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Der Nahe Osten 2025: Drei Zukunftsszenarien | Syrien, Irak und Region | bpb.de

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Der Nahe Osten 2025: Drei Zukunftsszenarien

Florence Gaub

/ 16 Minuten zu lesen

Es wird versucht, auch mithilfe der Analyse von Megatrends, die Entwicklungen im Nahen Osten vorherzusagen, die uns im besten oder schlimmsten Fall erwarten könnten, und Auskunft darüber gegeben, wer den Werdegang beeinflussen könnte und vor allem wie.

Die Zukunft des Nahen Ostens wird momentan als eher düster wahrgenommen; Prognosen sagen einen dreißigjährigen Krieg voraus, einen dritten Weltkrieg oder gar das Ende der Welt, wenn man dem Islamischen Staat (IS) Glauben schenkt. Doch die große Mehrheit dieser Prognosen nährt sich vorrangig aus der gegenwärtigen Situation und bläst damit quasi das alltägliche Geschehen zu einem Jahrzehnt auf. Dabei finden fundamentale Veränderungen, sei es auf individueller oder gesellschaftlicher Ebene, eher langsam statt und entgehen daher dem täglichen Beobachter. Wer die mögliche Zukunft der Region verstehen will, muss daher einen Schritt weg vom Tagesgeschehen machen und sich den mittel- und langfristigen Prozessen zuwenden. Das tut die Zukunftsforschung.

Dabei muss zuerst einmal das Vorurteil überwunden werden, dass Zukunftsprognosen ausschließlich spekulativ seien und noch dazu meistens fehlerhaft. Jede überraschende Entwicklung in der internationalen Politik – sei es der Fall der Mauer oder der Arabische Frühling – wird zum Anlass genommen, die gesamte Disziplin als nutzlos zu geißeln. Dabei dient die Zukunftsforschung, im Gegensatz zur Wahrsagerei, nicht dazu, die Zukunft akkurat vorherzusagen. Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, sich kreativ mit aktuellen Prozessen auseinanderzusetzen, um sowohl positive als auch negative Entwicklungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Auf Basis dieser Ergebnisse können Entscheidungsträger die Weichen stellen, die nötig sind, um diese Entwicklungen abzuwenden oder einzuleiten. Wo Zukunftsforschung besonders ernst genommen wird, treten ihre Vorhersagen gar nicht ein: Beispiele sind das Ozonloch oder das Baumsterben der 1980er Jahre. In beiden Fällen führten alarmierende Vorhersagen dazu, dass Maßnahmen eingeleitet wurden, die die Entwicklung aufhalten oder sogar umkehren konnten. Wo Warnungen nicht gehört werden, ergeht es der Zukunftsforschung wie der griechischen Mythologiefigur Kassandra: Sie mag Recht behalten, doch ihre eigentliche Aufgabe, die erfolgreiche Frühwarnung, hat sie verfehlt.

Auch zum Nahen Osten gab und gibt es eine ganze Reihe an Vorhersagen, die teils eingetreten sind, teils nicht. Im besten Fall haben die Vorhersagen eine Verhaltensänderung angestoßen – zum Beispiel waren demografische Vorhersagen für die Region in den 1970er und 1980er Jahren derart katastrophal, dass dies Politiker dazu bewog, Schritte zur Senkung der Geburtenrate einzuleiten. Die Prognosen aus diesen Jahrzehnten sind folglich nicht eingetreten. Im weniger guten Fall verhalten sich Menschen anders als angenommen, weil sie zu jeder Zeit eine Fülle von Handlungsoptionen zur Verfügung haben, Szenarien jedoch nur eine limitierte Anzahl davon durchspielen können. Ein Beispiel ist das Verhalten des ägyptischen Militärs 2011 und 2013: Beide Male handelten die Offiziere anders, als die meisten Beobachter vorausgesagt hatten, weil sie noch andere Optionen hatten. Die schiere Unendlichkeit an Entwicklungsmöglichkeiten ist es, was Prognosearbeit so komplex macht.

