dem ausgebildeten Staat europäisch-transatlantischer Prägung galten. In dieser Sichtweise werden im Prinzip antike Barbarenstereotype fortgeschrieben, die im Kern darauf zielen, dem Barbaren die Fähigkeit zur politischen und sozialen Organisation abzusprechen. Wir wissen aber, dass gerade während der "Völkerwanderung" intensivster Austausch zwischen Römern und Barbaren herrschte, letztere also mit der antiken Welt bestens vertraut waren und nicht umsonst sowohl als Individuen wie auch als Gruppen innerhalb des Imperium Romanum Karriere machen und auch politische und soziale Prozesse gezielt einleiten und steuern konnten. Dieser seit Langem bekannte Sachverhalt hat aber zunächst nicht zu Korrekturen in der Begriffsbildung geführt. Vielmehr wurde stattdessen vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter vermeintlich germanischen Zentralbegriffen wie "Herrschaft", "Treue", "Eid" und "Gefolgschaft" am Konstrukt einer spezifischen germanischen Stammesverfassung als Grundlage des mittelalterlichen Staats und Gegensatz zur Organisation des Imperium Romanum gearbeitet, das mittlerweile ebenfalls längst widerlegt ist.
Es ist also an der Zeit, sich für den "Völkerwanderungskomplex" von Völkern, Stämmen und Volksstämmen zu verabschieden.
Wanderung
Wieviel Wanderung steckt in der "Völkerwanderung"? Die Frage nach dem Stellenwert von Migration in der Übergangsphase zwischen Antike und Mittelalter erweist sich bei näherer Betrachtung als höchst komplex.
Vielmehr konstituierte das Römische Reich bereits seit Jahrhunderten einen Raum für Binnenmigrationen unterschiedlichster Art, und auch Ein- und Auswanderungen sowie ein kontinuierlicher grenzüberschreitender Austausch gehörten selbstverständlich zum Alltag. Denn das Römische Reich übte aufgrund des vergleichsweise hohen Lebensstandards nicht nur eine generelle Anziehungskraft aus, sondern der Zuzug aus dem Barbaricum wurde mitunter sogar großzügig gefördert, wenn etwa Mangel an Arbeitskräften und insbesondere an Rekruten herrschte. Die im Nachhinein so fatale Entscheidung, die von den Hunnen vertriebenen Goten im Jahr 376 über die Donau in das Imperium eindringen zu lassen, folgte einem derartigen Kalkül: Kaiser Valens (364–378) ging es auch damals in erster Linie darum, kostengünstige Soldaten zu gewinnen.
Während der "Völkerwanderung" wurden die Römer also keineswegs mit einem grundlegend neuartigen Phänomen konfrontiert. Ungewöhnlich war lediglich die Massivität, mit der in einigen Grenzregionen nunmehr der Druck zunahm (zunächst an Donau und Rhein, später dann auch in anderen Regionen); ungewöhnlich war sodann die Intensität, mit der sich insbesondere seit dem frühen 5. Jahrhundert innere Probleme (Bürgerkriege) mit dem Geschehen an der Peripherie des Reichs vermengten, was zwangsläufig eine beträchtliche Ressourcenverknappung nach sich zog; ungewöhnlich war schließlich auch die Diversität und Variabilität der einzelnen Verbände, mit denen die Römer innerhalb weniger Jahrzehnte konfrontiert wurden und die plötzlich Herausforderungen konstituierten, denen die römische Regierung auch angesichts einer zunehmend angespannten innenpolitischen Lage zumindest im lateinischsprachigen Westen mittelfristig nicht gewachsen war.
