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Europäisches Antidiskriminierungsrecht in Deutschland | Antidiskriminierung | bpb.de

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Europäisches Antidiskriminierungsrecht in Deutschland

Ulrike Lembke

/ 14 Minuten zu lesen

Das AGG ist das zentrale Regelungswerk zur Umsetzung der europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien. Wichtige Konzepte des europäischen Antidiskriminierungsrechts werden durch europarechtswidrige Lücken konterkariert.

Vor zehn Jahren, im August 2006, trat das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) in Kraft. Es verbietet Diskriminierungen aufgrund der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität sowie rassistische Diskriminierungen. Das AGG ist das zentrale Regelungswerk zur Umsetzung der europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien in Deutschland. Mit seinem Erlass waren Befürchtungen bezüglich gewachsener nationaler Rechtsstrukturen ebenso verbunden wie große Hoffnungen auf effektive Gleichheit und gesellschaftliche Teilhabe. Antidiskriminierungsrecht ist in Deutschland mittlerweile etabliert; den europäischen Standard erreicht es aber nicht.

Von der Entgeltgleichheit zum Diskriminierungsverbot

Als eine der ersten europäischen Antidiskriminierungsregelungen wurde 1957 der Grundsatz "gleicher Lohn für gleiche Arbeit" für Frauen und Männer in Artikel 119 des Vertrags über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (heute Artikel 157 Vertrag über die Europäische Union) aufgenommen. Hintergrund war allerdings nicht, dass man sich um die Gleichberechtigung der Geschlechter verdient machen wollte. Frankreich setzte das Gebot der Entgeltgleichheit durch, weil es aufgrund einer entsprechenden nationalen Regelung Wettbewerbsnachteile gegenüber anderen europäischen Staaten befürchtete. Das europäische Antidiskriminierungsrecht entwickelte sich zunächst in Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter in der Arbeitswelt: 1975 durch die Richtlinie 75/117/EWG zur Entgeltgleichheit und 1976 durch die Richtlinie 76/207/EWG zum Verbot der Geschlechtsdiskriminierung in Beschäftigung und Beruf; beide 2006 zusammengefasst zur Gleichstellungsrichtlinie 2006/54/EG.

Durch die Richtlinie 2004/113/EG wurde das Verbot der Geschlechtsdiskriminierung auf den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen ausgedehnt, durch Richtlinie 2010/41/EU auf selbstständige Erwerbstätigkeit. Oft nicht als Antidiskriminierungsrecht eingeordnet, aber wesentlich für die Förderung der Gleichberechtigung der Geschlechter in der Arbeitswelt sind die Richtlinie 2010/18/EU zur Elternzeit und die Mutterschutzrichtlinie 92/85/EWG, deren seit 2008 angestrebte Reform 2015 endgültig scheiterte.

Mit Artikel 13 des Vertrags von Amsterdam (heute Artikel 10 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) wurde 1999 ein allgemeines Diskriminierungsverbot in Bezug auf Geschlecht, rassistische Zuschreibungen, ethnische Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexuelle Orientierung statuiert. Der Beginn eines europäischen Rechtsrucks durch die Regierungsbeteiligung der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) beschleunigte die Verabschiedung weiterer Regelungen. Die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG schützt vor Diskriminierung aufgrund von Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter oder sexueller Orientierung in Beschäftigung und Beruf. Die Antirassismusrichtlinie 2000/43/EG verbietet rassistische Diskriminierungen in Beschäftigung und Beruf, sozialer Sicherung und Bildung sowie in Bezug auf Güter und Dienstleistungen.

Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

Europäische Richtlinien gelten nicht unmittelbar in den Mitgliedstaaten, sondern müssen innerhalb festgelegter Fristen in nationales Recht umgesetzt werden. Verzögert der Staat die Umsetzung, können sich Bürger*innen unmittelbar auf hinreichend konkrete Rechte aus der Richtlinie berufen, allerdings nur gegenüber dem Staat und nicht gegenüber anderen Privaten. Die Besonderheit der europäischen Diskriminierungsverbote im Vergleich zu den Diskriminierungsverboten im Grundgesetz ist aber gerade, dass sie zwischen Privaten gelten. Eine direkte Berufung auf Antidiskriminierungsrichtlinien kommt daher nicht in Betracht, denkbar ist jedoch ein Schadensersatzanspruch gegen den Staat wegen Nichtumsetzung. Außerdem kann die Europäische Kommission in solchen Fällen vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik einleiten.