Eine beliebte Methode in der Zukunftsforschung ist die Szenarienentwicklung. Hier werden nicht nur präzise Situationen in der Zukunft entworfen, sondern auch die Entwicklungen, die dahin geführt haben. Szenarien müssen aber immer aus verschiedenen Faktoren auswählen, um die Komplexität der Optionen zu reduzieren – und dabei können sie in der Tat Wichtiges übersehen. Die Szenarios, die nachstehend vorgestellt werden, sind wahrscheinlicher Natur, sie beschränken sich auf Schlüsselfaktoren in Sicherheit und Politik. Sie bilden drei Entwicklungsmöglichkeiten für den Nahen Osten im Jahr 2025 ab.

Megatrends: Das ganze Bühnenbild

Wahrscheinliche Szenarien bewegen sich, im Gegensatz zu möglichen oder wünschenswerten, nicht in einem luftleeren Raum: Sie basieren auf sogenannten Megatrends. Das sind in der Zukunftsforschung langfristige Trends, die nur noch schwer umzukehren sind. Sie sind quasi das Bühnenbild, vor dem die Handlung (in diesem Fall Terrorismus und Bürgerkrieg) sich abspielt – doch im Gegensatz zum statischen Bühnenbild entwickelt es sich nicht nur, es kann selbst positive und negative Einflüsse auf die Situation nehmen.

Im Nahen Osten gibt es fünf solcher Trends, wovon vier potenziell noch mehr Konflikte befeuern können, der fünfte kann sowohl positiv als auch negativ gewertet werden: die Bevölkerungsentwicklung, die Verstädterung, der Klimawandel, die Abhängigkeit von Lebensmittelimporten sowie die zunehmende Internetpenetration. Alle fünf werden, in absteigender Intensität, die Zukunft der Region mitbestimmen. Die Demografie wird dabei der wichtigste Faktor sein. Wenngleich der Zuwachs der Bevölkerung sich stark verlangsamt hat, wächst die Region (mit Ausnahme des Libanon) nach wie vor weiter: von 324 Millionen Einwohnern 2015 auf 370 Millionen im Jahr 2025. In diesen zehn Jahren werden die geburtenstarken Jahrgänge von 1990 bis 2010 den Arbeitsmarkt erreichen. Die Gesamtbevölkerung der Region bleibt dabei nach wie vor jung: Je nach Land sind zwischen 40 und 60 Prozent unter 30 Jahre alt. Die Internationale Arbeitsorganisation sieht in ihren Prognosen einen Anstieg der nahöstlichen Jugendarbeitslosigkeit von 27 Prozent 2015 auf über 31 Prozent 2025. Dies ist deshalb ein politisches und nicht nur soziales Problem, weil ein signifikanter Zusammenhang besteht zwischen hoher Arbeitslosigkeit (über 30 Prozent) in dieser Altersgruppe und vermehrten politischen Unruhen, Gewalt und Terrorismus.

In den vergangenen Jahrzehnten haben einige Staaten versucht, die immer größer werdende Schere zwischen Bevölkerung und eigener Lebensmittelproduktion durch Subventionen abzufedern; da die Region (mit Ausnahme Israels) insgesamt jedoch über 50 Prozent ihrer Lebensmittel importiert, bedeutet dies, dass sie den traditionell stark schwankenden Preisen des Weltmarktes ausgeliefert bleibt. Ende 2010 bedeutete dies, dass die Bevölkerung quasi über Nacht Lebensmittelpreisanstiege von im Schnitt 25 bis 30 Prozent verkraften musste – ein Faktor, der in die Unruhen von 2011 hineinspielte.

Doch nicht nur die Demografie drückt auf die Infrastrukturen der Staaten; auch der Klimawandel wird den Nahen Osten härter als andere Weltregionen treffen, weil er bereits bestehende Probleme mit Wasser und Hitze verstärkt. Schon 2007 sagte der Weltklimarat voraus, dass die Region bis 2025 Temperaturanstiege von durchschnittlich zwei Grad Celsius zu verzeichnen haben werde. Dies hat weitreichende Konsequenzen: Laut der Weltbank würden fast ein Drittel der Bevölkerung Wassermangel ausgesetzt sein, die Landwirtschaft würde noch weniger als bisher produzieren. Durch den prognostizierten Anstieg des Meeresspiegels (zwischen zehn und 30 Zentimetern bis 2050) werden mehrere Millionen Menschen in Küstenstädten wie etwa Alexandria in Ägypten von Hochwasser und Überflutungen bedroht werden.

