Sind Menschenrechte ein "westliches" Konzept? Häufig wird bei dieser Frage fälschlicherweise unterstellt, es stehe zur Debatte, ob diese Rechte universell für alle Menschen gelten können, und ob kulturelle und regionale Kontexte jeweils unterschiedliche Herangehensweisen an das Thema erfordern. Eine solche Auffassung der Frage ist oft das Ergebnis einer Auseinandersetzung zwischen zwei oder mehreren Seiten, die um die politische und moralische Überlegenheit ringen, oft im Zuge ideologisch-intellektueller Debatten in und zwischen aktivistischen und akademischen Kreisen, in denen einzelne Normen bestehender Menschenrechtskonventionen als erstrebenswerter gelten als andere.
In all diesen Fällen basiert die Ausgangsfrage auf einer Reihe irriger Annahmen: dass westliche Denk- und Moralkategorien einzigartige Eigenschaften haben, die anderen fehlen; dass westliche Erfahrungen und Institutionen andernorts keine Entsprechung finden; dass manche Konzepte des "Menschlichen" aufgrund ihrer kulturellen Eigenheiten jenseits ihrer Entstehungsorte nicht auf fruchtbaren Boden fallen; und dass Menschenrechtstraditionen nicht nur als jeweils besondere zu charakterisieren sind, sondern auch in keiner Beziehung zueinander stehen.
In diesem Essay möchte ich einige philosophische und historische Kontrapunkte zu diesen Annahmen zusammentragen. Erstens soll gezeigt werden, dass die Universalität, die westlichen Normen in der internationalen Praxis zugeschrieben wird, nicht etwa ihre Einzigartigkeit belegt, sondern vielmehr das Ergebnis von Macht und politischen Möglichkeiten ist. Zweitens beschränkten sich die Umstände, die zum Aufstieg der modernen Menschenrechte führten, keineswegs auf Europa. Die Tatsache, dass sich innerhalb von nur 20 Jahren die amerikanische, die französische und die haitianische Revolution ereigneten und sie alle für unveräußerliche Rechte kämpften, lässt annehmen, dass Sklaven und Sklavenbesitzer gleichermaßen ein Interesse an der Institutionalisierung von Rechten hatten. Drittens zeigt sich an den heutigen Auseinandersetzungen über Hierarchie und Emanzipation der inhärent politische Charakter der Menschenrechtsideologien. Während kulturelle Besonderheit und Unvergleichbarkeit besonders leicht postkolonialen Einheiten zugeschrieben werden können, kommen viertens die nachdrücklicheren und streitbareren Thesen von der Unvergleichbarkeit der Menschenrechte aus dem Westen: in Gestalt der Tendenz, jedwede Konzeption und Art von Rechten als unzulässig zu erachten, die einen Kontrast zu westlichen Normen darstellt oder dem liberalen und säkularen Verständnis eines menschlichen und wertvollen Lebens widerspricht. Dieses Postulat einer Unzulässigkeit basiert nicht auf Vernunft oder Wissenschaft, sondern auf Macht und Ideologie. Und schließlich sollen Formen von Universalismus und Universalität diskutiert werden, in denen Differenz als zentrales Attribut erscheint. "Das Universelle" umfasst ein Spektrum von Bereichen und Horizonten, in denen sich verschiedene Dimensionen menschlicher Erfahrung brechen.
Eine kurze Überlegung
Die gegenwärtigen Menschenrechtskonzepte und -formulierungen in internationalen Abkommen entstammen direkt europäischen politischen, philosophischen und Rechtstraditionen. In dieser Hinsicht sind Menschenrechte europäisch oder "westlich" – doch nur in einem engen institutionellen Sinne. Denn Institutionen sind das Ergebnis politischer und historischer Prozesse. Als Resultat von Machtkämpfen sowie gesellschaftlichen und kulturellen Konventionen sind sie weniger umfassend als jene Grundsätze, die sie verkörpern. Ein Beispiel ist etwa die Diskrepanz zwischen der Demokratie als Institution und der ihr zugrundeliegenden Idee: Deutschland und die USA sind Demokratien; in welchem Maße sie demokratisch sind, bleibt in gewisser Hinsicht jedoch eine offene Frage. "Demokratie" als Institution und "das Demokratische" als Ideal kommen also aus verschiedenen moralischen Sphären und tragen daher unweigerlich ein unterschiedliches historisches Erbe in sich.
