Außerhalb der Volksrepublik (VR) China scheint weitgehend Konsens darüber zu bestehen, dass es der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) gelungen sei, eine Diskussion über die Kulturrevolution, die nach offizieller Periodisierung 1966 begann und 1976 endete, zu unterdrücken und diese Phase der chinesischen Zeitgeschichte der Vergessenheit anheim zu geben. Ein genauer Blick auf die Verhältnisse zeigt jedoch, dass diese Auffassung auf einem Vorurteil beruht. Nicht nur ist die Kulturrevolution für alle, die an ihr beteiligt waren, von herausragender Bedeutung, weshalb in allen gesellschaftlichen Bereichen spätestens seit 1976 beziehungsweise seit der Entmachtung der sogenannten Viererbande um die Mao-Witwe Jiang Qing genauso viel diskutiert und erinnert wird wie unter den Heimkehrern aus dem Zweiten Weltkrieg in Europa. Auch die KPCh hat versucht, die Bevölkerung in eine von ihr dominierte Aufarbeitung der Kulturrevolution einzubeziehen und ihr in diesem Zusammenhang einen offiziellen Blick auf die "Zehn Jahre des Chaos" vorzuschreiben.
Bücher und Artikel über die Kulturrevolution, die in chinesischer Sprache seit 1976 erschienen sind, füllen Regale in Bibliotheken wie der des berühmten John K. Fairbank Centers for Chinese Studies an der Harvard University. In den vergangenen Jahren findet man zudem unzählige Stellungnahmen zur Kulturrevolution im chinesischsprachigen Internet, und nicht wenige literarische Werke sowie Filme aus der VR China beschäftigen sich direkt oder indirekt mit den Ereignissen der Zeit zwischen 1966 und 1976. Je mehr die Kulturrevolution in der chinesischen Gesellschaft diskutiert wird, umso mehr muss die Führung der KPCh erkennen, dass es ihr nicht gelungen ist, die Erinnerung zu dominieren. So greift sie zum Mittel der Tabuisierung und kann auch diese nicht durchsetzen. 40 Jahre nach dem Ende der Kulturrevolution hat die Gesellschaft in der VR China noch keinen Konsens zur Erinnerung an diese Phase gefunden. Stattdessen ist die Erinnerung fragmentiert und geprägt von einander gegenseitig bekämpfenden Fraktionen. Empathie oder Respekt für die Opfer ist keineswegs selbstverständlich, die Bestrafung der Täterinnen und Täter wurde nicht flächendeckend vorgenommen. Versöhnung ist so kaum möglich. Der chinesische Philosoph und Kulturrevolutionsforscher Xu Youyu hat schon vor vielen Jahren die Frage gestellt, wie es möglich sein kann, dass die Aktivisten der damaligen Zeit so wenig Empathie für ihre Opfer zeigen und es nicht wagen, der Vergangenheit ins Auge zu sehen.
Dabei ist zwischen offiziellem und inoffiziellem Diskurs zu unterscheiden, wobei zwischen beiden ein scharfer Wettbewerb um die Diskurshoheit besteht. Daneben muss man jedoch auch erkennen, dass öffentlicher und privater Diskurs koexistieren, manchmal in der Erinnerung ein und derselben Person. Nach derartigen bürgerkriegsähnlichen Ereignissen hat es auch außerhalb der VR China unter anderen politischen Systemen lange gedauert, bis ein gesellschaftlicher Konsens gefunden werden konnte. Die Tatsache, dass die Kulturrevolution in der Erinnerung derjenigen, die an ihr teilnahmen, lebendig ist und immer mehr junge Menschen Interesse an dieser Diskussion finden, sollte als Zeichen einer gesellschaftlichen Dynamik gewertet werden, die sich dem Blick von außen auf die Verhältnisse in der VR China zu selten öffnet. Wenn wir uns also genauer mit der Erinnerung an die Kulturrevolution in der VR China auseinandersetzen, erkennen wir plötzlich, was viele für unmöglich erachten: die Existenz einer starken und selbstbewussten, wenn auch zerrissenen Gesellschaft sowie eines Staates, der trotz seines Glaubens an die Allmacht der Propaganda die Gedanken der Bevölkerung nicht zu beherrschen vermag.
"Zehn Jahre des Chaos": Parteioffizielle Geschichtsschreibung
Am 1. Juli 1981, fünf Jahre nach dem Tod Mao Zedongs, veröffentlichte das Parteiorgan der KPCh den "Beschluss über einige Fragen der Geschichte der KPCh seit Gründung der VR China".