Diese Entwicklung geht einher mit der Verstädterung: Lebten 2015 56 Prozent der Bürger im Nahen Osten in Städten, wird dieser Wert, auch durch den Klimawandel und die Arbeitslosigkeit, auf über 60 Prozent ansteigen. Dies muss nicht, kann aber ein soziales Megaproblem werden, wenn die schon jetzt überforderte Infrastruktur der Städte die Masse an Menschen nicht aufnehmen kann. Dies ist schon jetzt der Fall in Metropolen, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten massiv gewachsen sind wie etwa Kairo. Zu guter Letzt wird das Internet weiter aufholen und nicht nur auf politische Kommunikation Einfluss nehmen, sondern auch die zunehmende Individualisierung der Gesellschaft vorantreiben. Waren 2015 rund 49 Prozent der Bevölkerung im Nahen Osten online, werden es 2025 bis zu 80 Prozent sein; über 85 Prozent hiervon nutzen es bereits jetzt von ihrem Mobiltelefon aus – ein Trend, der sich noch verstärken wird.

Strategische Weichenstellungen: Wohin die Reise geht

Wird die aktuelle Situation im Nahen Osten (offene und eingefrorene Konflikte, Terrorismus, politische Unruhen) mit den Megatrends gepaart, ergeben sich für die Entscheidungsträger folgende Prioritäten: Nicht nur muss die Sicherheit wiederhergestellt werden, ebenso dringend müssen Jobs für Jugendliche geschaffen, Mechanismen für eine weniger empfindliche Preisabhängigkeit vom Weltlebensmittelmarkt eingeführt sowie verbesserte Infrastrukturen in vor allem den Städten geschaffen werden. Ist dies nicht der Fall, werden weitere Voraussetzungen für gewalttätige Konflikte geschaffen. Die Entscheidungsträger im Nahen Osten sind dabei Dreh- und Angelpunkt der Szenarien: Besorgniserregend ist, dass sie immer weniger in der Lage sind, getroffene Entscheidungen auch umzusetzen. Das Tandem aus Entscheidungen und Umsetzungsfähigkeit bestimmt daher die Zukunft der Region.

Hieraus leiten sich drei Hypothesen ab, auf denen die Szenarien aufgebaut werden: Laut der ersten schaffen Entscheidungsträger in der Region es nicht, die kurz- und mittelfristigen Herausforderungen zu meistern; laut der zweiten gelingt ihnen dies nur im Bereich der Sicherheit, und laut der dritten gelingt es ihnen allumfassend.

Das negative Szenario

2025: Die Staaten im Nahen Osten haben das vergangene Jahrzehnt vorrangig damit verbracht, Sicherheit wiederherzustellen – doch dabei haben sie die wichtigsten politischen, sozialen und wirtschaftlichen Reformen zurückgestellt. Der Kampf gegen den IS, die Muslimbruderschaft oder andere anti-staatliche Organisationen hat dabei nicht nur die politische Aufmerksamkeit absorbiert, sondern auch Ressourcen. Eine Simulation ergibt, dass den Staaten auf diese Weise drei Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes verloren gegangen sind.

2025 erreicht deshalb in Ländern wie Ägypten, Irak oder Jordanien eine Generation den Arbeitsmarkt, die, wie schon die Generation von 2011, nicht nur keine Arbeit und schlechte Versorgung hat, sondern auch politisch repressiv behandelt wurde. Während es den Regierungen zwar immer wieder gelungen ist, den gewalttätigen Gruppen schwere Schläge zu versetzen, so besteht die Bedrohungslage unverändert weiter, da diese Gruppen nach wie vor Zulauf haben: Denn jeden Monat erreichen neue Jugendliche einen immer engeren Arbeitsmarkt und sehen sich schwierigen Lebensbedingungen ausgesetzt. 2022 führte ein explosionsartiger Anstieg der Lebensmittelpreise erneut zu Demonstrationen, die brutal niedergeschlagen wurden. Das Internet ist in diesem Jahrzehnt ein noch wichtigerer Faktor als 2011: Waren damals gerade einmal 25 Prozent der Region online, so sind es jetzt weit über 80 Prozent – ein politischer Raum, den keine der Regierungen kontrollieren kann.

