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Wer sind wir denn wieder? Nationale Identität in Krisenzeiten | Zufluchtsgesellschaft Deutschland | bpb.de

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Wer sind wir denn wieder? Nationale Identität in Krisenzeiten Wer sind wir denn wieder? Nationale Identität in Krisenzeiten

Sina Arnold Sebastian Bischoff

/ 17 Minuten zu lesen

In der aktuellen "Flüchtlingskrise" offenbart sich auch eine allgemeine Krise der deutschen Gesellschaft und ihrer Identitäten. Neben unterschiedlichen Bezugnahmen auf die "Nation" lässt sich auch eine Vision des Postnationalen formulieren.

In der aktuellen "Flüchtlingskrise" offenbart sich auch eine allgemeine Krise der deutschen Gesellschaft und ihrer Identitäten: Die Debatten um "Obergrenzen" und Kontingente, die zivilgesellschaftliche "Willkommenskultur" oder die Forderung nach Schusswaffengebrauch an der Grenze, das politische Ringen um Asylrechtsverschärfungen und die Diskussionen darüber, ob "wir" "das" schaffen, sind Ausdruck von Aushandlungsprozessen über zentrale Leitbilder, Wertvorstellungen und Selbstverständnisse der Einwanderungsgesellschaft. Nicht nur wird verhandelt, wie mit "denen" umzugehen ist, sondern immer auch geht es um das "Wir": Schaffen wir das? Und wer sind wir eigentlich? Ein Einwanderungsland? Mittlerweile ja – aber wer kann dazu kommen?

Die Debatte dominiert nicht nur die mediale Berichterstattung, auch in alltäglichen Gesprächen hat das Thema einen Stellenwert gewonnen, wie es politischen Fragen nur selten vergönnt ist. Dabei sind in der Öffentlichkeit einerseits, trotz vermeintlicher Tabus und "Lügenpresse", die Klagen von Pegida über eine "Mega-Umvolkung" omnipräsent. Auch der Ruf des rechtsnationalen Autors Akif Pirinçci: "Ich will mein altes Deutschland wiederhaben!", erfuhr große Aufmerksamkeit. Doch andererseits etablierte sich ein – mittlerweile zunehmend abgeschwächtes – gesellschaftliches #refugeeswelcome, und setzte sich die Einschätzung durch, dass "Humanität und Weltoffenheit" besser zu "uns" passen. Die Freude, dass Einwanderung das Land "bunter, multikultureller und lebenswerter" – so etwa Cem Özdemir und Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) – gemacht habe, ergriff auch Vertreter der Wirtschaft oder bis dahin eher den Abschottungsgedanken vertretende Medien wie "Bild". Und schließlich verschafften sich zunehmend auch Geflüchtete bei Protestaktionen und über Netzwerke wie "The Voice Refugee Forum", "Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen" oder "Lampedusa in Hamburg" Gehör und erreichten bisweilen, dass nicht nur über sie, sondern auch mit ihnen gesprochen wurde.

In diesem Gewirr der Stimmen wird jedoch deutlich, dass alle, explizit oder implizit, argumentativ oder auch konkret durch den Grenzübertritt, die Frage der nationalen Zugehörigkeit, des deutschen "Wir" und seiner inneren und äußeren Grenzen mitverhandeln – und somit auch die Frage, was Nationalismus und Patriotismus, was der Bezug zur Nation in Krisenzeiten bedeutet. Auch die Ablehnung von Pegida dreht sich um diese Frage, wenn zum Beispiel der Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag Thomas Oppermann verkündet, diese selbsternannten "Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" seien "keine Patrioten", sondern Nationalisten, und der stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU Armin Laschet anlässlich grölender Flüchtlingsgegner von der gescheiterten "Integration mancher Deutscher" spricht.

Nicht klar abgrenzbar, sondern ineinander übergehend und teilweise politische Lager überschreitend lassen sich in dieser Diskussion dennoch mindestens drei idealtypische Positionen ausmachen, die wir im Folgenden skizzieren, bevor wir den fortwährenden Bezug auf die Nation problematisieren und eine Vision des Postnationalen vorstellen.