All diese Gruppen pauschal unter das Stichwort "Wanderung" zu subsumieren, verwischt allerdings grundlegende Unterschiede und erscheint daher problematisch. Zu unterscheiden sind mindestens die folgenden Gruppen: militärisch schlagkräftige Flüchtlinge wie die Goten, die 376 die Donau überschritten; mobile Armeen mit wachsender ziviler Begleitung und zunehmender Kohärenz wie der Verband, mit dem der terwingische Gote Alarich 410 die Stadt Rom eroberte; Großverbände auf der Suche nach Integration in das Römische Reich (so einigte man sich auf eine Ansiedlung von Westgoten in Aquitanien 418/19); Großverbände auf der Suche nach politischer und wirtschaftlicher Autonomie, die etwa den Vandalen 442 in Form eines regnum zugestanden wurde; mobile Kriegergruppen in variierenden Aggregatszuständen, das heißt Gewaltgemeinschaften wie die gotischen Verbände im Balkanraum; nomadisch geprägte Reiterverbände wie die Hunnen; (halb)nomadisch, partiell tribal strukturierte Verbände mit lang etablierten Beziehungen zum Römischen Reich und zur römischen Lebenswelt, beispielsweise die Araber; bäuerlich strukturierte Kleingruppen wie die Slawen.
Diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit; nicht berücksichtigt wurden beispielsweise all die gescheiterten und daher in unseren Zeugnissen nur schemenhaft sichtbaren Gruppen, deren Zahl jedoch nicht unterschätzt werden sollte. Zudem sind Überschneidungs- und Überlagerungsphänomene, insbesondere aus einer Longue-durée-Perspektive heraus, in Rechnung zu stellen, denn kaum eine der uns bekannten Gruppen blieb über einen längeren Zeitraum hinweg stabil oder gar ethnisch homogen – das gilt im Übrigen auch für jene Großgruppe, die wir als "Römer" bezeichnen. Deutlich werden sollte allerdings, dass Migration allein keinen hinreichenden Ansatzpunkt darstellt, um das "Völkerwanderungs"-Geschehen zu erfassen; vielmehr wäre für jeden einzelnen Fall zunächst einmal zu klären, welche Rolle Migration grundsätzlich spielte, in welcher Ausprägung sie erfolgte und welche Konsequenzen sich aus ihr ergeben haben könnten. Die gegenwartsnah arbeitende jüngere Migrationsforschung bietet inzwischen ein attraktives methodologisches Instrumentarium an, um zukünftige Forschungen in dieser Richtung mit der erforderlichen Differenziertheit vorzunehmen. Ältere, reduktionistische Erklärungsmodelle für die "Völkerwanderung", die mit monokausalen Ansätzen wie Naturkatastrophen, einer allgemeinen Klimaverschlechterung oder der Verdrängung durch konkurrierende Gruppen operieren, erübrigen sich damit nicht allein deshalb, weil all diese Erklärungsversuche sich im Bereich reiner Spekulation bewegen, sondern weil sie a priori wandernde, homogene Entitäten voraussetzen, die sich als solche über große Entfernungen und lange Zeiträume hinweg bewegt haben sollen, bevor sie an die Grenzen des Imperium Romanum gelangten.
Herkunft der Neuankömmlinge und Untergang des Römischen Reichs
Dieser Einwand entbindet uns jedoch nicht von der Notwendigkeit, darüber nachzudenken, woher jene Gruppen kamen, mit denen die Römer sich seit dem 3. und in verstärktem Maße seit dem 4. Jahrhundert auseinanderzusetzen hatten. Mittlerweile geht man mehrheitlich davon aus, dass es im Barbaricum selbst im Verlauf der römischen Kaiserzeit – also seit dem 1. Jahrhundert – zu komplexen gesellschaftlichen Veränderungen und Ausdifferenzierungsprozessen gekommen ist, die im Ergebnis zur Ausformung (Ethnogenese) größerer, schlagkräftiger Verbände geführt haben (wie der Alemannen, der Franken und Sachsen jenseits des Rheins, der Quinquegentiani in Nordafrika oder der Salīḫ, der Tanūḫ und insbesondere der Laḫmiden im arabischen Raum). Ihre Entwicklung kam freilich nicht an einem bestimmten Punkt zum Stillstand, vielmehr waren sie als hochdynamische, geradezu fluide Gebilde durch Abspaltungen, Zuzug aus verschiedenen Richtungen, durch Neudefinitionen im Zusammenhang permanenter Identitätsbildungsprozesse, durch Kriegsverluste, Verträge, Königserhebungen und so weiter kontinuierlichen Veränderungen unterworfen. Anders als lange gemutmaßt, stellen diese Konföderationen nicht oder zumindest nur partiell das Resultat ausgreifender Wanderungsbewegungen dar, sondern müssen im Zusammenhang komplexer Ethnogeneseprozesse gedeutet werden. Sie traten an die Stelle kleinerer Einheiten, wie sie uns für das nördliche Barbaricum etwa durch Caesar und Tacitus bezeugt sind, und ließen sich nicht mehr so einfach wie diese mit den traditionellen Mitteln römischer Politik kontrollieren.