Die Lage führt zur totalen Eskalation: Sowohl die Türkei als auch Tunesien verlassen den demokratischen Pfad, um sich ganz dem Kampf gegen den Terror zu verschreiben (über 3000 junge Tunesier sind mittlerweile aus den Kämpfen in Syrien zurückgekehrt), der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern verstärkt sich, da der IS beginnt, auch dort Fuß zu fassen. Obwohl er in den vergangenen zehn Jahren schwere Verluste hinnehmen musste, besteht er nach wie vor im Irak als aktive Terrororganisation, in einem geringeren Ausmaß auch in Syrien, Ägypten, Libyen und den palästinensischen Gebieten. Profitiert hat der IS im Irak dabei von der Sezession Kurdistans, die 2022 trotz internationaler Proteste vollzogen wurde. Schlussendlich war die Unterstützung der Türkei für Erbil ausschlaggebender als die der USA. Wenngleich dies zu Reformen im arabischen Restteil Iraks geführt hat, fühlen sich die Sunniten dort nach wie vor benachteiligt und stehen den Aktionen des IS nicht komplett feindlich gegenüber, da er ihr einziges Sprachrohr zu sein scheint.

In Syrien hat die internationale Koalition, die seit 2015 besteht, keinen Frieden schaffen können. Auch wenn der IS zurückgedrängt wurde, bedeutete dies noch keine Friedensbereitschaft seitens der Rebellen oder der Regierung unter dem nunmehr 60-jährigen Präsidenten Bashar al-Assad. Auch wenn er nicht in der Lage ist, das Land voll zu kontrollieren, bleibt er kompromisslos. Mehrfach ist seine Armee Oppositionellen in den benachbarten Libanon gefolgt, ohne sich dabei mit Beirut auch nur zu koordinieren, was wiederum zu weiteren Attentaten der Hisbollah geführt hat. 1,23 Millionen Syrer sind Opfer des Konfliktes geworden, und 6,14 Millionen haben das Land verlassen.

Auch im Sinai ist es dem ägyptischen Militär nicht gelungen, die Ableger des IS komplett zu besiegen. Immer wieder gibt es Terrorattentate auf touristische Ziele, was der ägyptischen Wirtschaft schwer zu schaffen macht. Der Tourismus, welcher vor den Attentaten 13 Prozent des ägyptischen Bruttoinlandsproduktes ausmachte und rund elf Prozent der Arbeitsplätze, ist um ein Drittel geschrumpft. Gleichzeitig hat der Terror auch dazu geführt, dass wichtige ausländische Investoren sich aus dem ägyptischen Markt zurückgezogen haben. Coca-Cola etwa hat seine regionale Hauptproduktionsstätte nach Tunesien verlegt, während Ikea nach noch nicht einmal zehn Jahren seine Aktivitäten im Land eingestellt hat. Dies wiederum führt zu noch mehr Arbeitslosigkeit und zu noch mehr politischer Gewalt – die wiederum zu noch mehr Repression führt.

Iran hat zwischenzeitlich den Atomwaffensperrvertrag verlassen; nach Konflikteskalationen mit seinen Golfnachbarn (inklusive der Ankündigung Riads, eine Atombombe zu bauen sowie mehrfachen Eindringens Saudi-Arabiens in den iranischen Luftraum) ist Teheran nun auf Kollisionskurs. In diesem Szenario ist das kommende Jahrzehnt ein verlorenes, weil versucht wurde, Probleme prioritär statt simultan zu lösen, so entstand nur noch mehr Konfliktpotential.

