Der Beginn der "Großen Proletarischen Kulturrevolution", die zehn Jahre lang (1966 bis 1976) in China wütete, jährt sich 2016 zum 50. Mal. In den Augen vieler westlicher Beobachter war diese Phase der chinesischen Geschichte von einem schier endlosen Strom eindringlicher Propagandaplakate gekennzeichnet. Doch man hat den Eindruck, ihnen ist dieses Kommunikationsmittel erst zu dieser Zeit bewusst aufgefallen. Tatsächlich wurden Plakate in der Volksrepublik China schon immer genutzt, um die Dinge darzustellen, die die Staatsführung für die ökonomische und politische Modernisierung des Landes als besonders wichtig erachtete. Die Plakatpropaganda war dabei stets eingebettet in eine breitere Kommunikationsstrategie, die auch Zeitungen, Filme, Radiosendungen, Literatur, Lyrik, Malerei, Bühnenstücke und Musik umfasste. In einem Land, in dem es so viele Analphabeten gab wie seinerzeit in China, schienen Plakate besonders gut geeignet, um das Volk zu "bilden" und den vielen verschiedenen abstrakten politischen Maßnahmen und grandiosen Zukunftsvisionen der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) konkreten Ausdruck zu verleihen.
Ein bevorzugtes Vehikel politischer Kommunikation waren Plakate zudem, weil sie sich kostengünstig und einfach produzieren ließen. Sie waren breit einsetzbar und überall zu sehen. Sie boten außerdem ein hervorragendes Mittel, um ansonsten eintönige Orte aufzuhellen. So durchdrangen sie sämtliche Sphären der Gesellschaft – von Büros und Fabriken über Privatwohnungen bis hin zu Schlafsälen. Um die aktuellen politischen Trends so detailliert wie möglich ins Bild zu setzen, wurden die talentiertesten Künstler engagiert. Vor der Gründung der Volksrepublik 1949 hatten viele von ihnen als Werbezeichner gearbeitet, nun wurden sie von der Regierung und den Parteiorganisationen vereinnahmt. Ihre Plakate sollten einen Blick in die Zukunft ermöglichen: Sie zeigten nicht das Leben, wie es wirklich war, sondern wie es sein sollte. Propaganda wurde so zu einer Art "Faktion", einer Mischung aus Fakt und Fiktion, die nur das Positive betont und alles Negative ausblendet.
Eine Inspiration für die KPCh war auch der Sozialistische Realismus, wie er sich in der Sowjetunion seit den 1930er Jahren entfaltet hatte. Rasch wurde diese Stilrichtung auch in China adaptiert, wodurch sich wiederum neue Kunstformen herausbildeten. Der Sozialistische Realismus konzentrierte sich auf die Darstellung von Industrieanlagen, Hochöfen, Kraftwerken, Baustellen und freudig ihrer Arbeit nachgehenden Menschen; insofern lieferte er einen realistischen Blick auf das Leben, jedoch gemalt in den rosigen Farben des Optimismus.
In den frühen Jahren der Volksrepublik standen vor allem die großangelegte Industrialisierung, die gesteigerte landwirtschaftliche Produktion sowie die Emanzipation der Arbeiter, Bauern und Soldaten im Mittelpunkt der Plakatpropaganda. Während des sogenannten Großen Sprungs nach vorn (1958 bis 1960) wurden die Stahlproduktion in Kleinbetrieben und die landwirtschaftliche Produktivität betont. Mit der Kulturrevolution ab 1966 begannen politische Elemente die Kunst zu dominieren. Jedes Stückchen des Plakatdesigns war nun durchtränkt von politischer Symbolik – von der Verwendung bestimmter Farben bis zur exakten Platzierung von Personen in der Bildkomposition. Die revolutionäre (Plakat-)Kunst wurde erstmalig sogar zum bevorzugten Vehikel der Parteiideologie, statt nur eine unter vielen Komponenten einer größeren Kommunikationsstrategie zu sein. Dennoch wurde die Diskrepanz zwischen dem, was auf den Plakaten dargestellt wurde, und der tatsächlichen Realität zugleich immer greifbarer. Dies machte es zunehmend schwerer, die transportierten Botschaften zu "schlucken".
