Im August 2014 berichtete die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua von einem spektakulären Erfolg im Kampf gegen den Terrorismus:
Der Bericht über Zehntausende Zivilisten, die der Polizei zur Hilfe eilen, steht exemplarisch für einen Wandel in Chinas Antiterrorstrategie. Zwei Monate zuvor hatte Xinjiangs Parteichef Zhang Chunxian einen "Volkskrieg gegen den Terrorismus" ausgerufen, der neben hartem Durchgreifen der Streitkräfte auf eine maximale Beteiligung der Bevölkerung bei der Jagd auf Terroristen setzt.
China kämpft mit harten Bandagen gegen eine terroristische Bedrohung an, die hauptsächlich von separatistischen und islamistischen Organisationen aus der Uigurischen Autonomen Region Xinjiang ausgeht. Xinjiang, im abgelegenen Westen Chinas, ist die Heimat turksprachiger, muslimischer Minderheiten. Seit seiner Annexion durch China im 18. Jahrhundert ist Xinjiang (chin. "Neues Grenzland") immer wieder Schauplatz von Konflikten. Nach zwei kurzen Phasen der Unabhängigkeit der Region als "Republik Ost-Turkestan" in den 1930er und 1940er Jahren brachte die Kommunistische Partei Chinas 1949 die Region unter ihre Kontrolle. Danach trieb sie die Besiedlung durch Han-Chinesen aus anderen Provinzen voran. Die mehr als zehn Millionen Uiguren bilden die größte ethnische Gruppe und stellen nach Jahrzehnten des Zuzugs durch Han-Chinesen nur noch etwa die Hälfte der Bevölkerung Xinjiangs. Seit den 1990er Jahren kommt es unter der uigurischen Bevölkerung immer wieder zu Autonomieprotesten, Gewaltakten und Anschlägen. Die Milizen "Islamische Bewegung Ost-Turkestan" (East Turkestan Islamic Movement, ETIM) und ihr Ableger "Islamische Partei Turkestan" (Turkestan Islamic Party, TIP) haben sich die Unabhängigkeit Xinjiangs und die Gründung eines geeinten sunnitischen Kalifats in Zentralasien auf die Fahnen geschrieben. Doch auch eine Vielzahl von weniger radikalen, kleineren und einzeln agierenden Gruppen setzt sich für die Autonomie Xinjiangs ein. Allen Maßnahmen Pekings zum Trotz hat sich der Konflikt in Xinjiang im Verlauf der 2000er Jahre dramatisch verschärft. Im Juli 2009, inmitten einer militärischen Antiterrorkampagne, kulminierten die Spannungen in einer Reihe gewalttätiger Proteste in Xinjiang, bei denen fast 200 Menschen starben.
Auf jedes neue Aufflammen der Gewalt reagierte Peking mit hartem Durchgreifen der Streitkräfte und Kampagnen gegen Separatismus und "illegale religiöse Aktivitäten".
Von Unruhen zu Terrorismus
Seit 2010 hat sich der Schwerpunkt der Gewalt von auf Xinjiang begrenzten Unruhen und Anschlägen hin zu einem überregional und transnational vernetzten Terrorismus verlagert.
Diese Anschläge sind beispielhaft für eine weitere Entwicklung: Seit 2010 zeigen Terroranschläge ein immer höheres Maß an Brutalität und involvieren immer häufiger große Gruppen von Angreifenden oder Sprengstoff.
Die geografische Ausbreitung der Aktivitäten der islamistischen und separatistischen Organisationen Xinjiangs reicht auch über Chinas Grenzen hinaus. Insbesondere nach der Verschärfung des chinesischen Antiterrorkampfes ab 2000 verließen viele Uiguren Xinjiang und schlossen sich in Afghanistan und Zentralasien deutlich radikaleren Gruppen an.
Aus diesen Kontakten könnte auch die religiöse Radikalisierung der uigurischen Organisationen herrühren, die Experten im Verlauf der 2000er Jahre verzeichneten.
Vage Terrorismus-Definition
Chinas Regierung hat stets vermieden, sich durch eine zu eng gefasste Terrorismus-Definition die Hände zu binden. Stattdessen zeugen die Sprachregelungen und Gesetzesinitiativen Pekings eher von dem Bemühen, durch unscharfe Definitionen den Sicherheitskräften und der Justiz möglichst weiten Handlungsspielraum zu lassen. So verhängte Peking kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 verschiedene Strafmaße, unter anderem die Todesstrafe, für terroristische Verbrechen, ohne dabei eine juristische Definition für Terrorismus zu geben.