Das "durchwachsene" Szenario

Seit 2015 hat der Nahe Osten viele Reformen angestoßen, aber auch schwere Rückschritte verzeichnen müssen. Insgesamt ist die Bilanz daher eher durchwachsen, und die Region weist nach wie vor hohes Risikopotenzial und mehrere Unruheherde auf. Während Entscheidungsträger dem IS den Krieg erklärten, gingen sie auch wichtige wirtschaftliche Reformen an, doch der Durchbruch wollte nicht so recht gelingen. Obwohl 80 Millionen Arbeitsplätze geschaffen wurden, bedeutete dies gerade einmal die Beibehaltung der Jugendarbeitslosenquote von 2015 von 27 Prozent. Dies liegt an zwei Faktoren: Zum einen muss der Arbeitsmarkt die demografische Blase der frühen 2000er Jahre absorbieren, zum anderen waren die Reformen schlichtweg nicht umfassend genug. Stattdessen bauten fast alle Staaten der Region auf eine einfache Weiterführung der existierenden Programme, anstatt die überfällige Reform der Wirtschaft vorzunehmen. In Ägypten und Jordanien wurde der Tourismus weiter ausgebaut, obwohl vor allem der europäische Markt quasi ausgeschöpft war; im Irak und Iran diente die Ölwirtschaft nach wie vor als Finanzierungsquelle für Jobs im öffentlichen Dienst. Der dramatische Umbruch von einer industriellen zu einer Wissensgesellschaft, in der Innovation und Technologie Arbeitsplätze schaffen, hat nur in ganz kleinen Bereichen stattgefunden – vor allem in Tunesien und, in einem geringeren Ausmaß, in Jordanien. Doch wie das Beispiel Tunesien zeigt, mangelt es nicht an Potenzial – das Hauptproblem waren und sind die Überreste der früheren Regimes, die nach wie vor wichtige Teile der Wirtschaft kontrollieren.

Doch auch auf regionaler Ebene herrscht Frustration über enttäuschende Reformen. Das Große Arabische Freihandelsabkommen, das theoretisch seit 1997, de facto aber erst seit 2020 besteht, hatte nicht den gewünschten Effekt. Zwar stieg das Bruttoinlandsprodukt in den beteiligten Staaten um 0,1 Prozent an, doch hatte es nicht den positiven Einfluss auf die Arbeitslosenzahlen, den man sich erhofft hatte. In Ägypten sanken sie um gerade einmal 0,5 Prozent. Nach wie vor bestehen deshalb terroristische Vereinigungen in der Region; wenngleich schwächer als 2015, so existiert der IS nach wie vor in kleineren Zellen in quasi jedem Staat im Nahen Osten. Dies hat positiverweise zu mehr Kooperation zwischen den Staaten der Region geführt, zwischen denen bislang keinerlei Austausch bestand.

Doch in manchen Staaten wie dem Irak, Jordanien und Ägypten haben sich zwischenzeitlich neue politische Gruppen gebildet, die der Gewalt abschwören und versuchen, ihre Interessen demokratisch zu vertreten. Die "neuen Muslimbrüder", wie sie sich nennen, versuchen dabei die Lücke zu füllen, die durch die Massenverhaftungen der 2010er Jahre entstanden ist. Obwohl sie immer wieder Schikanen ausgesetzt sind und kaum Mitsprachrechte haben, gelingt es ihnen, auch dank des Internets, ein Sprachrohr für die frustrierte Bevölkerung zu werden.

Die ungebrochene, wenngleich vergleichsweise kleine Opposition in der Region wird stark von Tunesien inspiriert. Hier ist es gelungen, demokratisch zu bleiben trotz der Herausforderungen, die sowohl wirtschaftlich als auch sicherheitstechnisch zu meistern waren. Vor allem Ägypten, aber auch Jordanien und Syrien erleben regelmäßig zum Jahrestag der tunesischen Revolution Demonstrationen, die zu mehr Demokratie aufrufen – die besonders dann gewalttätig wurden, wenn sie mit hohen Lebensmittelpreisen einhergingen so wie 2021.