Erste Entwürfe für ein deutsches Antidiskriminierungsgesetz gab es bereits in den 1990er Jahren von PDS, Bündnis 90/Die Grünen und SPD. Ein Entwurf des Bundesjustizministeriums zur Umsetzung der Antirassismusrichtlinie im Jahr 2000 verlief im Sande. Nach Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland im Sommer 2004 wurde sehr schnell ein Gesetzentwurf zur einheitlichen Umsetzung der damals vier Antidiskriminierungsrichtlinien (2000/43/EG, 2000/78/EG, 2002/73/EG, 2004/113/EG) präsentiert. Geäußerte Sorgen um den Bestand der deutschen Wirtschaft und des deutschen Zivilrechts waren erheblich, wurden aber nach einem einschlägigen Urteil des Europäischen Gerichtshofs von der Angst vor einer unmittelbaren Anwendbarkeit europäischen Antidiskriminierungsrechts übertroffen. Die Bundestagswahl 2005 unterbrach die nach Eröffnung des europäischen Zwangsgeldverfahrens beschleunigte Gesetzgebung, und das AGG wurde erst im Sommer 2006 und mit erheblichen Abschwächungen des ursprünglich intendierten Schutzes beschlossen.

Die Bundesregierung betrachtet das AGG als abschließende Umsetzung europäischen Antidiskriminierungsrechts und sieht auch nach Erlass weiterer Richtlinien keinen Änderungsbedarf. Ebenso wurden die im Gesetzgebungsverfahren herbeigeführten Umsetzungsdefizite nie korrigiert. Wichtige Konzepte des europäischen Antidiskriminierungsrechts werden durch erhebliche europarechtswidrige Lücken im AGG konterkariert.

Was ist Diskriminierung?

Alle Antidiskriminierungsrichtlinien enthalten jeweils in Artikel 3 die gleichen Definitionen verbotener Diskriminierung: unmittelbare und mittelbare Diskriminierung, Anweisung zur Diskriminierung sowie (sexuelle) Belästigung. Diese Definitionen sind in Paragraf 3 AGG fast wortgleich übernommen. Zwar ist der Begriff "Diskriminierung" im AGG durchgängig durch "Benachteiligung" ersetzt, das Schutzniveau wird dadurch aber ausdrücklich nicht abgesenkt.

Eine unmittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn eine Person direkt wegen eines der genannten Merkmale benachteiligt wird. Der Katalog der Merkmale ist nicht zufällig gewählt – auch wenn sich durchaus darüber streiten lässt, ob er hinreichend ist –, sondern beruht auf langjährigen Erfahrungen struktureller gesellschaftlicher Benachteiligung. Ethnische Herkunft, Geschlecht, Religion, Behinderung, Alter und sexuelle Orientierung sind Kategorien, denen Menschen grundsätzlich zugeordnet und anhand derer gesellschaftliche Ressourcen (Anerkennung, Chancen, Teilhabe, materielle Güter) verteilt werden. Unmittelbare Diskriminierung kann nur in sehr engen Ausnahmefällen gerechtfertigt werden. Sie liegt auch vor, wenn das Merkmal, etwa Behinderung, bei der Benachteiligung nur vermutet wird.

Eine mittelbare Diskriminierung ist gegeben, wenn scheinbar neutrale Vorschriften oder Kriterien faktisch zur Benachteiligung wegen eines der Merkmale führen. Die europäische und deutsche Rechtsprechung beschäftigte sich zunächst mit der Benachteiligung von Teilzeitbeschäftigten, die eine mittelbare Diskriminierung von Frauen darstellt. Andere Beispiele sind das Erfordernis deutscher Muttersprache oder einer bestimmten Körpergröße oder Beschäftigungsdauer, die Benachteiligung von Lebenspartnerschaften oder bei längerer Arbeitsunfähigkeit. Mittelbare Diskriminierung kann sachlich gerechtfertigt werden, wenn sie verhältnismäßig ist. Eine Benachteiligung wegen Schwangerschaft oder Mutterschaft gilt als unmittelbare Geschlechtsdiskriminierung.