Narrativ der homogenen Nation

Wie wird man deutsch? Lange Zeit wurde dies exklusiv gedacht: Deutsch war, wer deutsche Vorfahren hatte, und selbst wenn man über andere Wege zum deutschen Pass gelangen konnte, ließ das einen in den Augen Vieler noch lange nicht Teil des nationalen Kollektivs werden. Seit Anfang des Jahrtausends unterliegen diese Vorstellungen einem Wandel, bedingt auch durch Veränderungen im Staatsbürgerschaftsrecht. 2000 wurde dieses um Elemente des ius soli erweitert; deutsche Staatbürgerschaft wird nun unter bestimmten Bedingungen auch qua Geburtsort gewährt, nicht mehr nur qua Abstammung (ius sanguinis). 2009 konnte sich selbst "Bild"-Kolumnist Franz Josef Wagner Deutschsein unabhängig von der Herkunft denken: "Es gibt nichts Schöneres zu prophezeien, dass Mesut Özil, Sohn türkischer Eltern, aufgewachsen in Gelsenkirchen, einmal Kapitän der deutschen Nationalelf wird. Wäre das nicht ein Traum von einem Deutschland der Zukunft? Ich liebe diesen Traum." 2014 ergab die repräsentative Studie "Deutschland postmigrantisch", dass sich die Kriterien des Deutschseins wandeln – hin zu erlern- und erwerbbaren Kriterien wie dem Sprechen der Sprache oder dem Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit. Gleichzeitig finden weiterhin 37 Prozent der Befragten deutsche Vorfahren wichtig, um deutsch zu sein. Hier zeigt sich die Hartnäckigkeit des deutschen ius sanguinis.

Die Vorstellung, dass das nationale "Wir", das als homogene, über Jahrhunderte bestehende Entität begriffen wird, die "Anderen" dabei nicht oder nicht in solchen Massen verkraften könnte, teilen Pegida- und AfD-Anhänger genauso wie Angehörige der politischen Mitte – 53 Prozent der Befragten einer "Mitte"-Studie stimmten 2014 der Aussage ganz oder teilweise zu, dass Deutschland "in einem gefährlichen Maß überfremdet" sei – bis hin zu Intellektuellen, wie beispielsweise dem Dramatiker Botho Strauß. Im Oktober 2015 verkündete Strauß im "Spiegel", er würde "lieber in einem aussterbenden Volk leben als in einem, das aus vorwiegend ökonomisch-demografischen Spekulationen mit fremden Völkern aufgemischt, verjüngt wird, einem vitalen". Und sicherlich wird auch der in Strauß’ Text herbeizitierte Syrer, der durch gute Deutschkenntnisse Achim von Arnim für sich entdeckt, nie ein wirklicher Deutscher. Ähnliche Positionen kann man tausendfach in sozialen Netzwerken oder in Leserbriefen wiederfinden.

Dieses Narrativ des Ursprünglichen gibt sich bodenständig: Gleich eines Urwalds geht es von der Existenz von Ur-Völkern aus, von einem angeblich organischen Zustand. Jede Rede von den homogenen "Deutschen" verkennt jedoch die lange Migrationsgeschichte des Gebietes, das heute Bundesrepublik heißt. Und in diese Rede sind bereits frühere "Ausländergruppen" wie zum Beispiel die einstigen Ruhrpolen integriert. In der Zeit vor einer oder höchstens zwei Generationen den "wahren, ursprünglichen" Zustand ausmachen, den es wiederherzustellen gelte, ist eine Fiktion. Man muss gar nicht in der Menschheitsgeschichte so weit zurückzugehen, um auf die afrikanischen Wurzeln aller Deutschen hinzuweisen, es reicht schon zu erwähnen, dass Nachnamen wie Sarrazin oder Buschkowsky Produkte früherer Migrationsbewegungen sind und wir gerade Kämpfe darum erleben, ob in zwei Generationen auch Namen wie Pirinçci als deutsch gelten. Gesellschaften waren schon immer in Bewegung, und insbesondere die deutsche Nation hat sich aus zahlreichen Sprachgemeinschaften zusammengesetzt.