Gleiches gilt für Menschenrechte. Institutionell betrachtet bezieht sich das Konzept auf bestimmte Normen- und Prinzipienordnungen. Zugleich bezieht es sich aber auch auf konkrete und symbolische Bestrebungen, die sich nicht einfach in einer einzelnen Institution zusammenfassen lassen. Das Konzept der Menschenrechte ist ein Gedankenprinzip, das sich auch jenseits von Europa entwickelte. Denn im Laufe der Geschichte betrachteten politische Subjekte in den unterschiedlichsten Kontexten menschliche Würde als Voraussetzung für eine moderne Existenz und bemühten sich daher, politische und rechtliche Prinzipien zu institutionalisieren, um individuelles und kollektives Verhalten entsprechend zu regeln.
Die Frage nach der Universalität ist daher ebenso einfach wie kompliziert. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 wurde – ebenso wie zuvor die amerikanische Bill of Rights und die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte – in einer konventionellen Form abgefasst, die "westlich" ist. Europäische Menschenrechtskonzepte entspringen einem spezifisch europäischen bürgerlichen, liberalen und säkularen historischen Projekt. Ich ziehe daraus eine essenziell postkoloniale Schlussfolgerung: Zunächst gilt es, nach der menschlichen Würde zu fragen, bevor diese an Standards gemessen wird, die auf ein historisches Subjekt zugeschnitten sind, das liberal, kapitalistisch, imperial und, ja, auch rassistisch ist. Dieser Hinweis zur Vorsicht richtet sich nicht gegen die Notwendigkeit von Standards, um menschliche Würde zu gewährleisten, vielmehr geht es um die Notwendigkeit, ebendiese zu prüfen.
Die Idee ist also abwegig, dass Menschen andernorts keine Konzepte entwickelten oder entwickeln konnten, die jenen entsprechen, die heute in der Sprache der Menschenrechte enthalten sind. In der Tat gab es Parallelen zwischen den Fortschritten moderner europäischer Gesellschaften (ob in Kontinentaleuropa oder in den Siedlerkolonien) und jenen kolonisierter Gesellschaften weltweit. Dabei wurden Bedingungen für menschliche Würde jeweils unterschiedlich betont und in der Folge auch unterschiedlich ausgedrückt. So kann in dieser Hinsicht beispielsweise grob unterschieden werden zwischen der Neigung von Sklavenbesitzern und Kolonialherren, bürgerliche Freiheiten zu betonen, die ihnen Schutz vor dem Staat gewährten und so den souveränen Status des Individuums bestätigten, und der Tendenz von Sklaven und Kolonisierten, weiter gefasste Begriffe von bürgerlichen und politischen Rechten zu verwenden.
Quilombos und Haiti
An dieser Stelle seien zwei Beispiele herausgegriffen. So lagen etwa die Reaktionen afrikanischer Sklaven und amerikanischer Ureinwohner auf ihre jeweiligen Existenzbedingungen in der entstehenden politischen Ordnung und Ökonomie der Neuen Welt am Puls berühmter Bürgerrechtstraditionen. So etwa im heute brasilianischen Palmares, dem größten der sogenannten Quilombos, in denen sich geflohene schwarze Sklaven niederließen. Die Ereignisse, die zur Gründung von Palmares führten, begannen um 1605 mit einer Rebellion afrikanischer Sklaven im Nordosten Brasiliens, ihrer Flucht von den Plantagen und dem Versuch, ein konföderales Staatsgebilde aufzubauen. Im Laufe des portugiesischen Restaurationskrieges, der auf die Revolution von 1640 folgte, durch die Portugals Herrschaft über Brasilien erschüttert wurde, entwickelte sich die Gemeinschaft zu einem vollwertigen Staat. Palmares wurde jedoch wiederholt angegriffen und schließlich zu Beginn der 1690er Jahre von den Portugiesen erobert und seine Bewohnerinnen und Bewohner erneut versklavt.
Aus den nur sehr skizzenhaften historischen Aufzeichnungen wird deutlich, dass in den Quilombos über eine Ordnung diskutiert wurde, die die Rechte und Privilegien ihrer Bewohnerinnen und Bewohner hervorhob. Insgesamt verweisen die Belege auf eine Tendenz zu Inklusion, Pluralismus und Toleranz. Die wichtigste Verfassungssäule bestand in der Garantie des Zugangs zu sprachlichen, materiellen und symbolischen Ressourcen. Das entsprach der Vorstellung eines Landes ohne "Böses", also ohne Sklaverei oder eine Rechtsordnung, die verhinderte, dass Menschen sich lebenswichtige Ressourcen aneignen, die sie nicht selbst herstellen können, wie beispielsweise Land. Die Quilombolas, die sich besonders in der Landwirtschaft hervortaten, waren weniger gegen Landbesitz und Eigentum eingestellt, als vielmehr gegen die auf Sklavenarbeit, Evangelismus und Staatsmacht basierende Ordnung in der Neuen Welt.