Die Resolution vermeidet eine eindeutige Benennung von Tätern und Opfern. Stattdessen werden alle für verantwortlich erklärt; Bedauern gegenüber den Opfern wird genauso wenig zum Ausdruck gebracht wie eine eindeutige Ablehnung der menschenverachtenden Gewalt. Dabei wurde der Beschluss zu einem Zeitpunkt gefällt, da Deng Xiaoping – eines der prominentesten Opfer der Kulturrevolution – die Partei de facto bereits führte und mit ihm viele der während der Kulturrevolution ausgeschalteten Politiker wieder in die höchsten Gremien der Partei eingerückt waren. Es wäre ihnen, so könnte man meinen, ein Leichtes gewesen, Opfer und Täter beim Namen zu nennen.
Dass sie dies nicht taten, hat mindestens zwei Gründe. Mao hatte einmal gesagt, die Kulturrevolution sei eine von zwei großen Errungenschaften seines Lebens.
Der zweite Grund ist komplexer. Er bezieht sich auf die sogenannten Rotgardisten, die in Beijing zu Beginn der Kulturrevolution die Chance sahen, sich als "Fortsetzer der revolutionären Sache" zu profilieren.
All das steht aber nicht in der Resolution von 1981, hätte doch eine unumwundene Ablehnung dieser Gewaltexzesse zur Folge gehabt, dass die gerade wieder an die Macht zurückgekehrten Parteioberen ihre eigenen Kinder ans Messer lieferten. Eine Verurteilung der Machenschaften der Rotgardisten hätte bedeutet, dass keiner von ihnen je wieder in die Führung der Partei hätte vordringen können. Das konnten die alten Herren an der Parteispitze nicht wollen, und so mussten die schwer gedemütigten Opfer der Kulturrevolution darauf verzichten, die Täter und deren Machenschaften zu benennen. Damit dies jedoch nicht allzu stark auffiel, wurden kurzerhand die gesamte Partei und die gesamte Bevölkerung zu Mitverantwortlichen und Komplizen erklärt.
Inzwischen stellt sich die Frage, ob es nicht noch einen weiteren Grund für das Schweigen über die Gewalt der Rotgardisten gibt. Es gibt – allerdings nicht offen ausgesprochen – die Auffassung, die späteren Opfer Mao Zedongs aus den Reihen der Parteiführung hätten ihre Kinder vorgeschickt. Durch die Rotgardistenorganisationen hätten sie sich der Bewegung bemächtigen und für eine rasche Beendigung der Kulturrevolution sorgen sollen. Gewalt sei dabei ein geeignetes Mittel gewesen, um mit dem Argument, die Bewegung geriete aus dem Ruder, deren sofortige Beendigung zu bewirken.
Unbeantwortete Fragen
Mit der Resolution von 1981 hatte die damalige Parteiführung zwar vielleicht einen parteiinternen Konsens herstellen können. Gesellschaftlich hat sie sich aber nie durchgesetzt, die großen Fragen blieben alle unbeantwortet. Nicht nur fehlte es an einer Verurteilung der Machenschaften der Rotgardisten, auch deren Hauptgegner und Rivalen, die sogenannten Rebellen, auf die Mao sich stützte, sobald er die eigene Partei und nicht mehr die Intellektuellen zum Hauptgegenstand der Kritik erhob, wurden mit keinem Wort erwähnt. Sie waren im Zuge der Kulturrevolution Maos Aufruf gefolgt und hatten sich an die Spitze einer gegen die Parteibürokratie gerichteten Bewegung gesetzt. Sie hatten die Rotgardisten entlarvt und den Kampf gegen deren Eltern aufgenommen. Warum wurden sie nicht rehabilitiert? Freilich lag es nahe, dass eine Parteiführung, die sich nach dem Tode Maos zu einem erheblichen Teil aus Opfern der Kulturrevolution zusammensetzte, diejenigen nicht würde ins Recht setzen können, die sie malträtiert hatte. Doch im Sinne der oben angesprochenen Kontinuität der Anerkennung Maos als Führer der chinesischen Revolution hätte man das Wirken der sogenannten Rebellen positiv beurteilen müssen, auch wenn deren Eintritt in die Kulturrevolution die Gewalt noch vermehrt hatte und in der Auseinandersetzung zwischen Rotgardisten und Rebellen noch mehr Blut geflossen war als zuvor. Stattdessen hatten die Rebellen schon während der Kulturrevolution erfahren müssen, dass sie, die keinen "roten" Familienhintergrund nachweisen konnten, letztlich auch marginalisiert, verfolgt und bekämpft wurden. Umso misstrauischer schauten sie 1981 auf den Beschluss der Partei, nur um herauszufinden, dass sie darin nicht vorkommen.