Narrativ der Nation als Wirtschaftsgemeinschaft

Ein zweiter Argumentationsstrang der derzeitigen Debatten stellt das wirtschaftliche Wohl Deutschlands in den Mittelpunkt und diskutiert die Frage des nationalen Zusammenhangs dabei oft über die Brauchbarkeit des Einzelnen. Ausgehend von Prognosen, nach denen die deutsche Bevölkerung in den nächsten Jahrzehnten zunehmend älter wird und bis 2060 auf etwa 70 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner geschrumpft sein könnte, wird Einwanderung als Mittel betrachtet, die Rentenkassen wie auch die geschätzten 40000 unbesetzten Ausbildungsplätze zu füllen und den Pflegenotstand zu beseitigen. Dass Deutschland auf die Zuwanderung von jungen Menschen und Fachkräften angewiesen ist, betonen Politikerinnen und Politiker ebenso wie große Teile der Wirtschaftselite – und stellen sich in der Rhetorik damit teilweise gegen die Populistinnen und Populisten vom rechten Rand. "Wir brauchen dringend mehr Wirtschaftsflüchtlinge", fordert etwa der Korrespondent für Wirtschaftspolitik der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung", Ralph Bollmann, inmitten der "Flüchtlingskrise" leicht ironisch. Basierend auf den Erfahrungen der Vergangenheit und denen anderer Einwanderungsländer könne die gegenwärtige Situation möglicherweise gar die "Grundlage für das nächste deutsche Wirtschaftswunder werden", so Daimler-Chef Dieter Zetsche. "Lasst sie kommen!" skandiert auch der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, David Folkerts-Landau, und gibt zu: "Die Öffnung der Grenzen ist eine Chance für Deutschland und festigt seine wirtschaftliche Vorreiterrolle in Europa." Diese Sichtweise bekommt zwar mittlerweile deutliche Risse – so widersprechen ihr laut "Frankfurter Allgemeiner Zeitung" die Mehrheit von 220 deutschen Wirtschaftsprofessoren –, aber die Spitzen der deutschen Wirtschaft vertreten sie weiterhin mehrheitlich.

Klar ist: Die Grenzkontrollen, die zahlreiche europäische Länder seit Herbst wieder punktuell eingeführt haben, verlangsamen nicht nur Menschen-, sondern auch Warenströme. Dies hat gerade in Zeiten von Just-in-time-Produktion und dem damit zusammenhängenden Mangel an Lagerorten stärkere ökonomische Auswirkungen als noch vor einigen Jahren. Wirtschaftsverbände prognostizieren direkte Kosten zwischen drei und zehn Milliarden, die durch Grenzkontrollen entstehen, wie auch indirekt einen generellen Wachstumsverlust und ein Sinken der Wirtschaftsleistung. Und wenn Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer konstatiert, das "Schließen von Grenzen ist das Gegenteil dessen, was unsere Nation groß gemacht hat", dann zeigt sich, dass sich in der Argumentation oft die materielle Sorge um die Nation mit der kulturellen koppelt.

"Kulturell diversifizierte Gesellschaften sind lebendiger, sozial flexibler, innovativer, anpassungsfähiger und wandlungsbereiter", findet etwa Folkerts-Landau – und nicht nur die Stimmen der Herkunftsdeutschen verbinden diese Sicht auf Kultur mit einem wirtschaftlich orientierten Blick. Auch der Verband der Migrantenwirtschaft macht Diversität zum Standortvorteil und stellt auf seiner Website fest: "Kulturelle Vielfalt schafft Arbeitsplätze in Deutschland." Sicherlich kommt hier neben der Sorge um das wirtschaftliche Wohl der Nation noch eine andere Motivation zum Tragen: Teilhabe einzufordern und nach Jahrzehnten von Ausschluss und Rassismus zu proklamieren, ein selbstverständlicher und wichtiger Teil dieses Landes zu sein. Die ökonomistische Argumentationsweise fragt im Kern zwar nach dem Nutzen der Neuankömmlinge für die Nation, doch geht sie oft Hand in Hand mit einem Denken, das auch einem humanistischen Impuls folgt. Finanzminister Wolfgang Schäuble erinnerte im November an die verbindenden Effekte; wer Flüchtlinge aufnehme, zeige sich nicht nur solidarisch, sondern tue auch etwas fürs Wachstum.

