In der aktuellen "Flüchtlingskrise" offenbart sich auch eine allgemeine Krise der deutschen Gesellschaft und ihrer Identitäten: Die Debatten um "Obergrenzen" und Kontingente, die zivilgesellschaftliche "Willkommenskultur" oder die Forderung nach Schusswaffengebrauch an der Grenze, das politische Ringen um Asylrechtsverschärfungen und die Diskussionen darüber, ob "wir" "das" schaffen, sind Ausdruck von Aushandlungsprozessen über zentrale Leitbilder, Wertvorstellungen und Selbstverständnisse der Einwanderungsgesellschaft. Nicht nur wird verhandelt, wie mit "denen" umzugehen ist, sondern immer auch geht es um das "Wir": Schaffen wir das? Und wer sind wir eigentlich? Ein Einwanderungsland? Mittlerweile ja – aber wer kann dazu kommen?
Die Debatte dominiert nicht nur die mediale Berichterstattung, auch in alltäglichen Gesprächen hat das Thema einen Stellenwert gewonnen, wie es politischen Fragen nur selten vergönnt ist. Dabei sind in der Öffentlichkeit einerseits, trotz vermeintlicher Tabus und "Lügenpresse", die Klagen von Pegida über eine "Mega-Umvolkung" omnipräsent. Auch der Ruf des rechtsnationalen Autors Akif Pirinçci: "Ich will mein altes Deutschland wiederhaben!", erfuhr große Aufmerksamkeit. Doch andererseits etablierte sich ein – mittlerweile zunehmend abgeschwächtes – gesellschaftliches #refugeeswelcome, und setzte sich die Einschätzung durch, dass "Humanität und Weltoffenheit" besser zu "uns" passen. Die Freude, dass Einwanderung das Land "bunter, multikultureller und lebenswerter" – so etwa Cem Özdemir und Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) – gemacht habe, ergriff auch Vertreter der Wirtschaft oder bis dahin eher den Abschottungsgedanken vertretende Medien wie "Bild". Und schließlich verschafften sich zunehmend auch Geflüchtete bei Protestaktionen und über Netzwerke wie "The Voice Refugee Forum", "Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen" oder "Lampedusa in Hamburg" Gehör und erreichten bisweilen, dass nicht nur über sie, sondern auch mit ihnen gesprochen wurde.
In diesem Gewirr der Stimmen wird jedoch deutlich, dass alle, explizit oder implizit, argumentativ oder auch konkret durch den Grenzübertritt, die Frage der nationalen Zugehörigkeit, des deutschen "Wir" und seiner inneren und äußeren Grenzen mitverhandeln – und somit auch die Frage, was Nationalismus und Patriotismus, was der Bezug zur Nation in Krisenzeiten bedeutet. Auch die Ablehnung von Pegida dreht sich um diese Frage, wenn zum Beispiel der Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag Thomas Oppermann verkündet, diese selbsternannten "Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" seien "keine Patrioten",
Nicht klar abgrenzbar, sondern ineinander übergehend und teilweise politische Lager überschreitend lassen sich in dieser Diskussion dennoch mindestens drei idealtypische Positionen ausmachen, die wir im Folgenden skizzieren, bevor wir den fortwährenden Bezug auf die Nation problematisieren und eine Vision des Postnationalen vorstellen.
Narrativ der homogenen Nation
Wie wird man deutsch? Lange Zeit wurde dies exklusiv gedacht: Deutsch war, wer deutsche Vorfahren hatte, und selbst wenn man über andere Wege zum deutschen Pass gelangen konnte, ließ das einen in den Augen Vieler noch lange nicht Teil des nationalen Kollektivs werden. Seit Anfang des Jahrtausends unterliegen diese Vorstellungen einem Wandel, bedingt auch durch Veränderungen im Staatsbürgerschaftsrecht. 2000 wurde dieses um Elemente des ius soli erweitert; deutsche Staatbürgerschaft wird nun unter bestimmten Bedingungen auch qua Geburtsort gewährt, nicht mehr nur qua Abstammung (ius sanguinis). 2009 konnte sich selbst "Bild"-Kolumnist Franz Josef Wagner Deutschsein unabhängig von der Herkunft denken: "Es gibt nichts Schöneres zu prophezeien, dass Mesut Özil, Sohn türkischer Eltern, aufgewachsen in Gelsenkirchen, einmal Kapitän der deutschen Nationalelf wird. Wäre das nicht ein Traum von einem Deutschland der Zukunft? Ich liebe diesen Traum."