Ab 1968 waren die Jugendlichen aus der Stadt aufs Land verschickt worden. Auf diese Weise wurde das gewaltaffine Protestpotenzial über ganz China verteilt. Die Jugendlichen, die sich durch ihre aktive Teilnahme an der Kulturrevolution als zukünftige Führer hatten qualifizieren wollen, mussten ihre Hoffnungen auf eine Teilhabe an der Elite nun fahren lassen – stattdessen wurde ihnen der Schwur abgenommen, ein Leben lang auf dem Lande zu leben und auf diesem Wege der Nation zu dienen. Hatte Mao Zedong sie verraten, missbraucht oder hinters Licht geführt? Auch darauf hatte die Resolution von 1981 keine Antwort parat.
Und wie steht es mit dem Militär? Mao hatte es 1968 aufgefordert, in das Geschehen einzugreifen, weil er keine andere Möglichkeit mehr sah, dem Bürgerkrieg Einhalt zu gebieten. Musste das Militär nicht dafür gelobt werden, dass es Ruhe und Ordnung wiederhergestellt hatte? Oder sollte man, wie die Rebellen es sich wohl gewünscht hätten, das Militär dafür verantwortlich machen, dass plötzlich mit Panzern und Gewehren aufeinander geschossen worden war und im Kampf noch mehr Menschen ihr Leben gelassen hatten? Die Resolution nimmt hier den Mittelweg, lobt das Militär und kritisiert es zugleich.
Heute wissen wir, dass etwa 1,7 Millionen Menschen während der Kulturrevolution ums Leben kamen. Wie sollen die Familien und Freunde dieser Opfer mit dem Verlust fertig werden, wenn die Ereignisse, die den Tod herbeiführten, in einer solchen Parteiresolution, die unter den gegebenen Umständen als einzige mit der Autorität ausgestattet war, über Recht und Unrecht zu urteilen, noch nicht einmal erwähnt werden?
Gesellschaftliche Reaktionen
Mit der Verabschiedung der Resolution erklärte Deng Xiaoping die bis dahin erstaunlicherweise relativ offen und öffentlich geführte Diskussion über die Kulturrevolution für beendet.
Andere begrüßten die Möglichkeit, die Grauen der Kulturrevolution vergessen zu können. Dies galt insbesondere für Überlebende, die oft an der Seite ihrer ehemaligen Peiniger ihren Beruf ausübten. Sie sahen keine Möglichkeit, sich mit den Tätern zu versöhnen, und die Täter sahen oft keine Notwendigkeit, sich bei ihren Opfern zu entschuldigen, begriffen sie sich doch selbst als Opfer, auch dann, wenn sie in einer bestimmten Phase der Bewegung aktiv an Gewaltexzessen beteiligt gewesen waren. All jene, die als Mitläufer teilgenommen hatten, waren froh, nun ein Leben in größerer Sicherheit und mit der Perspektive auf wachsenden Wohlstand leben zu können. Auch sie hatten nichts dagegen einzuwenden, dass die Kulturrevolution nicht mehr Gegenstand öffentlicher Erörterung war.
Privat wurde und wird jedoch weiter über die Erinnerungen an die Jahre 1966 bis 1976 gesprochen. Eine große Rolle spielt dabei die gemeinsame Erfahrung als landverschickte Jugendliche. Auch wenn die politisch aktiven Teile der Betroffenen diese Maßnahme als Verrat empfanden, war das Leben auf dem Land für viele der jungen Menschen ein großes, wenn auch mit vielen Schwierigkeiten verbundenes Abenteuer. Sie hatten sich in dieser Phase von ihren Eltern unabhängig machen können, hatten Aspekte des Lebens in ihrer Heimat kennengelernt, von denen sie zuvor nichts gehört hatten, und eine Jugend erlebt, die gemessen an den Traditionen des Landes als ungebunden zu bezeichnen ist. Inzwischen gibt es sogar große Versammlungen der ehemals landverschickten Jugendlichen und entsprechende Literatur. Auf diese Weise erfährt die Kulturrevolution unter der Hand bisweilen eine gewisse Verklärung.
Die Erinnerungsgemeinschaften, die in diesem Zusammenhang entstehen, tauschen ihre Erfahrungen nur unter Menschen aus, die selbst an der Kulturrevolution beteiligt waren. Die nachgeborene Generation ist von dieser Kommunikation weitgehend abgeschnitten. Für sie ist die Kulturrevolution ein weißer Fleck, etwas, über das sie, wenn überhaupt, nur Schlechtes hören, ohne genau zu wissen, worum es eigentlich ging. Auch im Schulunterricht ist die Kulturrevolution kein Thema. So beginnen einige, sich ihr eigenes Bild von den damaligen Ereignissen zu machen und sich online darüber auszutauschen.