In Syrien hat sich die Lage stabilisiert, doch ein Friede ist noch fern. Während das Regime den Westen des Landes und die meisten Großstädte kontrolliert, ist Rakka, einstmals Symbol des Kampfes gegen den IS, mittlerweile zur Hochburg des Widerstandes gegen das Regime geworden. Doch militärisch befindet Syrien sich im Patt. 600.000 Syrer sind Opfer des Krieges geworden und 4,6 Millionen geflohen. Mittlerweile gibt es erste Anzeichen, dass eine Übergangsregierung unter Firas Tlass eine denkbare Alternative für die jetzige Situation sein könnte; Der Geschäftsmann gilt als weniger politisch denn pragmatisch und hat im Laufe des Krieges beiden Lagern angehört – dies macht ihn bei Hardlinern in beiden Lagern unbeliebt, doch er hat internationale Unterstützung.

Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern bleibt nach wie vor ungelöst. Wenngleich die Annäherung zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten zu Investitionen und Wirtschaftsaufschwung in den besetzten Gebieten geführt hat, liegt die Unabhängigkeit Palästinas nach wie vor auf Eis. Dementsprechend weigert sich die Hisbollah, ihre Waffen abzugeben und lähmt damit jeden politischen Reformprozess im Libanon. Die Situation zwischen Iran und den Golfstaaten hat sich ebenso wenig entspannt, wenngleich niemand Krieg als Option in Erwägung zieht. Seit der Eskalation 2016 bemühen sich beide Seiten, weniger aggressive Rhetorik anzuwenden – doch Saudi-Arabien ist sich nach wie vor sicher, dass Teheran eine geheime Atombombe besitzt, und wird im Gegenzug bezichtigt, ebenfalls eine zu bauen. In diesem Szenario wurden wichtige Fortschritte erreicht, doch die wahren Konfliktherde nicht gelöscht. Der Nahe Osten bleibt daher anfällig für weitere Konflikte und Unruhen.

Das positive Szenario

Fast 15 Jahre nach dem Arabischen Frühling hat der Nahe Osten die wichtigsten Klippen umschifft. Wenngleich nach wie vor Probleme in den Bereichen Sicherheit und Wirtschaft bestehen, sind die Grundlagen für eine insgesamt stabilere Zukunft gelegt.

Den Anstoß hierfür gaben die Jahre nach 2011: Ob Jugendarbeitslosigkeit, islamistischer Terror oder Wirtschaftskrise, alle Staaten im Nahen Osten hatten nicht nur die gleichen Herausforderungen zu bewältigen, sondern erkannten auch, dass kein Staat diese alleine würde bewältigen können. 2019 führte dies nicht nur zu einer Umsetzung des Großen Arabischen Freihandelsabkommens, sondern auch zu einer Senkung der Transportkosten um fünf Prozent und größerer Mobilität für Bürger der Region in die Arbeitsmärkte der Golfstaaten. Zusammengenommen ergaben diese Maßnahmen eine dramatische Senkung der Arbeitslosigkeit (in Ägypten etwa um sieben Prozent) und einen Anstieg des Bruttoinlandsproduktes (in Ägypten etwa um sechs Prozent). Dies wurde flankiert von einem arabischen Marshall-Plan, dem sogenannten Dabdoub-Plan (so benannt nach einem der Väter der Idee, Ibrahim Dabdoub, dem stellvertretenden Vorsitzenden der Internationalen Bank Katars). Der Plan stellt 100 Milliarden Dollar als Fonds zur Verfügung, um vor allem Entrepreneurs und Innovation zu fördern, und unterstützt Staaten beispielsweise bei der Einführung von Maßnahmen, die Preisschocks auf dem Weltlebensmittelmarkt abfedern können.

Die Senkung der Arbeitslosigkeit hat auch dazu geführt, dass terroristische Vereinigungen immer weniger Zulauf haben; auch wenn der IS nach wie vor im Internet sehr aktiv ist, so ist es ihm schon seit Jahren nicht mehr gelungen, spektakuläre Attentate zu verüben. Dies lässt sich auch auf die verstärkte Kooperation der Staaten in der Region zurückführen: Die Gründung einer regionalen Polizeiorganisation nach dem Vorbild von Europol hat nicht nur zu vermehrtem Informationsaustausch geführt, sondern auch als vertrauensbildende Maßnahme gewirkt. In diesem Klima wird nun auch wieder die Idee einer regionalen Friedenstruppe diskutiert, die 2015 auf Eis gelegt worden war.