Diese Mittel umfassten in der Kaiserzeit natürlich Eroberungszüge und Strafexpeditionen; aber die Römer waren auch zu einem weitaus subtileren Vorgehen fähig: So versuchte man etwa wohlgesonnene beziehungsweise für die Interessen Roms wichtige Barbarenführer mit Geschenken (das heißt der Vergabe von Objekten, die im Barbaricum als prestigesteigernde Luxusgüter gelten mussten) und Ehrungen an das Reich zu binden, während andere demonstrativ abgestraft wurden. Diese Praxis sollte über die Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg die Welt jenseits der Grenzen des Imperium Romanum nachhaltig verändern. Denn Personen, die auf Kontakte ins Imperium und auf römische Aufmerksamkeiten setzen konnten, die erfahrungsgesättigt und wohlhabend aus langjährigem Dienst in römischen Hilfstruppen zurückkehrten oder die als Händler die Lebenswelt des Römischen Reichs mit eigenen Augen kennengelernt hatten, gelangten in der Heimat zu hohem Ansehen, sie konnten Gefolgschaften um sich herum versammeln beziehungsweise vergrößern. Auf diese Weise etablierten sich langsam neue, differenziertere soziale Strukturen im Barbaricum, was wiederum vielfach Spannungen und sozialen Stress auslöste, der Bugwellen verursachte, die im Laufe der Zeit auch die römischen Grenzen erreichten – teilweise auch in Form von Migrationen. Eine Schicht ambitionierter, wagemutiger Krieger und entsprechender Führungspersonen bildete sich heraus; sie ist archäologisch mittlerweile gut nachgewiesen. Diese Krieger konstituierten das Substrat, aus dem sich zunächst kleinere Raubgruppen und schließlich jene größeren Verbände herausbildeten, die seit dem 3. und 4. Jahrhundert den Druck auf die römischen Grenzen erhöhten. Äußere Impulsverstärker wie die Attacken der Hunnen konnten hinzutreten. Aber die entscheidenden Veränderungen, die sich im Barbaricum vollzogen und damit überhaupt erst die Grundlagen für das "Völkerwanderungs"-Geschehen bereiteten, sind offenbar in hohem Maße von der römischen Seite selbst eingeleitet worden. Dass hier nicht lediglich Naturkatastrophen oder gar ein "gemeingermanischer Wanderungsdrang" am Werk waren, geht bereits aus dem Umstand hervor, dass sich die betreffenden Veränderungen an der gesamten Peripherie des Imperium Romanum vollzogen – nicht nur an Rhein und Donau, sondern auch in Nordafrika und im Osten.