Es besteht ein Verbot der Anweisung zur Diskriminierung, das Vorgesetzte in die Pflicht nimmt und es Beschäftigten erlaubt, sich ohne arbeitsrechtliche Konsequenzen einer solchen Anweisung zu widersetzen. Verbotene Belästigung liegt vor, wenn ein feindseliges Umfeld in Bezug auf eines oder mehrere der geschützten Merkmale geschaffen wird, beispielsweise durch ständige rassistische Bemerkungen, die "witzig" gemeint sein sollen. Eine spezifische Geschlechtsdiskriminierung stellt die sexuelle Belästigung durch unerwünschtes Verhalten sexueller Natur dar. Mehrere Diskriminierungskategorien und -formen können auch miteinander verschränkt auftreten, dann liegt eine mehrdimensionale oder intersektionale Diskriminierung vor. Beispiele sind Kopftuchverbote gegen muslimische Frauen oder der Ausschluss junger "arabischer" Männer aus Clubs, Diskotheken oder Schwimmhallen. Paragraf 4 AGG bestimmt, dass in solchen Fällen in Bezug auf jedes betroffene Merkmal eine Rechtfertigung der Ungleichbehandlung vorliegen muss.

Positive Maßnahmen wie Quotenregelungen sind keine Diskriminierung. Die Antidiskriminierungsrichtlinien (und Paragraf 5 AGG) erklären diese Instrumente, die gewachsene Ungleichheiten beseitigen und tatsächliche Gleichstellung erreichen sollen, ausdrücklich für zulässig. Die in Deutschland umstrittenen sogenannten Frauenquoten, die bei gleicher Qualifikation eine Entscheidung für die weibliche Kandidatin ermöglichen, sind entgegen anderslautender Behauptungen weder europarechts- noch verfassungswidrig. Allerdings sind sie weitgehend wirkungslos – seit Jahren schon gibt es bei Einstellungsverfahren einfach keine "gleiche Qualifikation" mehr.

Nach anderthalb Jahrzehnten wirkungsloser Selbstverpflichtungen gilt seit 1. Januar 2016 eine Mindestgeschlechterquote von 30 Prozent für Aufsichtsräte in Deutschland. Allerdings sind die Sanktionen moderat, nur 100 Unternehmen betroffen, und für Vorstände und Leitungsebenen sollen wieder Selbstverpflichtungen genügen. Eine weitergehende europäische Regelung hat Deutschland verhindert. Angesichts der Erfahrungen mit der Geschlechterquote besteht Zurückhaltung, auch in Bezug auf andere Merkmale, beispielsweise Migrationshintergrund, positive Maßnahmen zu ergreifen.

Sanktionen und Rechtsdurchsetzung

Die Antidiskriminierungsrichtlinien verlangen wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen. Betroffene können die Beseitigung einer Beeinträchtigung und deren künftige Unterlassung sowie Schadensersatz oder Entschädigung verlangen. Nur wenn in einem Bewerbungsverfahren die betreffende Person ohnehin nicht eingestellt worden wäre, darf die Höhe des Schadensersatzes generell begrenzt sein; nach dem AGG auf drei Monatsgehälter. In allen anderen Fällen muss die Entschädigung auch abschreckend sein.

Nach Paragraf 12 AGG müssen Arbeitgeber*innen selbst Diskriminierung unterlassen sowie die erforderlichen, auch vorbeugende, Maßnahmen zum Schutz der Beschäftigten vor Diskriminierung durch andere Beschäftigte oder Dritte treffen. Erfüllen Arbeitgeber*innen diese Pflichten nicht, drohen Schadensersatz oder Entschädigung nach Paragraf 15 AGG. Wird beim Zugang zu Gütern oder Dienstleistungen diskriminiert, besteht ein Anspruch auf Beseitigung, Unterlassung, Schadensersatz oder Entschädigung aus Paragraf 21 AGG. Bei einigen Gerichtsentscheidungen lässt sich durchaus diskutieren, ob die verhängten Sanktionen wirksam und abschreckend sind.

Das europäische Antidiskriminierungsrecht vollzieht einen wichtigen Perspektivwechsel hin zu den Betroffenen von Diskriminierung. Eine sanktionswürdige Diskriminierung liegt vor, wenn die entsprechende Benachteiligung "bezweckt oder bewirkt" wird. Vorsatz oder Verschulden sind also nicht notwendig. Der gern geäußerte Vorwurf des "Tugendterrors" zeigt daher vor allem, wer die rechtliche Systematik verstanden hat und wer nicht. Im europäischen Antidiskriminierungsrecht ist es egal, ob Personen, die diskriminieren, "gute" Menschen sind, die es doch "gar nicht so gemeint" haben. Von Interesse sind die Wirkungen bei den Betroffenen, um deren Schutz es geht.

