Die zentrale Rolle von Gewalt für Expansion, Machtanspruch und Machterhalt des selbsternannten "Islamischen Staats" zu erkennen, bedarf keiner eingehenderen Analyse: Die Kriegsrhetorik seiner Repräsentanten, die Brutalität seiner Kämpfer, aber vor allem die Zelebrierung "entgrenzter Gewalt" in sorgsam inszenierten Videoclips des gruppeneigenen "Al-Hayat Media Center" sprechen eine allzu deutliche Sprache. Doch inwiefern Gewalt und die Möglichkeit ihrer Anwendung den Prozess der Ausdehnung und Aufrechterhaltung der territorialen Kontrolle und der Herrschaft über dieses Territorium dynamisiert und definiert, stellt uns mit Blick auf terroristische Anschläge jenseits dieses Territoriums vor ein analytisches Dilemma: Im Hinblick auf die zeitgleich sehr unterschiedlichen Arten des Gewalthandelns Daeshs, wie der "Islamische Staat" hier bezeichnet werden soll, scheint die Trennschärfe zwischen Terror "von oben" und Terrorismus "von unten", zwischen staatstypischer und nichtstaatlicher Gewalt, vor unserem analytischen Auge zu verschwimmen. Was tun, wenn die soziale Realität den Rahmen bewährter Konzepte sprengt?
Eine abschließende Antwort kann insbesondere aufgrund der Informationslage in absehbarer Zeit nicht gegeben werden – wenig Überprüfbares aus den kontrollierten Gebieten steht der permanent hohen Dynamik des Geschehens vor Ort gegenüber. Die Einblicke, die der externe Beobachter durch Propagandamaterial und Augenzeugenberichte bereits heute erhält, zeigen, dass sich drakonische Strafen für jedwede Dissidenz mit einer fortschreitenden Professionalisierung staatstypischer Überwachung und dem langfristigen Ziel der Gruppe, der totalen Kontrolle über eine ihr durch freie Entscheidung, Umstände und Zwang zugeführte Bevölkerung, paaren. Sich mit diesem territorialen Anspruch auseinanderzusetzen, bedeutet nicht, den "Islamischen Staat" als eben einen solchen und somit als legitim im Sinne des Völkerrechts anzuerkennen. Vielmehr geht es darum, Territorialität als zentrales Element der religiös motivierten Ideologie einer endzeitlich-totalitären Bewegung zu verstehen und den territorialen Anspruch der Gruppe entsprechend ernst zu nehmen.
Um dies analytisch zu bewältigen, wird in diesem Beitrag sowohl für einen interdisziplinären Brückenschlag als auch für eine Wiederaufnahme der verstummten Totalitarismusdebatte in Deutschland und ihre Anbindung an die internationale Debatte zum totalitären Charakter der Bewegung des dschihadistischen Salafismus argumentiert. Zweifelsohne kann die Entscheidung, das Kalifatsprojekt Daeshs mithilfe der modernen Staatstheorie zu untersuchen, kritisch betrachtet werden und muss sich in der Fallanalyse bewähren. Im Folgenden sollen deshalb erste Überlegungen zumindest das Erkenntnispotenzial dieses Vorgehens belegen sowie analytische Herausforderungen und theoretische Leerstellen aufzeigen.
Unterscheidung von Staatsterror und nichtstaatlichem Terrorismus
Weder das Phänomen des Terrorismus noch die Grenze zwischen legitimem und illegitimem Gewalthandeln staatlicher Repräsentanten gegenüber der Bevölkerung sind abschließend definiert. Lediglich die analytische Unterscheidung zwischen staatlichem Terror "von oben" und nichtstaatlichem Terrorismus "von unten" ist, zumindest größtenteils, unstrittig – liefert die Differenzierung doch zuverlässige und scharfe Werkzeuge für das Klassifizieren und Verstehen von Gewalt in Gesellschaften und die Auswirkungen ihrer Organisation und Institutionalisierung. Mit Blick auf die vom Territorium des "Islamischen Staats" aus gesteuerten Anschläge in Paris 2015 und Brüssel 2016 und die Selbstmordattentate in der Region lässt sich das Gewalthandeln Daeshs als terroristisch verstehen, als "planmäßig vorbereitete, schockierende Gewaltanschläge gegen eine politische Ordnung aus dem Untergrund", aber auch gegen die Zivilbevölkerung und Vertreter des erklärten Feindes, um "Unsicherheit und Schrecken (zu) verbreiten, daneben aber auch Sympathie und Unterstützungsbereitschaft (zu) erzeugen". Das mit dem territorialen Anspruch und der territorialen Kontrolle verbundene Gewalthandeln Daeshs lässt sich demgegenüber jedoch nicht unter diese Definition subsumieren.