Hier zeigt sich eine Verbindung zum dritten Narrativ in der Debatte: In Bezug auf den patriotischen Mehrwert wird bisweilen die soziokulturelle Bereicherung betont, die Geflüchtete für das Land darstellen.

Narrativ der nationalen Diversität

Im August 2015 plädierte Bundespräsident Joachim Gauck dafür, man müsse sich "von dem Bild einer Nation lösen, die sehr homogen ist, in der fast alle Menschen Deutsch als Muttersprache haben, überwiegend christlich sind und hellhäutig", man müsse die "Nation neu definieren: als eine Gemeinschaft der Verschiedenen, die allerdings eine gemeinsame Wertebasis zu akzeptieren hat". Diese Sichtweise hat sich als Position eines breiten Spektrums erwiesen, das, zumindest der offiziellen Verlautbarung nach, von der CSU bis zur Linkspartei reicht. Dabei gibt es jedoch Differenzen in zwei zentralen, miteinander eng verbundenen Fragen: erstens, welche Gründe dafür vorgebracht werden, dass man Einwanderung wohlwollend gegenübersteht; zweitens, was diese erwähnte "gemeinsame Wertebasis" ausmacht.

Der erste Punkt wird des Öfteren als Ausdruck eines Konflikts zwischen verantwortungs- und gesinnungsethischen Prinzipien bezeichnet, wobei dabei meist polemisch die Gesinnungsethik als weltfremde Fantasterei beschrieben wird, die nach dem grünen Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer "immer das Maximum" fordere und in eine "Pippi-Langstrumpf-Politik" münde. Doch nach Max Weber, auf dessen Vortrag "Politik als Beruf" von 1919 diese Kategorien vorrangig zurückgehen, besteht der Konflikt für politisch Handelnde gerade im Ausgleich derselben. Beide konstituieren ein ethisches System – während die Gesinnungsethik bei Handlungen nach den Absichten und Motiven fragt, ist für die Verantwortungsethik entscheidend, "was hinten rauskommt" (Helmut Kohl). So lückenhaft die Analyse moderner Demokratien und des staatlichen Handelns gerade auf internationaler Ebene anhand dieser Kategorien bleiben muss, so kann ihr doch ein gewisses Maß an Erklärungskraft in Bezug auf das Tun einzelner politisch Handelnder nicht abgesprochen werden.

Für die Frage der Aufnahme von Flüchtlingen und der darin sich äußernden Nationsvorstellungen heißt das, dass sich die Positionen derer, die die Nation weniger als homogene denn als diverse Entität begreifen, zwischen zwei Polen bewegen. Auf der einen Seite findet sich ein Nützlichkeits- oder Realitätsnarrativ, auf der anderen ein Humanitäts- und Menschenrechtsnarrativ. Wie auch die bereits behandelten Narrative nur idealtypische Positionen fassen, gibt es auch hier mannigfaltige Überschneidungen. Das Nützlichkeitsnarrativ zielt dabei auf einen Argumentekanon ab, der den nationalen Nutzen weniger oder nicht nur in ökonomischer und demografischer Form sieht, sondern Diversität als sui generis bereichernd wertet. "Deutschland neu denken", fordern etwa die Neuen Deutschen Organisationen, ein Zusammenschluss von rund 100 Organisationen und Initiativen, die von Menschen mit Migrationsgeschichte gegründet wurden, "die sich nicht mehr als Migranten bezeichnen lassen wollen": "Unser Land ist schon längst migrantisch geprägt und das kann und sollte heute seine Stärke sein." Das Postulat des "Spiegel"-Kolumnisten Georg Diez, es bedürfe einer "Neugründung Deutschlands aus dem Geist eines ernsthaften Multikulturalismus", gehört genauso zu dieser Erzählung wie der Verweis, dass das Projekt der Europäischen Union bei Abschottung in Gänze Schaden nehmen würde. Im Rahmen des Realitätsnarrativs wird dann wiederum argumentiert, dass eine Abschottung zum Beispiel technisch gar nicht möglich wäre.