Etwa ein halbes Jahrhundert vor den Quilombolas hatte der spanische Bischof Bartolomé de las Casas bereits gegen diese Ordnung aufbegehrt und auf die besondere Not der amerikanischen Ureinwohner unter der spanischen Encomienda hingewiesen, im Zuge derer spanischen Konquistadoren Ländereien einschließlich der darin lebenden indigenen Bevölkerung treuhänderisch übertragen wurden. Auf dem Höhepunkt der Naturrechtslehre im 16. Jahrhundert vertrat er den Standpunkt, die "Indios" seien Menschen. "Haben sie keine Seele?", lautete seine berühmte Frage an die Verfechter dieses Systems.
Heute könnten wir mit ihm fragen: Wer entscheidet, wer Mensch und was ein Recht ist? Wer entscheidet, was Freiheit ist? Wer entscheidet, wann andere frei sind? Als Antwort auf diese Fragen ermuntert uns das Beispiel Palmares, unsere Wahrnehmung von der Entwicklung der Menschenrechte zu überdenken. Auch die Quilombolas glaubten an die Unverletzlichkeit ihres Daseins, an die Unstrittigkeit ihrer Sache und an die Allgemeingültigkeit ihrer Werte. Entsprechend führten sie Antisklaverei-Überfälle durch, um andere versklavte Afrikaner zu befreien, und behandelten sie die amerikanischen Ureinwohner unter ihnen. In der Tat war der zentrale Anspruch im Kampf der Quilombolas ein universeller – exakt derjenige, der durch die politische Weltordnung geleugnet wurde: die Menschlichkeit von Schwarzen und amerikanischen Ureinwohnern und ihr Recht auf öffentlichen Raum und Bürgerschaft. Die Quilombolas restrukturierten die Gemeingüter so, dass Öffentlichkeit und öffentlicher Raum allen gleichermaßen zugänglich waren.
Das historische Projekt der bürgerlichen und politischen Rechte für alle wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Haiti weiterentwickelt, nachdem sich die ehemals reichste französische Kolonie unabhängig erklärt hatte. Artikel 14 der zweiten Verfassung Haitis von 1805 erklärte, alle Haitianer seien Schwarz und "Kinder ein und derselben Familie". Damit sollten die Rassehierarchien des Sklavereisystems auf den Plantagen umgekrempelt werden. In der Tat war es revolutionär, Schwarzsein als eine Identität wie jede andere zu postulieren und sie unabhängig vom Familienhintergrund und äußeren Erscheinungsbild auf alle zu beziehen. "Schwarz" wurde zum Symbol, um das sich nationale Solidarität und öffentliches Leben organisieren ließen: "Zu Hause sind die Bürger Haitis Brüder; die Gleichheit vor dem Gesetz ist unanfechtbar – und es kann keine anderen Titel, Vorteile und Privilegien geben als jene, die sich aus der Berücksichtigung von Aufgaben und der Anerkennung für Leistungen im Dienste der Freiheit und Unabhängigkeit ergeben", lautete Artikel 3 der Verfassung.
Artikel 12 präzisierte: "Kein Weißer, welcher Nation auch immer, soll mit dem Titel eines Herrn oder Besitzers seinen Fuß auf dieses Territorium setzen; auch soll er in Zukunft keinerlei Besitz darin erwerben." Dieser Abschnitt steht in enger Verbindung mit dem Verfassungsprinzip, das allen den Zugang zur Natur garantiert – anciens libres und nouveaux libres gleichermaßen. Die zentrale Säule des Gleichheitsrechts sollte einen Rückfall ins alte Regime verhindern und keine neuen Ebenen von Diskriminierung schaffen. Zum Verbot des Eigentums Weißer wird ausgeführt: "Der vorangegangene Artikel kann nicht im Geringsten weiße Frauen betreffen, die von der Regierung eingebürgert wurden – auch nicht Kinder, die bereits geboren sind oder die von den genannten Frauen künftig geboren werden. Die von der Regierung eingebürgerten Deutschen und Polen sind ebenfalls von der Verfügung dieses Artikels eingeschlossen."
Die haitianische Revolution ist ein Beispiel für progressiven Humanismus. Sie suchte nicht nur durch Verfassung und Gesetz enteignete Personen zu schützen, sondern bekannte sich explizit zu jenen, die im Licht der modernen Moral und der gesetzlichen Bestimmungen als illegitim galten, wie etwa weiße Frauen mit Beziehungen zu schwarzen Männern. Sie erklärte den Zugang zu lebenswichtigen Ressourcen zur Voraussetzung für die Sicherheit, die der Staat seinen Bürgern ohne Bevorzugung oder Benachteiligung versprach. Und sie war innovativ hinsichtlich Geschlechterfragen – ebenso wie die Quilombolas: Sie legte die Verfassungsmäßigkeit der Scheidung fest und die Gleichheit von Mann und Frau in dieser Hinsicht.
