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Die Kurdenfrage in der Türkei und der Krieg in Syrien

Oliver Ernst

/ 17 Minuten zu lesen

In Syriens Kurdengebieten ist eine unerwartete Dynamik entstanden. Die Türkei ist beunruhigt, da die türkisch-kurdische PKK militärisch mit den syrischen Kurden kooperiert. Dem kann Ankara einen politischen Prozess entgegen setzen.

Seit den territorialen Grenzziehungen, die nach dem Ersten Weltkrieg im Vorderen Orient das Entstehen eines kurdischen Staates verhindert hatten, zählt der Kurdenkonflikt "zu den nachhaltigsten Ursachen für Instabilität und grenzübergreifende Konflikte in der Region". Wenngleich er daher manchmal als "der Palästinenserkonflikt des 21. Jahrhunderts" bezeichnet wird, so ziehen kurdische Akteure wie der ehemalige irakisch-kurdische Bildungsminister Dlawer Ala’Aldeen aktuell eine überraschend positive Zwischenbilanz – zumindest für die kurdischen Bestrebungen im Irak: "Zum ersten Mal können sich unsere Nachbarn tatsächlich ein unabhängiges Kurdistan vorstellen, ohne dass deswegen Blut fließen muss. (…) Ja, die gesamte Ordnung im Nahen Osten ändert sich. Nie zuvor in der Geschichte war die Konstellation für die Kurden so gut."

Von der irakischen zur syrischen Kurdenfrage

Der Sturz Saddam Husseins 2003 und die seitdem andauernde Krise der Zentralgewalt im Irak hatten insbesondere für die irakischen Kurden eine große politische Dynamik ermöglicht. Seit 2008 hatte zudem die Türkei, anfangs wenig begeistert über die immer größere Selbständigkeit der irakischen Kurden, ihre Beziehungen zur kurdischen Regionalregierung "deutlich verbessert und ausgeweitet". Doch seit im März 2011 Syrien von Unruhen erschüttert wurde, die zu dem bis heute andauernden Krieg führten, ist eine "neue Kurdenfrage" auf die regionalpolitische Agenda gerückt: die der syrischen Kurden. Wie im Falle der irakischen Kurden trägt auch bei den syrischen Kurden die Schwäche des Zentralstaats zum Aufleben eines nationalen kurdischen Bewusstseins und entsprechender politischer Bestrebungen bei. Der Begriff "Kurdischer Frühling" hat – in Anlehnung an den inzwischen eher kontrovers diskutierten Begriff "Arabischer Frühling" – Eingang in die Debatten gefunden.

Dieser Kurdische Frühling wirkt sich aufgrund der inneren und der regionalen Dynamik insbesondere auf die Türkei aus, die selbst die größte kurdische Bevölkerungsgruppe beheimatet, lange Grenzen mit den kurdisch besiedelten Regionen in Syrien und im Irak teilt und historisch eng mit ihnen verwoben ist. Und wie zuvor im Falle der irakischen Kurden ist die Türkei auch heute wieder höchst besorgt, dass sich die Entwicklungen in den syrischen Kurdengebieten negativ auf die Lage in der Türkei auswirken könnten. Der Kurdische Frühling in der Türkei droht – wie sein arabisches Pendant – durch die konfliktreiche Lage in der Türkei, angeheizt durch terroristische Gewaltakte sowie durch die hohe Instabilität in der Region zu einem "Kurdischen Herbst" zu werden.

In der Türkei veränderte sich während und nach dem Arabischen Frühling – und insbesondere durch die folgenden kriegerischen Entwicklungen in Syrien – das Verhältnis zwischen kurdischer Bewegung und türkischer Regierung. Drei Faktoren beeinflussten diese Entwicklung maßgeblich:

  • die transnationale Ausrichtung der als terroristisch verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK),

  • die Transformation der PKK in eine gegen den "Islamischen Staat" (IS) kämpfende Miliz,

  • die internationale Aufwertung beziehungsweise Legitimierung der kurdischen Milizen einschließlich der in vielen Staaten als Terrororganisation gelisteten PKK.

Kurdischer Frühling in Anatolien

In der Türkei selbst war seit der von der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) geführten Regierung vorangetriebenen Öffnung 2009 ein Kurdischer Frühling durchaus wahrnehmbar.