Mit diesem Zugriff hat der deutsche Rechtsdiskurs erhebliche Probleme. In den Kommentierungen zum AGG wird deutlich, dass viele sich insbesondere eine rassistische Diskriminierung überhaupt nur vorsätzlich vorstellen können. Menschen mit türkischen oder arabischen Namen, die nicht zu Vorstellungsgesprächen eingeladen werden oder deren Examensnoten signifikant schlechter ausfallen, schert es aber wenig, ob die Arbeitgeber*innen doch gar nicht "ausländerfeindlich" sind – abgesehen davon, dass hier meist deutsche Staatsbürger*innen diskriminiert werden, helfen solche Aussagen kaum gegen Arbeitslosigkeit. Auch viele Frauen können nicht mehr hören, dass der übergriffige Kollege "doch nur flirten" wollte.

Das europäische Antidiskriminierungsrecht lässt solche Ausflüchte nicht gelten und garantiert den Betroffenen effektiven Schutz. In den Paragrafen 15 und 21 AGG dagegen wird der Anspruch auf Schadensersatz und Entschädigung von Vorsatz oder Verschulden abhängig gemacht – ein klarer Verstoß gegen europäisches Recht.

Die europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien fordern ferner einen effektiven Rechtsschutz: Betroffene müssen vor Gericht gehen können. Es genügt, dass sie dort Indizien für eine Diskriminierung vortragen, damit die Beklagten beweisen müssen, dass keine Diskriminierung vorlag (Beweislastumkehr). Antidiskriminierungsverbände dürfen die Betroffenen vertreten oder unterstützen. Nach einer Beschwerde müssen Arbeitnehmer*innen vor Sanktionen ihrer Arbeitgeber*innen geschützt werden.

Diese Anforderungen sind durch das AGG weitgehend umgesetzt. Allerdings ist das Beteiligungsrecht von Verbänden in Paragraf 23 AGG unter Verstoß gegen die Richtlinien geregelt (kein Vertretungsrecht). Auch die Beweislastumkehr in Paragraf 22 AGG funktioniert in der Praxis kaum, weil die Verwendung statistischer Daten quasi ausgeschlossen und andere Beweise selten zu erbringen sind. Ein Gesetzesvorhaben des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend von 2015 will zumindest für den Lohnbereich mehr Transparenz und einen individuellen Auskunftsanspruch schaffen.

Problematisch bleibt die ausgesprochen knappe Frist von zwei Monaten, um Ansprüche aus dem AGG geltend zu machen. Betroffene brauchen oft Zeit, um die Diskriminierung zu verarbeiten, Beratung in Anspruch zu nehmen, sich für rechtliche Schritte zu entscheiden. Die Antidiskriminierungsrichtlinien überlassen die Festsetzung der Frist explizit den nationalen Gesetzgebern und schwächen dadurch den Schutz erheblich ab.

Reichweite, Schutzlücken, Umsetzungsdefizite

Wie zu Beginn dargestellt, gelten die europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien teils nur für Beschäftigung und Beruf, teils auch für den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen sowie für soziale Sicherung und Bildung. In der Kombination der Diskriminierungskategorien mit diesen sachlichen Anwendungsbereichen entsteht ein Flickwerk verschiedener Schutzintensitäten. Auch viele nationale Rechtsordnungen haben historisch gewachsenes und dadurch disparates Antidiskriminierungsrecht.

Das AGG scheint dagegen das leuchtende Vorbild eines umfassenden Schutzes vor Diskriminierung zu sein. Immerhin will es in einem einheitlichen Gesetz alle europäischen Diskriminierungsverbote für diverse Bereiche regeln: Zugang zu Beschäftigung und Beruf, auch für Selbstständige, Arbeitsbedingungen, Entgelt, Aufstieg, Entlassung, Tarifverträge, Berufsberatung und Berufsbildung, berufliche Selbstorganisation, Sozialschutz, soziale Vergünstigungen, Bildung, Güter und Dienstleistungen (Paragraf 2 Absatz 1 AGG).