Der andere Pol ist stärker Humanitäts- und Menschenrechtsvorstellungen verpflichtet. Doch dass hier oft zwei Herzen in der Brust politischer Entscheidungsträger schlagen, zeigt sich deutlich an Angela Merkel, die sonst vorrangig Nützlichkeits- und Realitätsnarrative bemüht, aber deren erboster Aufruf, "wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land," deutlich andere Motive ihres Handelns aufzeigt. Klar äußerte sich der Bundespräsident, der es eine "selbstverständliche moralische Pflicht" nannte, Verfolgten Zuflucht zu gewähren, "bis diese Menschen gefahrlos in ihre Heimat zurückkehren oder auch in Deutschland oder anderswo an einem sicheren Ort bleiben können". Dass der ehemalige Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin zuerst meint, diese moralische Verpflichtung führe dazu, dass "Interessen Deutschlands (…) in der Frage nicht allein ausschlaggebend sein" können, da er dem Kantschen "allgemeinen Hospitalitätsrecht" folge, jedoch dann die Merkelsche Politik für ihre zu offenen Grenzen kritisiert, zeigt ein Dilemma auf: Dem Humanitäts- und Menschenrechtsnarrativ allein folgen meist nur Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International und Pro Asyl.

Hier ergeben sich Übergänge zur zweiten Frage, an der sich der Dissens unter denen, die Geflüchtete als Bereicherung wahrnehmen, entzündet – die Frage, auf welcher "Wertebasis" sich die Nation konstituiert. Verfassungspatriotische Entwürfe betrachten die Nation dabei als politische Vertragsgemeinschaft. So steht für die ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden Charlotte Knobloch fest, dass die große Aufgabe des Willkommenheißens der Flüchtlinge "nur von einem politisch und gesellschaftlich geschlossenen Gemeinwesen getragen werden (kann), das selbstbewusst und patriotisch empfindet und auftritt. Und zwar aufgeklärt patriotisch – geläutert von einer erkenntnis- und lernorientierten Erinnerungskultur und somit souverän und wehrhaft im Umgang mit den eigenen Werten". Während für Knobloch diese "neuen deutschen Werte" vor allem auf der Aufklärung gründen und durch ihren universalen Charakter auch einen Prozess des gegenseitigen Lernens einschließen, tendieren Äußerungen, die das Verpflichten auf eine deutsche Leitkultur fordern, der feministischen Publizistin Kübra Gümüşay zufolge zu einer "herablassenden Art" gegenüber migrierenden Menschen. Es erscheint dann so, als wären "Probleme wie Antisemitismus, Sexismus, Rassismus und Co. importiert worden" und nicht ureigene Probleme Deutschlands, in dem Werte wie Toleranz selbst vielfach noch nicht erreicht seien. Leitbild statt Leitkultur fordern deswegen andere wie die Migrationsforscherin Naika Foroutan: ein zukunftsweisendes Narrativ, das Deutschland (neu) beschreibt.

Vom Party-Patriotismus zum Nationalismus

Gemein ist diesen drei Vorstellungen, dass sie sich unweigerlich auf die Nation beziehen: ob als eine, die es wiederherzustellen, zu festigen, zu affirmieren gilt, oder als eine, die neu zu gestalten, anders zu denken sei. Während die erste Position zumeist als nationalistisch klassifiziert werden kann, gilt die zweite oft als patriotisch, wobei auch nicht unbedingt in der Selbstwahrnehmung. Mit dieser Bezeichnung hätte die dritte Position unter Umständen Schwierigkeiten – inhaltlich dominiert hier allerdings ein republikanischer Verfassungspatriotismus, der den Bezug auf geteilte Werte und die Möglichkeiten anderer Zugehörigkeiten in den Mittelpunkt stellt. Doch die empirische wie theoretische Nationalismusforschung verweist darauf, dass diese anderen Zugehörigkeiten, diese erweiterten Einschlüsse, oftmals verstellt sind und notwendigerweise mit (neuen) Ausschlüssen einhergehen.