Einige Menschenrechtsorganisationen sowie pro-uigurische NGOs werfen der chinesischen Regierung vor, die Grenze zwischen Terrorismus und lokalen Protesten absichtlich zu verwischen, um harte Sicherheitsmaßnahmen selbst gegen friedliche Proteste zu rechtfertigen.
Erst in seinem seit Januar 2016 geltenden, ersten umfassenden Antiterrorismusgesetz legte sich Peking auf eine juristische Terrorismus-Definition fest, die der parteistaatlichen Justiz allerdings nach wie vor große Freiräume zur Interpretation lässt. Als Terrorismus stuft Peking demnach "jedes Befürworten und jede Handlung" ein, die "mit Methoden der Gewalt, Zerstörung, Drohung usw. gesellschaftliche Angst erzeugen, die öffentliche Sicherheit beeinträchtigen, Persönlichkeitsrechte oder persönliches Eigentum gefährden, die internationale Ordnung bedrohen, oder Staatsorgane bzw. internationale Organisationen unter Druck setzen, um politische, ideologische oder andere Ziele zu erreichen".
China kämpft für Stabilität
China begegnet dem Terrorismus mit einem umfassenden Maßnahmenpaket, das politische, bildungs- und wirtschaftspolitische Aspekte ebenso einbezieht wie die extensive Überwachung der uigurischen Bevölkerung und die permanente Einsatzbereitschaft der in großer Zahl in Xinjiang stationierten Streitkräfte. Auf der politischen Ebene hat Peking alle Entscheidungsprozesse in der Antiterrorgesetzgebung aus einer Arbeitsgruppe des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit in eine sogenannte Zentrale Führungsgruppe (ein Parteigremium) verlagert, in der auch die Volkbefreiungsarmee sowie die paramilitärische Bewaffnete Volkspolizei (BVP) vertreten sind.
Auf operativer Ebene wurde die BVP umfassend modernisiert, als wichtigster ausführender Arm im Antiterrorkampf etabliert und in Xinjiang in permanente Alarmbereitschaft versetzt. Im Laufe der 2000er Jahre bildete die BVP immer spezialisiertere Einsatzkräfte für verschiedene Terrorszenarien aus.
China hat auch die Überwachung des öffentlichen Raums sowie digitaler Kommunikationswege ausgebaut. So gehören Personen- und Gepäckkontrollen in Restaurants, Hotels, auf der Straße und auf öffentlichen Plätzen zum Alltag. Für viele öffentliche Verkehrsmittel in Xinjiang gelten ähnliche Sicherheitsbestimmungen wie für internationale Flugreisen. 2005 führte das Ministerium für Öffentliche Sicherheit (MPS) ein Videoüberwachungssystem ein und installierte Überwachungskameras an öffentlichen Plätzen und entlang von Straßen. Seit 2008 stehen auch Moscheen unter permanenter Videoüberwachung. Seit 2014 arbeitet das MPS an einem neuen, big-data-basierten Internetüberwachungsprogramm zur Terrorabwehr.
Auch die Kontrolle von Massenmedien hat China zu einem Instrument seiner Antiterrorstrategie gemacht. Sowohl Terroranschläge als auch Protestbewegungen gelten als sensible Themen, deren Berichterstattung ausschließlich unter Freigabe der Zensurbehörden erfolgt. Viele Nachrichten von Terrorangriffen werden vorerst unter Verschluss gehalten, um separatistischen Organisationen nach Gewaltakten keine Bühne zu bieten, Nachahmer zu vermeiden und kein Bild der Schwäche des chinesischen Staats zu geben. In Krisensituationen oder zu besonderen Anlässen, wie beispielsweise dem 60-jährigen Gründungsjubiläum Xinjiangs, werden soziale Medien deaktiviert oder der Internetzugang für die komplette Region gesperrt.
Peking und die Regierung der Autonomen Region versuchen auch mit wirtschaftlichen Maßnahmen zur Stabilität Xinjiangs beizutragen. Um die Arbeitslosenquote unter den ethnischen Minderheiten zu senken, haben Staat und Provinz in den Aufbau einer eigenen Textilindustrie investiert. Staatseigene Unternehmen in Xinjiang sind verpflichtet worden, mindestens 25 Prozent ihres Personals aus Angehörigen ethnischer Minderheiten zu rekrutieren. Auch von seiner Zentralasienstrategie, die einen engeren wirtschaftlichen Austausch mit den rohstoffreichen Ländern der Region vorsieht, erhofft sich Peking eine weitere wirtschaftliche Entwicklung Xinjiangs.