Der syrische Bürgerkrieg ist schlussendlich durch ein politisches Abkommen beendet worden, 2026 soll eine neue Verfassung geschrieben werden. Am Ende war es vor allem Kriegsmüdigkeit, die alle Parteien dazu bewogen hatte, Kompromisse einzugehen – unterstützt vielleicht durch die gesundheitliche Schwächung Bashar al-Assads. Die Rückkehr tausender Flüchtlinge wird sich vor allem für die Türkei, Libanon und Jordanien positiv auswirken. Das Syrien-Engagement der Hisbollah hat sich negativ auf seine Position im Libanon ausgewirkt und vor allem seine Existenzberechtigung als Widerstand gegen Israel ausgehöhlt. Eine neue Partei, Lubnan (Libanon auf Arabisch), beginnt, der Organisation Wählerstimmen abzugraben.

Überall im Nahen Osten haben sich vor allem durch das Internet Interessengruppen und politische Vereinigungen zusammengefunden, die Reformen und Wandel auf friedlichem Wege erreichen wollen; regelmäßige Demonstrationen sind jedoch nicht mehr gewalttätig wie in den Jahrzehnten zuvor, auch weil die Polizeiapparate besser geschult sind. Mit der Partei Islah (arabisch für Reform) hat sich eine neue Strömung von Islamisten gebildet, die zwar extrem, doch nicht gewalttätig ist. Bei den Wahlen 2024 in Jordanien ist es ihr gelungen, zwölf Prozent der Stimmen einzusammeln.

Auch in den palästinensischen Gebieten haben sich Bürgerrechtsbewegungen gebildet, die friedlich, doch hartnäckig auf Unabhängigkeit, Rechtsstaatlichkeit und bessere Lebensbedingungen hinarbeiten. Israel ist nach wie vor regional isoliert, doch konnte es seit 2016 seine inoffiziellen Beziehungen mit den Golfstaaten verbessern. Iran und seine Golf-Nachbarn haben ein bewegtes Jahrzehnt hinter sich. Nachdem es 2016 fast zum Kriegsfall kam, organisierten die Vereinten Nationen eine Serie von Konferenzen, ähnlich wie der Konferenz für die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), um mehr Vertrauen zwischen den Staaten zu schaffen.

Insgesamt hat das stabile Umfeld sich positiv auf vielerlei Bereiche ausgewirkt: Der Tourismus boomt, Investitionen steigen an, und Innovationen im Bereich erneuerbarer Energien (etwa das seit Jahrzehnten stillgelegte Projekt Desertec) werden erneut diskutiert. Der Nahe Osten hat die Grundlagen für mehr Wohlstand und Stabilität geschaffen.

In allen drei Szenarien sind die regionalen Entscheidungsträger die treibende Kraft; nichtsdestotrotz haben Außenstehende wie Europa, Russland oder die USA Einfluss darauf, welches schlussendlich Realität wird. Doch nicht alle Akteure haben die gleichen Optionen: Während Russland vor allem militärisch und die USA vor allem diplomatisch aktiv sind, ist Europa traditionell eher wirtschaftlich engagiert. Obwohl außenpolitisch oft unterschätzt ist der Wirtschaftsfaktor dabei in der Region allesentscheidend: Wenn Europa ausländische Direktinvestitionen, Reformprogramme zur Deregulierung und Innovation unterstützt, wird das positivste Szenario am wahrscheinlichsten – doch dafür muss Politik lang- und nicht kurzfristig gedacht werden.

Dr. phil., geb. 1977; Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut der Europäischen Union für Sicherheitsstudien (EUISS), 100 Avenue de Suffren, 75015 Paris/Frankreich. E-Mail Link: florence.gaub@iss.europa.eu