Denn in den kontrollierten Gebieten tritt mehr und mehr "staatstypisches" Gewalthandeln an die Stelle terroristischer Akte, wobei langfristig das Ziel erkennbar wird, die entgrenzte Gewalt des Kriegs aus der Gesellschaft an die Ränder des kontrollierten "Territoriums" zu drängen. Gemeint ist die für Staatsbildungsprozesse typisierte, parallel zur Zentralisierung von (staatstypischem) Gewalthandeln erfolgende Externalisierung von Gewalt zur inneren Befriedung der Gesellschaft. In der religiös motivierten Ideologie findet sich dieser Prozess in der Schwarz-Weiß-Zeichnung zwischen dem Kalifat als dār al-islām, der muslimischen Heimat des friedlichen Zusammenlebens, und allen Gebieten außerhalb als dār al-ḥarb, der Heimat des Kriegs. Erzeugt wird nicht nur eine gruppenkohäsive Situation des "Wir gegen die Anderen", sondern das Gefühl der Umzingelung durch einen übermächtigen und entmenschlichten Feind. Diese "Belagerungssituation" lässt das exzessive Gewalthandeln nicht nur gegenüber dem äußeren Feind, sondern auch gegenüber den Feinden im Innern, den angeblichen Zweiflern, Abtrünnigen und Verrätern, als Ultima Ratio erscheinen. Auf dem eigenen Gebiet ersetzt staatstypisches Gewalthandeln terroristische und Kriegsgewalt, um entlang totalitärer Logiken akute Konflikte aufzulösen beziehungsweise zu unterdrücken sowie zukünftige zu verhindern.
"Staatstypisches" Handeln einer terroristischen Gruppierung?
Die Idee, ein Kalifat wie zur Zeit des Propheten Mohammed und seiner Gefährten zu errichten, ist weder neu noch eine spezifische Idee Daeshs. Doch mit der zumindest zeitweiligen Einlösung dieses Versprechens unterscheidet sich Daesh grundlegend von anderen salafistischen Projekten: Die "Ausrufung des Kalifats" und die bislang beobachtbare Zunahme des Organisationsgrads auf den kontrollierten Gebieten bilden als umspannendes Rechtfertigungsnarrativ die zentrale Legitimationsgrundlage des Gewalthandelns nach außen, gegenüber den erklärten Feinden und unmittelbaren Konkurrenten, aber auch nach innen, gegenüber der eigenen "Bevölkerung". Diese Fokussierung auf Territorialität als Legitimationsgrundlage führt jedoch gleichzeitig zu extremer Abhängigkeit Daeshs vom Erhalt der Kontrolle über Territorium als Manifestation der Kalifatsidee. Die bereits jetzt in Syrien und dem Irak beobachtbaren Maßnahmen und sich herausbildenden Organisationsstrukturen bringen zwar auch Methoden und Funktionsabläufe vormoderner, subsidiärer Herrschaft, wie sie beispielsweise auch die Talibanherrschaft gekennzeichnet hatten, zur Anwendung. Doch fällt im Vergleich zum "Islamischen Emirat" der Taliban, das häufig auch als "Anti-Staat" beschrieben wird, Daeshs verstärkte Orientierung an den Strukturen und Funktionen des modernen Nationalstaats auf.