Seit dem großen "Erinnerungsjahr" 2006 haben derartige Stimmen deutlich zugenommen. Sie erhalten dabei Unterstützung von einer politischen Gruppierung, die sich mit öffentlichen Äußerungen lange zurückgehalten hat. Dies sind die sogenannten Alt-Maoisten, die nun offen gegen die damalige Machtübernahme durch Deng Xiaoping argumentieren und die heutigen Zustände in der VR China im Sinne Mao Zedongs als "Restauration des Kapitalismus" bezeichnen. Diese Gruppe hält daran fest, dass Maos Theorie über den Klassenkampf im Sozialismus richtig sei. Der von Mao abgesetzte Staatspräsident Liu Shaoqi und Deng Xiaoping seien von Mao zu Recht als "Machthaber auf dem kapitalistischen Weg" an den Pranger gestellt worden. Die Gewalt, die allseits mit der Kulturrevolution in Zusammenhang gebracht werde, sei nicht Teil der Strategie Maos gewesen, sondern von denjenigen Führern der Partei, die Mao alsbald als seine Feinde erkannte, bewusst mithilfe der Rotgardisten entfacht worden, um Maos Projekt ad absurdum zu führen. Obwohl die Propagandaabteilung des Zentralkomitees der KPCh auch für das Jahr 2016 wieder entschieden hat, dass es keine öffentliche Diskussion zur Kulturrevolution geben darf, werden derartige Einträge aus dem Internet nicht gelöscht.
Viele der ehemaligen Rebellen sind im Zuge der Ereignisse auf dem Tian’anmen-Platz im Frühsommer 1989 ins Exil gegangen. Über das Internet tauschen sie ihre Meinungen zur Kulturrevolution aus und schreiben Artikel zum Thema. Auch wenn die Autoren inzwischen zu Vorkämpfern für Menschenrechte in China geworden sind, bedienen sie in einigen Beiträgen erstaunlicherweise immer noch die Diktion der Kulturrevolution. Obwohl manche von ihnen in der Kulturrevolution aktiv waren und dabei anderen Menschen Schaden zugefügt haben, halten sie es offenbar nicht für notwendig, diese Taten als Fehler einzugestehen, um sich glaubwürdig für Menschenrechte einsetzen zu können.
Manche, die sich von Mao verraten sehen, gestehen ihm zwar zu, dass er mit der Kulturrevolution lautere Ziele verfolgt habe. Zugleich sind sie aber der Auffassung, dass sein Aufruf an die Armee, die Lage im Lande zu beruhigen, eine Abkehr von den ursprünglichen Zielen dargestellt habe. Erst dies habe die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass das bürokratische System, das man habe abschaffen wollen, wieder installiert werden konnte. Die ehemaligen, im Ausland lebenden Rebellen haben die Kulturrevolution als Phase der großen Partizipation in Erinnerung und fragen sich bis heute, warum aus dieser Bewegung nichts Positives entstanden ist. Sie sehen sich als Avantgarde für ein soziales und demokratisches China und leiden darunter, dass sie von der Elite, die nach der Kulturrevolution wieder an die Macht gekommen ist, marginalisiert und letztlich aus dem Lande verstoßen worden sind.
Aus der Geschichte lernen?
Der auch in Deutschland bekannte chinesische Schriftsteller Wang Meng
Er ist nicht der einzige, der dazu aufruft, die Erfahrungen der Kulturrevolution aufzuarbeiten, um daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen. Die Überlebenden der Kulturrevolution, insbesondere diejenigen, die sich als Opfer der bürgerkriegsähnlichen Zustände jener Zeit betrachten, beobachten mit Schrecken, dass die "totale Negierung" der von Mao Zedong entfachten Massenbewegung gesellschaftlich immer weniger akzeptiert wird. Die Verklärung der Massenbewegung als Massenpartizipation, die in jüngster Zeit immer mehr Befürworter findet, schürt die Angst vor einem erneuten Ausbruch gesellschaftlicher Gewalt als Mittel im Kampf gegen Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Unfreiheit.
In diesem Kontext sind auch die Versuche einiger ehemaliger Rotgardisten zu sehen, sich für die Gewalt in der Frühphase der Kulturrevolution öffentlich zu entschuldigen. Der heute 70-jährige Chen Xiaolu, Sohn des lang gedienten chinesischen Außenministers Chen Yi, war 2013 der Erste, der sich öffentlich dafür entschuldigte, seine Lehrer an der Beijinger Mittelschule malträtiert und in den Tod getrieben zu haben: "Meine Entschuldigung kommt zu spät. Doch die Säuberung meiner Seele, der Fortschritt der Gesellschaft und die Zukunft der Nation verlangen nach dieser Entschuldigung."