Empirisch zeigt sich, dass ein starker Bezug auf das eigene Land oftmals mit der Abwertung von vermeintlich "Fremden" einhergeht beziehungsweise diese sogar kausal bedingt – und zwar auch im gegenwärtigen Deutschland. In der Studie "Deutschland postmigrantisch" zeigte sich, dass diejenigen Befragten, denen es wichtig ist, als "deutsch" angesehen zu werden, exkludierenden Äußerungen gegenüber Minderheiten – gemessen am Beispiel von Muslimen – öfters zustimmen. Die Langzeitstudie "Deutsche Zustände" stellte einen Zusammenhang zwischen Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland fest. Und auch die oftmals als "Party-Patriotismus" verharmloste Stimmung während der Fußballweltmeisterschaft 2006, die die Akzeptanz der öffentlichen Zurschaustellung von Deutschlandfahnen deutlich erhöhte, ließ nationalistische Bindungen anwachsen: "Die Vermutung, daß es sich dabei um eine neue, offene und tolerantere Form der Identifikation mit dem eigenen Land handelt, ließ sich allerdings nicht bestätigen: Der Zusammenhang von Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit bleibt relativ stabil", so das Resümee der Autorinnen und Autoren. Während die meisten Studien das ausgrenzende Potenzial von Nationalismus betonen, unterscheiden andere davon einen Patriotismus, der wiederum in einerseits die Identifikation mit der Nation, andererseits den Stolz auf demokratische Werte und soziale Errungenschaften aufgeteilt wird. Nur diese letztgenannten Aspekte gehen mit weniger menschenfeindlichen Einstellungen einher und haben eine toleranzfördernde Wirkung. Doch: "Mit der Bindung an das eigene Land hat das aber nichts zu tun." Nicht nur Nationalismus und Patriotismus abbauen, sondern vor allem demokratische Werte fördern: Dies verringert Ausgrenzung und Vorurteile.

Auch auf theoretischer Ebene ist leicht begründbar, dass aus der Aufwertung der eigenen "imagined community" (Benedict Anderson) eine zumindest partielle Abwertung des "Anderen" resultieren kann. Dies insbesondere eingedenk der Tatsache, dass dieses "Eigene", der jeweilige Nationalstaat, als ökonomischer Standort und politischer Global Player in Konkurrenz mit anderen Nationalstaaten steht. Schlussendlich ist so zu fragen, ob die moderne Nation nicht überhaupt nur als "permanente, vorgegebene Feindschafts- und Verbrüderungsstruktur, auf die ideologisch Bezug genommen wird", zu denken ist. Dem Historiker Hagen Schulze ist zuzustimmen, wenn er es zwar nicht als notwendig, aber naheliegend ansieht, "dem positiven nationalen Selbstbild ein negatives Fremd- und Feindbild entgegenzusetzen und es dadurch abzugrenzen und abzusichern: ‚Selbstdefinition durch Feindmarkierung‘".

Vision des Postnationalen

Statt einer Förderung des Patriotismus käme es somit darauf an, die demokratischen Werte, die zu einer Verringerung von "Feindmarkierungen" führen, in den Mittelpunkt zu stellen. Indem darüber hinaus auf dem Narrativ der nationalen Diversität aufgebaut und dieses radikal erweitert wird, zeichnet sich in gegenwärtigen Praktiken und Debatten eine vierte Perspektive ab. Auch sie begrüßt Diversität und möglichst offene Gemeinschaften, geht aber gleichzeitig über das Denken in nationalen Containern hinaus und eröffnet damit eine Vision des Postnationalen.