Subsidiäre Herrschaft meint eine direkte, niedrigschwellige Herrschaftsausübung durch lokale Repräsentanten der selbsterklärten Zentralmacht mit häufig unklarer Befugnis und Aufgabenprofil. Herrschaft drückt sich an dieser Stelle als soziale Praxis aus, die im Kriegskontext Syrien und Irak vor allem auch den gegenseitigen Abhängigkeiten von "Herrschenden" und "Beherrschten" sowie der Veränderlichkeit dieser Beziehungen und Rollen Rechnung tragen muss. Methoden subsidiärer Herrschaftsausübung sind im Fallbeispiel "Islamischer Staat" unter anderem Aushänge, Patrouillen im öffentlichen Raum, "Hausbesuche", um die Regeleinhaltung anzumahnen, und sofortige Strafanwendung bei Zuwiderhandlung. Der Anspruch zentralstaatlicher Regulierung kommt nicht nur in der Einforderung und Anwendung von Hoheitsrechten und -abzeichen durch die offiziellen Repräsentanten Daeshs zum Ausdruck, wie beispielsweise in der Währungsverfassung oder der Staatsflagge. Der selbsterklärte Kalif Abu Bakr al-Baghdadi fordert das legitime Gewaltmonopol und somit auch die letztverbindliche Entscheidungsgewalt auf dem kontrollierten Territorium für sich und die Elite der Bewegung. Die Versuche, staatliche Institutionen wie Polizeistationen und Gerichte zu etablieren und mit der Unterstützung sympathisierender Experten noch bestehende Strukturen des syrischen und irakischen Staats wie Schulen, Universitäten und Krankenhäuser zu übernehmen, sind hierfür beredte Indizien.
Mit Blick auf das zugängliche Material überlappen sich die beiden identifizierten Formen der Herrschaftsausübung an vielen Stellen, der Übergang zwischen ihnen ist fließend. So ist bei zahlreichen Praktiken, wie den Enteignungen in Raqqa oder Mossul, unklar, ob diese zentral angeordnet oder lediglich dem "Recht des Stärkeren" im Kriegskontext geschuldet sind. Jenseits von Fragen nach Funktionalität und Effizienz der eingeführten Institutionen ist dennoch davon auszugehen, dass regulative Maßnahmen wie die Einrichtung von Schiedsgerichten zunächst auch stabilisierende Effekte erzeugen. Kritik oder gar Dissidenz und Opposition sind in diesem System jedoch nicht vorgesehen – widersprechen sie doch dem absoluten Wahrheitsanspruch der Führungselite Daeshs. Dieser wird, ob nun durch Maßnahmen subsidiärer Herrschaft oder verrechtetes Staatshandeln, kompromisslos und gewaltsam durchgesetzt, mit dem Ziel der absoluten, totalen Kontrolle der Gesellschaft.
Totalitäre Elemente in der Herrschaftsausübung
Eine erschöpfende Identifikation totalitärer Elemente der Herrschaftspraxis Daeshs kann nicht im Rahmen dieses Beitrags erfolgen, doch sollen erprobte Herrschaftstypologien der Totalitarismusdebatte zumindest eine erste Orientierung geben. Nicht zuletzt war es die Totalitarismustheorie Hannah Arendts, die die Willkür staatlichen Terrors im totalitären Regime als die Fortsetzung von Terrorismus mit staatlichen Mitteln zum Zweck der Beherrschung der Massen beschrieb. Arendts Ansatz wurde nun nicht allein aufgrund der resultierenden "Verwässerung" des Terrorismusbegriffs, sondern auch hinsichtlich seiner analytischen Unschärfe kritisiert. Zweifelsohne kann Terror im Sinne von Schrecken durch tatsächliche und/oder befürchtete Gewaltanwendung allein weder das Entstehen totalitärer Herrschaft noch ihre Verstetigung, Dauerhaftigkeit oder gar ihren Wandel erklären. Doch die totale Kontrolle der Gesellschaft und den aus der Willkürlichkeit dieser Kontrolle resultierenden Terror ins Zentrum der Betrachtung zu stellen, eröffnet eine Erklärungskraft und Anschlussmöglichkeit, wie sie reine Typologien, abgeleitet aus totalitärer Herrschaft, also aus abgeschlossenen Prozessen der Totalitarisierung von Gesellschaften, nicht bieten. Denn dort, wo im selbsterklärten "Islamischen Staat" der effiziente, zentralisierte und bürokratische Staat und seine Institutionen noch fehlen, ist der Terror bereits im Alltag der Menschen allgegenwärtig. Um die scheinbaren Widersprüche zwischen Arendts und anderen Totalitarismustheorien ein Stück weit aufzulösen, bieten sich die Ansätze Peter Graf Kielmanseggs und Richard Löwenthals mit ihrem Fokus auf das Primat der Ideologie und die Kriterien totaler Kontrolle an.