Die Vorstellung, dass das nationale "Wir", das als homogene, über Jahrhunderte bestehende Entität begriffen wird, die "Anderen" dabei nicht oder nicht in solchen Massen verkraften könnte, teilen Pegida- und AfD-Anhänger genauso wie Angehörige der politischen Mitte – 53 Prozent der Befragten einer "Mitte"-Studie stimmten 2014 der Aussage ganz oder teilweise zu, dass Deutschland "in einem gefährlichen Maß überfremdet" sei
Dieses Narrativ des Ursprünglichen gibt sich bodenständig: Gleich eines Urwalds geht es von der Existenz von Ur-Völkern aus, von einem angeblich organischen Zustand. Jede Rede von den homogenen "Deutschen" verkennt jedoch die lange Migrationsgeschichte des Gebietes, das heute Bundesrepublik heißt. Und in diese Rede sind bereits frühere "Ausländergruppen" wie zum Beispiel die einstigen Ruhrpolen integriert. In der Zeit vor einer oder höchstens zwei Generationen den "wahren, ursprünglichen" Zustand ausmachen, den es wiederherzustellen gelte, ist eine Fiktion. Man muss gar nicht in der Menschheitsgeschichte so weit zurückzugehen, um auf die afrikanischen Wurzeln aller Deutschen hinzuweisen, es reicht schon zu erwähnen, dass Nachnamen wie Sarrazin oder Buschkowsky Produkte früherer Migrationsbewegungen sind und wir gerade Kämpfe darum erleben, ob in zwei Generationen auch Namen wie Pirinçci als deutsch gelten. Gesellschaften waren schon immer in Bewegung, und insbesondere die deutsche Nation hat sich aus zahlreichen Sprachgemeinschaften zusammengesetzt.
Narrativ der Nation als Wirtschaftsgemeinschaft
Ein zweiter Argumentationsstrang der derzeitigen Debatten stellt das wirtschaftliche Wohl Deutschlands in den Mittelpunkt und diskutiert die Frage des nationalen Zusammenhangs dabei oft über die Brauchbarkeit des Einzelnen. Ausgehend von Prognosen, nach denen die deutsche Bevölkerung in den nächsten Jahrzehnten zunehmend älter wird und bis 2060 auf etwa 70 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner geschrumpft sein könnte,
Klar ist: Die Grenzkontrollen, die zahlreiche europäische Länder seit Herbst wieder punktuell eingeführt haben, verlangsamen nicht nur Menschen-, sondern auch Warenströme. Dies hat gerade in Zeiten von Just-in-time-Produktion und dem damit zusammenhängenden Mangel an Lagerorten stärkere ökonomische Auswirkungen als noch vor einigen Jahren. Wirtschaftsverbände prognostizieren direkte Kosten zwischen drei und zehn Milliarden, die durch Grenzkontrollen entstehen, wie auch indirekt einen generellen Wachstumsverlust und ein Sinken der Wirtschaftsleistung.
"Kulturell diversifizierte Gesellschaften sind lebendiger, sozial flexibler, innovativer, anpassungsfähiger und wandlungsbereiter",
Hier zeigt sich eine Verbindung zum dritten Narrativ in der Debatte: In Bezug auf den patriotischen Mehrwert wird bisweilen die soziokulturelle Bereicherung betont, die Geflüchtete für das Land darstellen.
Narrativ der nationalen Diversität
Im August 2015 plädierte Bundespräsident Joachim Gauck dafür, man müsse sich "von dem Bild einer Nation lösen, die sehr homogen ist, in der fast alle Menschen Deutsch als Muttersprache haben, überwiegend christlich sind und hellhäutig", man müsse die "Nation neu definieren: als eine Gemeinschaft der Verschiedenen, die allerdings eine gemeinsame Wertebasis zu akzeptieren hat".
Der erste Punkt wird des Öfteren als Ausdruck eines Konflikts zwischen verantwortungs- und gesinnungsethischen Prinzipien bezeichnet, wobei dabei meist polemisch die Gesinnungsethik als weltfremde Fantasterei beschrieben wird, die nach dem grünen Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer "immer das Maximum" fordere und in eine "Pippi-Langstrumpf-Politik" münde.
Für die Frage der Aufnahme von Flüchtlingen und der darin sich äußernden Nationsvorstellungen heißt das, dass sich die Positionen derer, die die Nation weniger als homogene denn als diverse Entität begreifen, zwischen zwei Polen bewegen. Auf der einen Seite findet sich ein Nützlichkeits- oder Realitätsnarrativ, auf der anderen ein Humanitäts- und Menschenrechtsnarrativ. Wie auch die bereits behandelten Narrative nur idealtypische Positionen fassen, gibt es auch hier mannigfaltige Überschneidungen. Das Nützlichkeitsnarrativ zielt dabei auf einen Argumentekanon ab, der den nationalen Nutzen weniger oder nicht nur in ökonomischer und demografischer Form sieht, sondern Diversität als sui generis bereichernd wertet. "Deutschland neu denken", fordern etwa die Neuen Deutschen Organisationen, ein Zusammenschluss von rund 100 Organisationen und Initiativen, die von Menschen mit Migrationsgeschichte gegründet wurden, "die sich nicht mehr als Migranten bezeichnen lassen wollen": "Unser Land ist schon längst migrantisch geprägt und das kann und sollte heute seine Stärke sein."