Aber: Wer das Gesetz bis zum Ende durchliest, wird feststellen, dass es halbwegs vollständige Regelungen nur für den Bereich von Beschäftigung und Beruf enthält – wenn auch ohne das ausgesprochen relevante Kündigungsrecht oder Schutz für Selbstständige. Der Sozialschutz ist in den Sozialgesetzbüchern (SGB) mit eigenen begrenzten Benachteiligungsverboten geregelt (Paragrafen 33c SGB 1 und 19a SGB 4). Zu Bildung finden sich im AGG keine weiteren Normen – nicht ganz überraschend, da hier die einzelnen Bundesländer zuständig sind. Im Bereich von Gütern und Dienstleistungen (wie Kredit, Wohnraum, Gastronomie, Reisen, Versicherung) wird umfassender Schutz nur gegen rassistische Diskriminierung gewährt. Gleiches müsste nach Richtlinie 2004/113/EG für Geschlecht gelten, wurde aber ebenso nicht umgesetzt wie der versprochene überobligatorische Schutz bezüglich der anderen Merkmale.

Beim Zugang zu und der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen ist explizit kein Schutz vor Diskriminierungen aufgrund der Weltanschauung oder vor sexueller Belästigung statuiert, und Benachteiligungen wegen Schwangerschaft oder Mutterschaft gelten nicht als unmittelbare Geschlechtsdiskriminierung – misslich für stillende Mütter, denen der Zugang zu Geschäften und Gaststätten verwehrt wird. Der verbleibende Schutz ist auf sogenannte Massengeschäfte und private Versicherungen beschränkt und kann recht einfach (Paragraf 20 AGG) ausgehebelt werden. Zudem ist der Wohnungsmarkt weitgehend ausgenommen: Der gesamte Katalog an Diskriminierungsmerkmalen ist nur zu beachten, wenn jemand ständig mehr als 50 Wohnungen vermietet.

Auch im Arbeitsleben kommt das europäische Antidiskriminierungsrecht kaum an. Kündigungen sind vom AGG nicht erfasst. Nach der Elternzeit wird kein Rückkehrrecht auf den früheren Arbeitsplatz garantiert. Der Gender Pay Gap liegt konstant bei über 20 Prozent, die Gleichwertigkeit von Arbeit ist nicht gesetzlich geregelt, und allzu viele Tarifverträge in Deutschland enthalten gewachsene Systeme ungleicher Entlohnung, die von den Gerichten beharrlich verteidigt werden. Die dabei beschworene Tarifautonomie ist aber kein Freischein zur Geschlechtsdiskriminierung. Der Schutz von Selbstständigen vor Diskriminierung ist weitgehend inexistent, vom Mutterschutz sind sie ausgeschlossen. Und angemessene Vorkehrungen für die Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Arbeitsleben bleiben sehr begrenzt.

Um Schadensersatz oder Entschädigung zu erhalten, müssen Betroffene Vorsatz oder Verschulden nachweisen – ein eklatanter Systembruch –, während zugleich die Beweislastumkehr eher nur auf dem Papier besteht. Ein Verbandsklagerecht, das die individuell Betroffenen entlasten könnte, fehlt. Dass die Fristen zu kurz sind, ist ausnahmsweise kein direktes Umsetzungsdefizit, steht aber im Widerspruch zum effektiven Rechtsschutz.

Das AGG enthält ganz erhebliche Schutzlücken, die nicht mehr mit dem viel kritisierten Patchwork der unterschiedlichen Schutzniveaus der Antidiskriminierungsrichtlinien erklärt werden kann. Es handelt sich vielmehr um europarechtswidrige Umsetzungsdefizite. Diese sind auch durch extensive richtlinienkonforme Auslegung nicht mehr zu beheben. Bisher hat die Europäische Kommission auf die Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren allerdings verzichtet.

Ausblick: Eine Richtlinie für alle(s)?

Seit vielen Jahren wird auf europäischer Ebene über einen einheitlichen Schutz durch eine horizontale Richtlinie für alle Diskriminierungsmerkmale diskutiert. Bereits 2008 stellte die EU-Kommission den Entwurf einer Richtlinie vor, die die Schutzstandards und Anwendungsbereiche in Bezug auf Religion und Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexuelle Identität anpassen sollte. Bis heute ist Deutschland die treibende Kraft dahinter, die Richtlinie zu verhindern – wenn auch inzwischen sehr leise. Hintergrund dürfte ein politisches Patt sein, da einige Ministerien einen umfassenden Diskriminierungsschutz anstreben, während anderen Akteuren nach den Erfahrungen bei Erlass des AGG wenig ferner liegen dürfte, als nochmals Wirtschaft und Zivilrechtslehre aufzuschrecken.