Kielmansegg benennt als zentrale Merkmale totalitärer Herrschaft(spraxis) die Monopolisierung und Zentralisierung der finalen Entscheidungsmacht, die Entgrenzung der Reichweite von Entscheidungen sowie die Entgrenzung von Sanktionierung und somit letztlich die "Entgrenzung von Gewalt" im engen wie im weiten Sinne. Die Rolle von Terror innerhalb dieses Systems charakterisiert hingegen Löwenthals Ansatz, der nicht den Terror an sich, sondern die "institutionelle Möglichkeit" des Terrors als zentrales Merkmal der totalitären Herrschaft identifiziert. Diese sei durch Logiken und Mechanismen innerhalb des politischen Systems angelegt und nur in Zusammenhang mit der Zielsetzung und Dynamik dieser Ordnung sinnhaft, also der "ideologisch orientierte(n), (gewaltsamen) Umwälzung der Gesellschaft". Für Löwenthal legitimiert sich "die echte totalitäre Diktatur (…) durch ein örtlich und zeitlich unbeschränktes ideologisch-utopisches Ziel. (…) Und das bedeutet, dass jeder Umwandlungserfolg, am Maßstab dieser Ideologie gemessen, als eine bloße Etappe erscheint. (…) Der Versuch, diese Utopie zu verwirklichen, rechtfertigt daher immer wieder neue Umwälzungen" und somit die Aufrechterhaltung des diktatorischen, totalitären Systems.
Löwenthal folgend ist der erste Ansatz zur Analyse der Herrschaftspraxis Daeshs dementsprechend die Identifikation des zeitlich und räumlich unbeschränkten ideologisch-utopischen Ziels der Gruppe. Augenfälliger Unterschied zu den totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts ist die Verquickung von politischer Ideologie und religiöser Doktrin. Denn Daesh definiert nicht allein ein politisches Fernziel, das alle Muslime vereinigende Kalifat, sondern auch ein apokalyptisches, nämlich den Sieg der Muslime über die "westliche Welt" in einer schicksalhaft unausweichlichen Endschlacht. Mit Verweis auf ein paradiesisches Jenseits und die Ankündigung der apokalyptischen Endzeit ist das Endziel Daeshs räumlich und zeitlich entgrenzt und dient entsprechend als ultimative Legitimation allen Gewalthandelns nach innen und außen.
Den Institutionalisierungsbemühungen und dem damit verbundenen Gewalthandeln auf den kontrollierten Gebieten ebenso wie den terroristischen Akten Daeshs außerhalb des kontrollierten Territoriums kommt mit Blick auf diese Logik die gleiche Funktion zu, nämlich auf das utopische Endziel hinzuwirken. Dabei ist die Ausübung jedweder Gewalt nicht Selbstzweck. Vielmehr zielt sie auf eine bestimmte Wirkung: In der Vergangenheit ausgeübte, entgrenzte Gewalt vergegenwärtigt die "institutionelle Möglichkeit" von Terror nach innen und die funktionelle Möglichkeit von Terror im Sinne der Fähigkeit, terroristische Anschläge zu begehen, nach außen. Gemeinsam ist beiden Arten von Gewalthandeln also die Erzeugung von "Terror" im engsten Sinne, wobei sich die Allgegenwart von erfahrenem und befürchtetem Schrecken nicht allein gegen die erklärten, äußeren Feinde der Bewegung richtet, sondern vor allem auch gegen diejenigen, die im Inneren des Territoriums nicht selbstbestimmt und freiwillig Teil des Projekts "Islamischer Staat" werden oder bereits geworden sind.
Die frappierenden Parallelen zwischen der Dynamik totalitärer Systeme des 20. Jahrhunderts und den beobachtbaren Institutionalisierungsbemühungen Daeshs lösen derzeit ortsunabhängig ein neues Nachdenken über die Dimension des ideologischen Anspruchs Daeshs und die damit verbundenen Implikationen aus. Auch die hier erfolgte, überblicksartige Betrachtung der Herrschaftspraxis der Gruppe bescheinigt ihr totalitäre Züge. Um diese Manifestationen von den säkularen Bewegungen des 20. Jahrhunderts abzugrenzen, ist nun eine begriffliche Differenzierung angezeigt. Die Bezeichnung "transzendenter Totalitarismus" ist vielleicht geeignet, um den religiösen Elementen der Daesh zugrundeliegenden totalitären Ideologie Rechnung zu tragen: Jenseits des Terrors scheint es vor allem das transzendente, auf Gott gerichtete Moment zu sein, das die totalitär verfasste Gesellschaft des Kalifatsprojekts in Syrien und Irak in ihrem Innersten zusammenhält.