Der Niedergang der Plakatpropaganda begann in den frühen 1980er Jahren, also einige Zeit nach Maos Tod und dem Ende der Kulturrevolution (beides 1976). Unter Deng Xiaoping legte die KPCh ihr Hauptaugenmerk auf die wirtschaftliche Entwicklung des Landes, zugleich öffnete sich China dem Westen. Die revolutionären Plakate aus den vergangenen Zeiten hatten ihren Zweck verloren und wurden nun zu vermarktbaren Produkten, zu Sammlerstücken.
Fragen nach der Rezeption, Popularität und dem Einfluss der Propagandaplakate sind schwierig zu beantworten. Die meisten chinesischen Quellen halten an der offiziellen Deutung fest, dass die Plakate der Bevölkerung im Allgemeinen gefielen. Allerdings ist in diesen Berichten – unabhängig davon, ob sie in den frühen Tagen der Volksrepublik oder später geschrieben wurden – nichts über eventuelle Bildungseffekte zu erfahren, die die Plakate gehabt haben könnten. Aus über sechs Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft gibt es keinen Beleg dafür, dass die Partei jemals erwogen hat, die Rezeption oder die Wirksamkeit ihrer Plakatbotschaften zu erforschen: Sie wurden schlicht als das richtige Medium zur richtigen Zeit gesehen. Aus den zahlreichen Gesprächen, die ich in über 35 Jahren mit Chinesinnen und Chinesen aus verschiedensten gesellschaftlichen Schichten geführt habe, ergibt sich ein Bild, das von der offiziellen Lesart der Wertschätzung und Effektivität der Plakate abweicht. Viele betonen, dass "niemand in China diese Dinge mochte" oder "ohnehin niemand sie kaufen würde".
Es bleibt somit im Unklaren, wie die Menschen seinerzeit tatsächlich über die Plakate dachten, oder ob sie das, was sie sahen, wirklich ablehnten. Wir können weder sicher sein, dass die Plakate die gewünschten Botschaften der KPCh transportierten, noch, dass sie erfolgreich waren und Haltungen oder gar Handlungen im Sinne des Regimes beeinflusst haben.
50 Jahre nach Beginn der Kulturrevolution ist es schwer vorstellbar, dass die Plakatpropaganda in China noch einmal eine Renaissance erfahren könnte. Mit mehr als 700 Millionen Internetnutzerinnen und -nutzern gehört China heute zu den am besten vernetzten Ländern. Die chinesische Gesellschaft und die chinesischen Medien sind inzwischen extrem kommerzialisiert. Und auch wenn der derzeitige Staatschef Xi Jinping 2012 eine politische Kampagne rund um den "Chinesischen Traum" in Gang gesetzt hat, in deren Zuge die Verwendung von Plakaten ein gewisses Comeback erlebt: Die Intensität ist nicht die gleiche.
Diese Chinesischer-Traum-Poster werden im Stadtbild leicht als Selbstverständlichkeit hingenommen, scheint man ihnen doch kaum entgehen zu können. Die entsprechenden Bilder verdecken buchstäblich die weniger erstrebenswerten Aspekte der Urbanisierung – etwa, indem sie den Blick auf Baustellen oder heruntergekommene, von Wanderarbeitern genutzte oder für den Abriss vorgesehene Wohnsiedlungen versperren. Viele Stadtbewohnerinnen und -bewohner sind verärgert über das neue Propagandabombardement und bezeichnen die Plakatbilder schlicht als "Müll". Die dafür verwendeten Gelder, so ihre Auffassung, könnten stattdessen besser genutzt werden, um der einfachen Bevölkerung zugutezukommen. Und je häufiger und ausgedehnter einem die Mahnrufe auf Plakaten begegneten, desto verlogener kämen sie daher.
Dies könnte schließlich der interessanteste und am wenigsten erwartete Effekt von über sechs Jahrzehnten Propaganda zu politischen, sozialen und normativen Angelegenheiten sein: dass die Menschen in China inzwischen in der Lage sind, ihre Haltungen und Gedanken dazu zu äußern, positiv wie negativ, und dass sie dafür – im Gegensatz zu früher – die Freiheit und passenden Worte haben.