Dies gilt insbesondere mit Blick auf das Diskriminierungsmerkmal Behinderung. Private Versicherungen waren bereits wenig entzückt, als sie nach dem Test-Achats-Urteil des EuGH nicht mehr aufgrund des Geschlechts diskriminieren durften, und erhöhten darauf die Prämien für alle Geschlechter. Wenn nun auch Benachteiligungen aufgrund von Alter und Behinderung entfallen sollten, wird die Laune nicht besser. Darüber hinaus verlangt bereits Artikel 5 der Richtlinie 2000/78/EG angemessene Vorkehrungen, um Menschen mit Behinderung den ungehinderten Zugang zur Arbeitswelt zu ermöglichen. Müssten auch soziale Einrichtungen und Leistungen, Schulen und Hochschulen sowie der Zugang zu Gütern und Dienstleistungen barrierefrei ausgestaltet werden, würde dies ganz erhebliche Veränderungen bedeuten. Allerdings gelten entsprechende Anforderungen längst durch die UN-Behindertenrechtskonvention als Bundesgesetz und wird es überdies wohl noch in diesem Jahr einen europäischen Rechtsakt zu Barrierefreiheit geben.

Die Bundesrepublik hat im europäischen Vergleich ihre Vorbildrolle bisher auf Mutterschutz und Elternzeit beschränkt. Nun wird es Zeit für ein deutsches Antidiskriminierungsrecht, das diesen Namen verdient, und damit für eine umfassende Überarbeitung des AGG. Und die Einlösung des Versprechens auf umfassenden Schutz sollte auch auf europäischer Ebene vorangetrieben werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Doris Liebscher, Erweiterte Horizonte: Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz und europäische Antidiskriminierungsrichtlinien, in: Lena Foljanty/Ulrike Lembke (Hrsg.), Feministische Rechtswissenschaft. Ein Studienbuch, Baden-Baden 2012, S. 109–132, hier: S. 113.

  2. Geändert durch Richtlinie 2002/73/EG.

  3. Siehe Dagmar Schiek, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Ein Kommentar aus europäischer Perspektive, München 2007, Rn. 35.

  4. Die Schreibweise mit * lässt Raum für Geschlechtsidentitäten jenseits der Zweigeschlechtlichkeit.

  5. In der Entscheidung des EuGH vom 5.2.1963, Rs. 26/62 (van Gend & Loos) wurden erstmals individuelle Rechte aus dem Europarecht anerkannt; zur Anwendbarkeit von Richtlinien siehe EuGH vom 5.4.1979, Rs. 148/78 (Ratti), EuGH vom 14.7.1997, Rs. C-91/92 (Faccini Dori), ständige Rechtsprechung.

  6. Zur Gesetzgebungsgeschichte ausführlich D. Schiek (Anm. 3), Rn. 2ff.

  7. Der EuGH vom 22.11.2005, Rs. C-144/04 (Mangold) entschied, dass Diskriminierungsverbote als allgemeine Rechtsgrundsätze betrachtet werden können, die im Unterschied zu Richtlinien unmittelbar in allen Mitgliedstaaten gelten.

  8. Unter anderem abgeschwächte Sanktionen, stark verkürzte Fristen, verminderte Entschädigung, Streichung des Verbandsklagerechts, stark reduzierter Anwendungsbereich (Kündigung, Wohnraum, Bildung etc.).

  9. So spielt soziale Herkunft bspw. im deutschen Bildungssystem eine wesentliche Rolle. Vgl. Jutta Allmendinger/Rita Nikolai, Bildung und Herkunft, in: APuZ, (2006) 44–45, S. 32–38; Rolf Becker/Wolfgang Lauterbach (Hrsg.), Bildung als Privileg, Wiesbaden 20104.

  10. Statt vieler: Cornelia Klinger/Gudrun-Axeli Knapp (Hrsg.), Überkreuzungen. Fremdheit, Ungleichheit, Differenz, Münster 2008; Sandra Smykalla/Dagmar Vinz (Hrsg.), Intersektionalität zwischen Gender und Diversity. Theorien, Methoden und Politiken der Chancengleichheit, Münster 2011; Gabriele Winker/Nina Degele, Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld 2009.