Terrorismusbekämpfung als Massenbewegung
Mit der Ausrufung des "Volkskriegs gegen den Terrorismus" im Mai 2014 hat Xinjiangs Parteichef Zhang Chunxian die Terrorismusbekämpfung unter Rückgriff auf maoistisches Gedankengut zur Massenbewegung erklärt. Der "Volkskrieg" bezeichnete ursprünglich eine defensive Militärstrategie, die Mao Zedong aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs gegen Japan sowie im Bürgerkrieg gegen die Kuomintang entwickelt hatte. Diese Strategie sah vor, sich im Falle eines Angriffs in das eigene Territorium zurückzuziehen und den Angreifer durch nichtlineare, dezentrale Kriegführung, Guerillataktiken sowie unter Einsatz aller Bevölkerungsteile zu zermürben.
Im Kontext von Chinas Antiterrorkampf bedeutet dies die gezielte Rekrutierung und Einbeziehung der Bevölkerung – wörtlich: der "Massen" – in die Arbeit der Sicherheitskräfte. Während die Aufforderung zur Denunzierung in autoritären Staaten ein übliches Mittel ist, um die Reichweite staatlicher Kontrolle zu erhöhen, setzt China auf eine aktive Mobilisierung zur gegenseitigen Überwachung – auch innerhalb der uigurischen Bevölkerung. Laut Antiterrorgesetz sollen Regierungen auf allen Ebenen dazu beitragen, Freiwilligengruppen in Gemeinden zu rekrutieren, die den Sicherheitskräften zuarbeiten.
Ganz im Sinne eines dezentralen "Volkskriegs" haben Lokal- und Provinzregierungen freie Hand, wie sie ihre Zusammenarbeit mit den Bürgern in der Praxis gestalten. Einige Städte haben mittlerweile Tausende Bürger rekrutiert, um Fahrzeuge zu durchsuchen, Nachbarschaften zu überwachen und Verdächtige festzusetzen. Einige Stadtregierungen außerhalb Xinjiangs fordern ihre Bürger auf, der Polizei zu berichten, wenn Uiguren oder Muslime in die Nachbarschaft ziehen. Andere berichten von erzwungenen Umsiedlungen von Uiguren, willkürlichen Hausdurchsuchungen und Verhaftungswellen.
Die meisten Regierungen auf Provinzebene und einige Städte bieten ihren Informanten auch finanzielle Anreize. Xinjiang hat seine maximale Belohnung für einen Hinweis von kritischer Bedeutung im April 2016 von 500.000 Yuan auf nicht weniger als fünf Millionen Yuan (etwa 675 Euro) erhöht. Erstinformanten können alternativ auch mit einer Festanstellung im öffentlichen Dienst belohnt werden.
Ein zentrales Element in Pekings Propaganda ist die Aufforderung zur "ethnischen Einigkeit" der Bevölkerung. 200000 Parteikader hat die Kommunistische Partei 2014 nach Xinjiang entsandt, um durch "Graswurzelprojekte" mit der lokalen Bevölkerung die "Unterstützung des Volkes zu gewinnen und die Stabilität zu verbessern".
Entgegen dieser Bemühungen hat China auch einige Initiativen gestartet, die aus Sicht vieler Uiguren auf eine kulturelle Assimilation abzielen. Xinjiangs Regierung versucht, durch Umsiedlungsprogramme die "Durchmischung" zwischen Minderheitengruppen und Han-Chinesen zu fördern. Mehrere lokale Regierungen haben finanzielle Anreize für interethnische Eheschließungen eingeführt.
Weniger Terroranschläge, aber anhaltende Spannungen
Gemessen an der Berichterstattung parteistaatlicher Medien über Anschläge ist die Anzahl terroristischer Gewalttaten seit der Ausrufung des sogenannten Volkskriegs gegen den Terrorismus deutlich gesunken. Offizielle Medien berichteten im Verlauf des Jahres 2015 von vier Terroranschlägen (Vorjahr: 20), von denen nur einer außerhalb Xinjiangs stattfand. Der Minister für Öffentliche Sicherheit, Guo Shengkun, erklärte im Herbst 2015, dass viele Terroranschläge durch die umfassenden Überwachungsmaßnahmen vereitelt werden konnten.