Schlussfolgerung
Es ist also ein Trugschluss zu glauben, das Universelle entspringe aus einer einzigen Quelle. Bei ihrer Befreiung verfügten Quilombolas, Haitianer und kolonisierte Bevölkerungen weltweit auf je eigene Art und Weise die einfache Wahrheit, dass alle Menschen gleich geschaffen wurden. Der Unterschied bestand darin, welche anderen unabdingbaren Rechte verfügt werden konnten – jenseits von Lebensformen, Freiheit und Glück, die ein bourgeois bevorzugt. Anders ausgedrückt: Wenn politische Einheiten die politischen Bande der Unterdrückung lösen, können sie dann qua souveränem Willen und dem Gesetz der Natur (oder Gottes) den Respekt der anderen erwarten sowie den Zugang zu den Ressourcen, die auf ihre Kosten von jenen institutionellen Arrangements und Volkswirtschaften angehäuft wurden, die ihre Unterdrückung und materielle sowie spirituelle Verarmung bewirkten?
Während des Kalten Krieges wurde diese Frage absichtlich falsch gestellt. Das sowjetische Politik-, Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell rechtfertigte die liberale Fiktion von bürgerlichen und politischen Rechten, die sich von sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechten unterscheiden und zugleich über allen Rechten stehen. Mitunter wurde in der Diskussion verwechselt, was moralisch korrekt und was "realistischerweise" erreichbar ist. Die Unterscheidungen waren eher ideologischer Natur. Denn es war und ist bekannt, dass politische Arrangements nicht den einzigen Kontext einer Herabsetzung menschlicher Würde darstellen. Staatlich gestützte wirtschaftliche Arrangements haben in der Geschichte Millionen von Menschen ihrer grundsätzlichen Würde beraubt: die spanische Encomienda, die Plantagenwirtschaft oder aktuell die mittelamerikanischen Montagebetriebe (Maquiladoras) und die Textilfabriken Bangladeschs. Es ist in der Tat nicht übertrieben, diese neueren Kontexte mit einer Versklavung zu vergleichen. Nicht zufällig wurde 1946 das Gesetz gegen Zwangsarbeit in den französischen Überseegebieten nach dem afrikanischen Antikolonialisten Félix Houphouët-Boigny benannt. Freiheitskämpfer wie er waren täglich mit dem Grauen kolonialer Folter konfrontiert – unter einem Verwaltungssystem und einer Treuhandschaft, die ebenso versklavend war wie die Plantagensklaverei.
Die Frage des Zugangs von Schwarzen zum öffentlichen Raum wurde zum Lackmustest für die Bürgerrechte in der modernen Welt: Sind sie Menschen? Können sie sich eigene Gesetze geben? Können sie ihre eigene Regierung ersuchen? Besitzen sie ihre eigenen Ressourcen? Können sie frei und human, ohne Straffolterandrohung arbeiten? Ironischerweise können afrikanische Diktatoren heute beispielsweise behaupten, Folterverbote seien eine westliche Obsession und die eigene Tradition kenne den Gedanken einer demokratischen governance nicht beziehungsweise dieser sei für die kollektiven postkolonialen Empfindlichkeiten nicht verfügbar.
Die Universalität vom Antikolonialismus ausgehender Menschenrechtsidiome und Bürgerrechtsinstitutionen sollte außer Frage stehen. Zweifellos sind die Proklamationen der haitianischen Revolutionäre heute für die Bedingungen der Obdachlosen in New York genauso gültig, besonders im Hinblick auf lebenswichtige Ressourcen. Ebenso sollten geschlagene und mittellose Frauen überall auf der Welt eine Rechtslage vorfinden, in der die Ehe und ihre Scheidung allein die Sache der Beteiligten ist, diese dabei als gleich angesehen werden und weder der Staat noch die Familien sich einmischen können. Und schließlich sollten religiöse Minderheiten die Gewissheit haben, dass ihnen nicht nur die Art ihrer Religionsausübung nicht von staatlicher Seite vorgeschrieben werden darf, sondern dass der Staat jegliche Religionsausübung auch aktiv schützt.
Alles bisher Gesagte weist auf eine schlichte Wahrheit: Der Kampf um die menschliche Würde ist universell und die Sprache des Rechts ist in diesem Kontext angemessen. Ein zentraler Aspekt dieser Allgemeingültigkeit liegt jedoch in der Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Register, in denen wir den Ausdruck dieses Kampfes "lesen" können.