  11. Dazu Ute Sacksofsky, Mittelbare Diskriminierung und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, Berlin 2010.

  12. Grundlegend Susanne Baer, Würde oder Gleichheit? Zur angemessenen grundrechtlichen Konzeption von Recht gegen Diskriminierung am Beispiel sexueller Belästigung am Arbeitsplatz in der Bundesrepublik Deutschland und den USA, Baden-Baden 1995; Ulrike Lembke, Sexuelle Belästigung: Recht und Rechtsprechung, in: APuZ, (2014) 8, S. 35–40; dies., Sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum. Rechtslage und Reformbedarf, in: Kritische Justiz, (2016) 1, S. 2–12.

  13. Vgl. Susanne Baer/Melanie Bittner/Anna Lena Göttsche, Mehrdimensionale Diskriminierung – Begriffe, Theorien und juristische Analyse, Berlin 2010; Jutta Jacob/Swantje Köbsell/Eske Wollrad (Hrsg.), Gendering Disability. Intersektionale Aspekte von Behinderung und Geschlecht, Bielefeld 2010.

  14. Siehe hierzu den Beitrag von Doris Liebscher in dieser Ausgabe.

  15. Vgl. Hans-Jürgen Papier/Martin Heidebach, Rechtsgutachten zur Frage der Zulässigkeit von Zielquoten für Frauen für Führungspositionen im öffentlichen Dienst sowie zur Verankerung von Sanktionen bei Nichteinhaltung, München 2014, S. 39ff.

  16. Sehr kritisch: Stellungnahme des Deutschen Juristinnenbundes vom 7.10.2014, Externer Link: http://www.djb.de/Kom/K1/st14-17 (5.2.2016).

  17. Siehe hierzu den Beitrag von Doris Liebscher in dieser Ausgabe.

  18. Das Konzept "Wirkung statt Vorsatz" ist aus dem europäischen Wettbewerbs- und Kartellrecht seit langem bekannt und bewährt.

  19. So das Ergebnis einer Studie von Leo Kaas/Christian Manger, Ethnic Discrimination in Germany’s Labour Market: A Field Experiment, IZA Discussion Paper 4741/2010.

  20. So erste Ergebnisse einer Studie von Emanuel Towfigh/Christian Traxler/Andreas Glöckner, Zur Benotung in der Examensvorbereitung und im ersten Examen, in: Zeitschrift für Didaktik der Rechtswissenschaft, (2014) 1, S. 8–27, hier: S. 20f. Signifikant schlechtere Bewertungen gab es übrigens auch für Frauen.

  21. Dazu Johanna Wenckebach, "Bis unter den Vorstand, überhaupt kein Thema". Der Nachweis einer gläsernen Decke im Antidiskriminierungsprozess, in: Kritische Justiz, (2011) 4, S. 370–381.

  22. Eine einheitliche Regelungsstruktur findet sich aber auch in den entsprechenden Gesetzen in Spanien, Irland, Dänemark, Schweden, Finnland und Ungarn. Vgl. D. Schiek (Anm. 3), Rn. 7.

  23. Deutschland ist damit eines der Schlusslichter in der EU. Das Statistische Bundesamt (Externer Link: http://www.destatis.de) veröffentlicht mindestens jährlich die entsprechenden Zahlen und erläutert Berechnung wie mögliche Ursachen des Gender Pay Gap.

  24. Siehe hierzu auch den Beitrag von Doris Liebscher in dieser Ausgabe.

  25. Europäische Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung, KOM (2008) 426 endg., 2.7.2008.

  26. Zum (grundsätzlich überschaubaren) Anpassungsbedarf im deutschen Recht vgl. Alexander Klose, Stellungnahme zum Kommissionsentwurf für eine neue europäische Antidiskriminierungsrichtlinie im Auftrag des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Berlin 2009, S. 18ff.

  27. Über die Umsetzung des europäischen Antidiskriminierungsrechts in den Mitgliedstaaten berichten die Expert*innen des European Network of Legal Experts in Gender Equality and Non-Discrimination; viele Berichte sind veröffentlicht unter Externer Link: http://www.equalitylaw.eu.

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Dr. iur.; wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht, Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Domstraße 20, 17489 Greifswald. E-Mail Link: ulrike.lembke@uni-greifswald.de