Der andere Pol ist stärker Humanitäts- und Menschenrechtsvorstellungen verpflichtet. Doch dass hier oft zwei Herzen in der Brust politischer Entscheidungsträger schlagen, zeigt sich deutlich an Angela Merkel, die sonst vorrangig Nützlichkeits- und Realitätsnarrative bemüht, aber deren erboster Aufruf, "wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land,"
Hier ergeben sich Übergänge zur zweiten Frage, an der sich der Dissens unter denen, die Geflüchtete als Bereicherung wahrnehmen, entzündet – die Frage, auf welcher "Wertebasis" sich die Nation konstituiert. Verfassungspatriotische Entwürfe betrachten die Nation dabei als politische Vertragsgemeinschaft. So steht für die ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden Charlotte Knobloch fest, dass die große Aufgabe des Willkommenheißens der Flüchtlinge "nur von einem politisch und gesellschaftlich geschlossenen Gemeinwesen getragen werden (kann), das selbstbewusst und patriotisch empfindet und auftritt. Und zwar aufgeklärt patriotisch – geläutert von einer erkenntnis- und lernorientierten Erinnerungskultur und somit souverän und wehrhaft im Umgang mit den eigenen Werten".
Vom Party-Patriotismus zum Nationalismus
Gemein ist diesen drei Vorstellungen, dass sie sich unweigerlich auf die Nation beziehen: ob als eine, die es wiederherzustellen, zu festigen, zu affirmieren gilt, oder als eine, die neu zu gestalten, anders zu denken sei. Während die erste Position zumeist als nationalistisch klassifiziert werden kann, gilt die zweite oft als patriotisch, wobei auch nicht unbedingt in der Selbstwahrnehmung. Mit dieser Bezeichnung hätte die dritte Position unter Umständen Schwierigkeiten – inhaltlich dominiert hier allerdings ein republikanischer Verfassungspatriotismus, der den Bezug auf geteilte Werte und die Möglichkeiten anderer Zugehörigkeiten in den Mittelpunkt stellt. Doch die empirische wie theoretische Nationalismusforschung verweist darauf, dass diese anderen Zugehörigkeiten, diese erweiterten Einschlüsse, oftmals verstellt sind und notwendigerweise mit (neuen) Ausschlüssen einhergehen.
Empirisch zeigt sich, dass ein starker Bezug auf das eigene Land oftmals mit der Abwertung von vermeintlich "Fremden" einhergeht beziehungsweise diese sogar kausal bedingt – und zwar auch im gegenwärtigen Deutschland. In der Studie "Deutschland postmigrantisch" zeigte sich, dass diejenigen Befragten, denen es wichtig ist, als "deutsch" angesehen zu werden, exkludierenden Äußerungen gegenüber Minderheiten – gemessen am Beispiel von Muslimen – öfters zustimmen.
Auch auf theoretischer Ebene ist leicht begründbar, dass aus der Aufwertung der eigenen "imagined community" (Benedict Anderson) eine zumindest partielle Abwertung des "Anderen" resultieren kann. Dies insbesondere eingedenk der Tatsache, dass dieses "Eigene", der jeweilige Nationalstaat, als ökonomischer Standort und politischer Global Player in Konkurrenz mit anderen Nationalstaaten steht. Schlussendlich ist so zu fragen, ob die moderne Nation nicht überhaupt nur als "permanente, vorgegebene Feindschafts- und Verbrüderungsstruktur, auf die ideologisch Bezug genommen wird",
Vision des Postnationalen
Statt einer Förderung des Patriotismus käme es somit darauf an, die demokratischen Werte, die zu einer Verringerung von "Feindmarkierungen" führen, in den Mittelpunkt zu stellen. Indem darüber hinaus auf dem Narrativ der nationalen Diversität aufgebaut und dieses radikal erweitert wird, zeichnet sich in gegenwärtigen Praktiken und Debatten eine vierte Perspektive ab. Auch sie begrüßt Diversität und möglichst offene Gemeinschaften, geht aber gleichzeitig über das Denken in nationalen Containern hinaus und eröffnet damit eine Vision des Postnationalen.
"No Borders" ist spätestens seit den 1990er Jahren nicht nur eine Forderung migrantischer Zusammenschlüsse – wie beispielsweise der französischen "Sans Papiers" – und antirassistischer Initiativen. Sie stellt auch eine Position dar, in der die britische Migrationssoziologin Bridget Anderson eine Verschiebung sieht: weg von Bürgerinnen und Bürgern, "ihren" Organisationen und "ihrem" Staat, hin zum Standpunkt von Migrierten und Geflüchteten
Jürgen Habermas Vision der "postnationalen Konstellation"
Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot und der Schriftsteller Robert Menasse haben kürzlich gefordert, dass jeder Mensch "in Zukunft das Recht haben (muss), nationale Grenzen zu durchwandern und sich dort niederlassen können, wo er will".
Exklusive Vorstellungen von (National-)Kultur leben fort, und nationalstaatliche Politiken und Verfügungsgewalt dominieren weiterhin, doch auch diese Denkversuche existieren. Auch sie stellen eine mögliche Antwort auf Fragen nach Identität und Zugehörigkeit in Krisenzeiten dar.