"No Borders" ist spätestens seit den 1990er Jahren nicht nur eine Forderung migrantischer Zusammenschlüsse – wie beispielsweise der französischen "Sans Papiers" – und antirassistischer Initiativen. Sie stellt auch eine Position dar, in der die britische Migrationssoziologin Bridget Anderson eine Verschiebung sieht: weg von Bürgerinnen und Bürgern, "ihren" Organisationen und "ihrem" Staat, hin zum Standpunkt von Migrierten und Geflüchteten – und auf der Suche nach demokratischen Formen des Zusammenlebens jenseits des Nationalstaats. Eine postnationale Position ist nicht immer theoretisch ausformuliert oder kohärent, sondern zeigt sich teilweise auch in alltäglichen Handlungen und Praktiken der Geflüchteten selbst: In den kollektiven Grenzüberschreitungen des Sommers waren sie es, die das Schengen-Regime herausforderten.

Jürgen Habermas Vision der "postnationalen Konstellation" war vor fast 20 Jahren auf Europa bezogen. Heute, in Zeiten einer Polykrise und ansteigendem Rechtspopulismus in vielen Ländern, erscheint diese europäische Vision in weite Ferne gerückt. Wenn aber – wie etwa im September 2015 – Geflüchtete in Budapest auf dem Weg zur österreichischen Grenze eine europäische Flagge mit sich tragen, so passiert hier zweierlei: die Zugehörigkeit zu einem Staatenverbund wird eingefordert und der formale Ausschluss aus der Bürgerschaft damit nicht akzeptiert, ebenso wie dieser Verbund an seine propagierten normativen Werte erinnert und an diese appelliert wird. Dem Soziologen Ulrich Beck zufolge wird heute der europäische Traum – Freiheit, Demokratie und Weltoffenheit – in den Booten der Geflüchteten im Mittelmeer geträumt, mehr als in der EU selbst. Es sind ihre Vorstellungen von Europa, und ihr Glaube an Europas Werte, die die Flucht und das Ankommen motivieren. Eine "Europäisierung von außen" findet hier statt, die gleichzeitig nationalstaatliche Bürgerschaftskonzepte hinterfragt, auf ihre Fragilität verweist und sie erweitert. Einen "praktizierten Kosmopolitismus" macht die Ethnologin Regina Römhild in solchen grenzüberschreitenden Praktiken aus – weniger utopisch, nüchterner, entzauberter als das "Weltbürgertum" der Ersten Moderne, und doch nicht weniger global verortet. Er verweist auf die Versuche, entlang von Begriffen und Konzepten wie Commons und Allmende, von Kosmopolitik und Konvivialität denkend nicht- und postnationale Visionen von Zugehörigkeit zu skizzieren.

Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot und der Schriftsteller Robert Menasse haben kürzlich gefordert, dass jeder Mensch "in Zukunft das Recht haben (muss), nationale Grenzen zu durchwandern und sich dort niederlassen können, wo er will". Es ginge um nicht weniger als das Imaginieren einer neuen Welt, und "diese neue Welt denken heißt, dass wir eine bestehende Realität der Grenzenlosigkeit adaptieren in ein politisch institutionelles System, das wir uns tatsächlich ausdenken müssen".

Exklusive Vorstellungen von (National-)Kultur leben fort, und nationalstaatliche Politiken und Verfügungsgewalt dominieren weiterhin, doch auch diese Denkversuche existieren. Auch sie stellen eine mögliche Antwort auf Fragen nach Identität und Zugehörigkeit in Krisenzeiten dar.

Dr. des.; wissenschaftliche Mitarbeiterin und Geschäftsführerin am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM), Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin. E-Mail Link: sina.arnold@hu-berlin.de

Dr. des.; wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lehrstuhl Neuere und neueste Geschichte mit Schwerpunkt Zeitgeschichte, Historisches Institut der Universität Paderborn, Warburger Straße 100, 33098 Paderborn. E-Mail Link: sebastian.bischoff@uni-paderborn.de