Zudem erfolgten die ab dem 3. Jahrhundert signifikant zunehmenden Überfälle auf die aus barbarischer Perspektive überaus wohlhabenden römischen Gebiete häufig dann oder erwiesen sich als besonders verheerend, wenn wieder einmal Bürgerkriege die Schlagkraft der römischen Verteidigung lähmten. Daher haben einige Stimmen in der Forschung sogar die pointierte Behauptung aufgestellt, die "Völkerwanderung" stelle letztlich ein rein römisches, das heißt von den Römern ausgelöstes Phänomen dar: Nicht sie habe den Untergang des Römischen Reichs herbeigeführt, sondern dieser selbst sei vielmehr die Ursache für die "Völkerwanderung" gewesen. Das Imperium Romanum habe gewissermaßen Selbstmord verübt.
Diese extreme Zuspitzung steht am Ende einer etwa 30-jährigen Phase intensiver Forschungen über das Ende der römischen Welt und ihren Übergang in die poströmische Phase. Sie hat vor allem die Kontinuitäten zwischen Antike und Mittelalter herausgearbeitet; sie hat auf den vielfach "römischen" Charakter der vordergründig barbarischen Akteure verwiesen; sie hat aufgezeigt, dass die poströmischen regna auf römischen Strukturen errichtet worden sind; sie hat analysiert, in welcher Weise nichtrömische Verbände versucht haben, ihre eigenen Geschichtskonstrukte in einen christlich-antiken Rahmen einzuschreiben, um selbst ein Teil der römischen Geschichte zu werden; und sie hat darauf aufmerksam gemacht, dass die in zahllosen spätantiken und frühmittelalterlichen Texten weiterhin greifbare scharfe Abgrenzung zwischen Römern und Barbaren nicht nur stark durch topische Elemente durchdrungen ist, sondern in geradezu atavistischer Form Dichotomien fortschreibt, die in der Lebenswelt der Autoren schon längst nicht mehr galten.
Dieses Konzept einer kontinuierlichen und in jedem Fall hochgradig komplexen Transformation of the Roman World (TRW)
"Völkerwanderung" und "Flüchtlingskrise"
Mit dem Eintritt der sogenannten Flüchtlingskrise in die populäre Medienlandschaft im Sommer 2015 hat auch das Thema "Völkerwanderung" neue Aktualität gewonnen. Zeitungsbeiträge, Radiofeatures und Fernsehdokumentationen überbieten sich seitdem in der Diskussion möglicher Parallelen und versuchen aus dem "Völkerwanderungs"-Paradigma Handlungsempfehlungen für Politik und Gesellschaft abzuleiten. Dass auch prominente Historiker sich in das vielstimmige Raunen eingebracht haben und versuchen, korrigierend in eine mitunter unbedarft, ziellos und chaotisch geführte Debatte einzugreifen, ist grundsätzlich zu begrüßen. Allerdings hat etwa der Althistoriker Alexander Demandt in einem Beitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", der vielfältige zustimmende wie auch kritische Reaktionen ausgelöst hat, einmal mehr einen reduktionistischen "Völkerwanderungs"-Begriff zugrunde gelegt, um seine These vom Untergang Roms als Resultat massenweisen Andrängens von Barbaren zu begründen.
Erstens: Historische Vergleiche gehören zu den spannendsten und produktivsten Unterfangen, mit denen Historiker sich auseinandersetzen. Sie erfordern aber auch ein Höchstmaß an methodischer Präzision und setzen intime Kenntnis beider Comparanda voraus. Ein seriöser Vergleich des "Völkerwanderungs"-Geschehens mit der "Flüchtlingskrise" müsste daher, wenn er einem Mindestmaß methodisch-theoretischer Reflexion gerecht werden soll, von Wissenschaftlerteams vorgenommen werden, weil er die Kompetenzen einzelner Personen überschreitet.
Zweitens: Prinzipiell ist es möglich, alles miteinander zu vergleichen. Aus der Perspektive des Historikers erscheint allerdings nicht jeder Vergleich gleichermaßen sinnvoll, denn das Ergebnis sollte einen analytischen Mehrwert erbringen. In diesem Zusammenhang sei an den heuristischen Unterschied zwischen Vergleichen und Analogien erinnert. Während ein historischer Vergleich auf einer soliden methodischen Basis klare Kriterien definiert und die Untersuchungsgegenstände mit ihrer Hilfe analysiert, um abschließend zu einem wissenschaftlich fundierten Ergebnis zu gelangen, erschöpft sich die Analogie in der Beobachtung oberflächlicher Parallelen, die zumeist nicht eingehender verortet und hinterfragt werden, sodass ihre Aufdeckung im besten Fall folgenlos bleibt.