Der Untergang des "Kalifats" bannt nicht zwangsläufig auch seine Idee
Trotz empfindlicher militärischer Rückschläge übt Daesh 2016 noch immer die Kontrolle über ein Gebiet aus, das das Territorium vieler anerkannter Nationalstaaten übertrifft. Dort bemüht sich die weiterhin auch terroristisch agierende Gruppe mit Hilfe staatstypischen Gewalthandelns um die Stabilisierung und Sicherung ihrer Herrschaft. Dabei bedeutet die Gleichzeitigkeit terroristischen Gewalthandelns "von unten" mit ansonsten an staatliche Organisation geknüpftem, institutionalisiertem Terror "von oben" nicht allein eine militärische und politische, sondern vor allem auch eine theoretische Herausforderung. Die separate Betrachtung der Herausbildung staatstypischer und terroristischer Gewalt kann hier nur ein erster analytischer Schritt sein, denn es wird davon ausgegangen, dass beide Formen des Gewalthandelns gleichermaßen dem offiziellen, utopischen Endziel der Bewegung nachgeordnet sind und auf diese Weise eng miteinander in Beziehung stehen: Die Errichtung eines nach den eigenen Lehren gestalteten Kalifats und seine fortwährende Expansion sind gleichzeitig Ziel und Legitimationsgrundlage allen Gewalthandelns. Der von mehreren Beobachtern aufgrund der militärischen Niederlagen in Syrien und Irak identifizierte "Strategiewechsel" Daeshs, sich vermehrt auf Anschläge im europäischen Ausland zu konzentrieren, ist somit eher als strategische Prioritätenverschiebung, um das übergeordnete Ziel zu erreichen, zu interpretieren, die jederzeit wieder revidiert werden kann.
Zumindest bis zu den ersten empfindlichen Niederlagen des Sommers 2015 nutzten Daesh die Organisationsprozesse und die damit einhergehende Institutionalisierung der Staatsidee durch ihre integrativen Effekte weitaus mehr, als dass sie schadeten. Durch die effiziente Kontrolle des Informationsflusses vom besetzten Territorium nach außen und die totalitäre Kontrolle des sozialen Lebens nach innen wurde der kreierte Nimbus des dschihadistischen Utopia zumindest gegenüber der potenziellen Anhängerschaft aufrechterhalten. Wie zeithistorische Beispiele zeigen, können jedoch selbst totalitäre Regime nicht langfristig allein auf der Grundlage von Terror und Gewalt, legitimiert durch ein utopisches Endziel, funktionieren, auch sie sind abhängig vom Erhalt schweigender Zustimmung. Der Führung Daeshs scheint dies durchaus bewusst zu sein, versucht sie doch die Kalifatsidee zusätzlich durch Sicherheitsgarantien und soziale Anreize zu legitimieren.
Eine unbekannte Größe in dieser Rechnung bleibt allerdings weiterhin die Einbindung religiöser Ziele und Legitimation in die zerstörerische Logik des Totalitären. Welche Konsequenzen die erfolgreiche Instrumentalisierung religiöser Maximen, des ultimativen Wahrheitsanspruchs göttlicher Offenbarung und der damit verbundenen Jenseitsvorstellungen und -legitimationen nicht nur für die Attraktivität der Gruppe Daesh, sondern auch für die Herausbildung möglicher Nachahmer haben kann, ist noch nicht abzuschätzen. Denn ungeachtet der Möglichkeit der baldigen Auflösung des Kalifatsprojekts in Syrien und Irak bildet sich bereits jetzt eine noch akutere Bedrohung in der Region heraus: Der enorme Zulauf, den zahlreiche andere dschihadistisch-salafistische Gruppierungen von Libyen über den Jemen bis nach Afghanistan allein durch den Treueschwur auf al-Baghdadi als Trittbrett-Provinzen verzeichnen konnten, hat die Konflikte in der Region weiter verschärft. Der Geist der Kalifatsidee im 21. Jahrhundert ist aus der Flasche, und auch das Ende des "Islamischen Staats" in Syrien und Irak wird ihn nicht ohne Weiteres wieder dorthin zurück verbannen.