Auch ausländische Medien wie Radio Free Asia berichteten 2015 von deutlich weniger Anschlägen und Unruhen als in den Vorjahren. In ihren Berichten lassen sich aber Hinweise auf immerhin drei weitere Anschläge finden, über die die staatlichen Medien nicht berichtet hatten – darunter ein Mordanschlag auf einen han-chinesischen Bürgermeister und ein Sprengstoffangriff auf eine Polizeistation mit 28 Toten. Auch über den blutigen Anschlag auf eine Kohlemine mit insgesamt etwa 100 Toten und Verletzten im September 2015 berichteten die offiziellen Medien erst zwei Monate nach dem Vorfall, als die Meldung in ausländischen Medien schon um die Welt gegangen war.
Doch selbst wenn die Zahl der Terroranschläge der Berichterstattung nach gesunken ist, bedeutet dies nicht unbedingt weniger Gewalt in Xinjiang. Menschenrechtsorganisationen und regierungskritische Medien berichteten 2015 von zahlreichen Einsätzen und Razzien der BVP, bei denen häufig nicht nur mutmaßliche Terroristen, sondern auch deren Nachbarn und ganze Familien getötet wurden.
Preis der Stabilität: Höhere Gefahr der Radikalisierung
Die steigende Präsenz chinesischer Staatsangehöriger in terroristischen Organisationen in anderen asiatischen Ländern sowie in den Krisengebieten des Nahen Ostens ist zudem ein Zeichen für eine strategische Umorientierung in der islamistischen Szene Chinas. Im März 2015 räumte Zhang Chunxian ein, dass der sogenannte Islamische Staat weiterhin erfolgreich in Xinjiang rekrutiere. Offizielle Quellen haben bislang keine genauen Zahlen veröffentlicht. Medien berichteten Ende 2014 noch von etwa 300 Uiguren, die sich dem "Islamischen Staat" angeschlossen hätten.
Mit der flächendeckenden Überwachung der Minderheitengebiete stellt Peking Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten unter Generalverdacht. Die Ausstattung von Sicherheitskräften mit unbegrenzten Befugnissen und die Rekrutierung der Bevölkerung zur gegenseitigen Überwachung fördern das Misstrauen im öffentlichen Leben und besonders gegenüber Minderheiten. Dass Regierungen auf allen Ebenen ihren Bürgern sogar finanzielle Anreize in Millionenhöhe für die Denunzierung von "terrorverdächtigen" Nachbarn geben, ist dabei besonders bedenklich. Denn Uiguren, die zu Unrecht unter Verdacht geraten oder sich "zur falschen Zeit am falschen Ort" befinden, sind einer absichtlich unklar gehaltenen Rechtslage ausgeliefert, die im Zweifelsfalle immer eine Verurteilung als Terrorist ermöglicht.
Auch Pekings Minderheiten- und Entwicklungspolitik trägt indirekt zu den Spannungen bei. Viele Maßnahmen fordern die einseitige Anpassung von Minderheiten an die Weltanschauung und den Lebensstil der han-chinesischen Bevölkerung. Peking behandelt die ethnische Identität und die religiösen Überzeugungen von Uiguren wie ein Problem, das gelöst werden muss, bevor in Xinjiang Frieden und Stabilität einziehen können. Dabei steht die jetzige Generation uigurischer Jugendlicher unter noch größerem Druck als ihre Eltern und Großeltern. Sie werden in Schulen von einer Vielzahl von Bildungsinitiativen umworben, die ihnen vermitteln, dass Hochchinesisch ihre Nationalsprache und die Sprache der Moderne sei und dass sie ihren Glauben der Doktrin der Partei unterzuordnen hätten.
Pekings "Volkskrieg gegen den Terrorismus" mag vorerst effektiv gewesen sein, um die akute Anschlagsgefahr auf chinesischem Boden zu verringern. Ob er als nachhaltige Strategie trägt, ist fraglich. Denn die Gefahr ist groß, dass der "Volkskrieg" einige der Hauptursachen des Terrorismus in China – die Radikalisierung von Uiguren gegen die wahrgenommene "Fremdherrschaft" der Han-Chinesen und die Angst vor dem Verlust der kulturellen Identität – nicht lindert, sondern verschärft.