Drittens: Wollte man sich unter Berücksichtigung all dieser Kautelen dennoch an das komplizierte Unterfangen begeben, die "Völkerwanderung" mit der "Flüchtlingskrise" zu vergleichen, so sollte aus den vorangegangenen Ausführungen hervorgegangen sein, dass es keinen klar definierten Gegenstand "Völkerwanderung" gibt, den man als Comparandum heranziehen könnte. Der Terminus selbst stellt, wie gezeigt, keinen analysefähigen Begriff für ein klar definiertes Konzept dar, sondern bezeichnet vage einen nur schwer eingrenzbaren, assoziationsbefrachteten Zusammenhang, der sich vielfältig ausdeuten lässt, und transportiert überdies Ideologeme, die rasch ein spezifisches Vorverständnis des Sachverhalts prägen können.
Viertens: Versucht man sich von dem problematischen Konzept der "Völkerwanderung" zu lösen und blickt hinter den Begriff, so wird man mit einem komplexen Geflecht höchst unterschiedlicher, eng ineinandergreifender Phänomene konfrontiert, die einmal mehr die Frage aufwerfen, was nun eigentlich der Vergleichspunkt sein soll. Ein Ansatz könnte darin bestehen, den Blick auf Migration zu richten. Wie sich gezeigt hat, werden wir in der Spätantike aber mit sehr unterschiedlichen Formen von Migration konfrontiert. Wollte man sie sämtlich berücksichtigen, müsste man erneut eine abstrakte Ebene erreichen, die ihrerseits wieder die Gefahr birgt, analytisch fruchtlose Hypostasierungen wie die "Völkerwanderung" zu kreieren.
Fünftens: Soweit ich sehe, zielen die aktuell in den Medien fassbaren Vergleiche zwischen "Völkerwanderung" und "Flüchtlingskrise" darauf, zum einen Anschauungsmaterial hinsichtlich möglicher Folgen von Massenmigration zu gewinnen sowie zum anderen Handlungsempfehlungen für Politik und Gesellschaft zu generieren beziehungsweise allgemeine Mahnungen auszusprechen. Beides erscheint indes problematisch: Die auch heute noch unwillkürliche Assoziierung der "Völkerwanderung" mit dem Untergang des Römischen Reichs erzeugt eine fatale Pfadabhängigkeit des Vergleichs mit Blick auf die Bewertung gegenwärtigen Geschehens und daraus resultierender möglicher Handlungsmaximen. Die "Völkerwanderung" kann den aktuellen Akteuren keine Hilfestellung leisten, weil sie als kohärenter Geschehenszusammenhang nicht fassbar ist und weil die Einzelphänomene, die sich isolieren lassen, vor dem Hintergrund fundamental differenter geostrategischer, politischer und kultureller Rahmenbedingungen zu sehen sind. Oberflächliche Analogien können durchaus gravierende Unterschiede verdecken. Nur ein methodisch-theoretisch skrupulös vorbereiteter Vergleich vermag Klippen dieser Art zu umschiffen – und dürfte im Fall der "Völkerwanderung", wie gezeigt, dennoch höchst problematisch bleiben. Die aktuelle Suche nach vordergründigen Parallelen und Analogien droht hingegen Geschichte zum instrumentellen Passepartout zu degradieren, um politischen oder moralischen Imperativen einen pseudolegitimatorischen Firnis zu verleihen. Gegen Vereinnahmungen dieser Art anzuarbeiten, ist eine der wichtigsten Aufgaben des Historikers.