Wie positiv sich die politische Integration der Kurden infolge der Enttabuisierung der "Kurdenfrage" entwickelt hatte und wie hoch die Akzeptanz für das kurdische politische Milieu war, machten die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 deutlich, als der prononciert kurdisch-nationalistische Kandidat Selahattin Demirtas rund zehn Prozent der Wählerstimmen gewann. Dieser Achtungserfolg bei den ersten Präsidentschaftswahlen, bei denen die Bevölkerung den Präsidenten direkt wählen konnte, ermutigte dann 2015 die stark kurdisch geprägte Demokratische Partei der Völker (HDP) dazu, nicht mehr nur mit einzelnen Kandidaten zur Parlamentswahl am 7. Juni 2015 anzutreten, sondern als linke Sammlungspartei, die verschiedene politische Kräfte – bis hin zu den türkischen Grünen – einschloss. Aus Deutschland unterstützten dann auch gleich zwei Parteien die HDP offiziell bei ihrem Wahlkampf: Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen.

Auch bei diesen Wahlen bestätigte das Ergebnis von rund 13 Prozent für die HDP, dass eine starke politische Kraft der kurdischen Nationalbewegung mit der demokratischen Entwicklung in der Türkei konform ging. Allerdings verschlechterte sich die Stimmung in der Türkei erheblich dadurch, dass der relativ weit gediehene Dialogprozess zwischen türkischem Staat und PKK nicht abgeschlossen wurde und die PKK im Sommer 2015 wieder türkische Sicherheitskräfte angriff. Ein nicht unwichtiger Faktor für die im zweiten Halbjahr 2015 immer stärker eskalierende Situation war die Rolle des IS in der Türkei, der die blutigsten Anschläge in der türkischen Geschichte gegen linke und kurdische Aktivisten und Politiker verübte und sich dazu auch HDP-Wahlveranstaltungen als Anschlagsziele aussuchte. Die starke politische Polarisierung, die seit den Protesten im Istanbuler Gezi-Park 2013 immer weiter zugenommen hatte, bekam zusätzlich eine ethnische Dimension. Trotz der aufflammenden Gewalt und der massiven Kampagne der Regierung, die die HDP immer stärker als politischen Arm des PKK-Terrors schmähte, gelang es der Partei bei den Neuwahlen, die nach den gescheiterten Koalitionsverhandlungen ausgerufen worden waren, am 1. November 2015 wiederum die Zehnprozenthürde zu überwinden und mit 69 Abgeordneten in der Großen Türkischen Nationalversammlung präsent zu sein.

Erklärung von Diyarbakir

Seit diesen Wahlen agierte die HDP wieder stärker als kurdisch-nationale Kraft. Dies wurde deutlich, als sich am 26. Dezember 2015 in Diyarbakir der "Kongress für eine demokratische Gesellschaft" (DTK) traf und der Kovorsitzende der HDP Selahattin Demirtas erklärte: "Der Widerstand wird zum Sieg führen. Die Kurden werden von nun an ihren politischen Willen in ihren Ländern haben. Die Kurden werden vielleicht einen unabhängigen Staat haben, einen föderalen Staat haben, Kantone oder autonome Regionen." In seiner Abschlusserklärung forderte der Kongress dann tatsächlich für die gesamte Türkei die Bildung "demokratischer autonomer Regionen".

Dieses politische Vorgehen polarisierte die öffentliche Meinung, da zeitgleich die Gewalt in der Türkei förmlich explodierte, vor allem auch am Ort des Kongresstreffens, in der "heimlichen Hauptstadt" der Kurden, in Diyabarkir. Die Hauptkritik aus dem Regierungslager und der oppositionellen Partei der nationalistischen Bewegung (MHP) gegen die HDP hatte sich schon im Wahlkampf im Juni 2015 darauf ausgerichtet, dass die HDP nur unzureichend Kritik an der PKK-Gewaltstrategie übte beziehungsweise sich von dieser nicht klar und deutlich distanzierte. Führende HDP-Funktionäre wie die Kovorsitzende Figen Yüksekdag bekannten sich vielmehr offen zum "kurdischen Befreiungskampf". Aufgrund dieser Nähe und Verbundenheit von PKK und HDP wurde das Parteilogo der HDP im Wahlkampf von den Gegnern umgestaltet: Statt der Hände, die wie ein stilisierter Baum Blätter tragen, zeigte das Logo Hände, die Handgranaten hielten. Im Kontext der zunehmenden Spannungen wurde die HDP auch von liberalen Kräften, die die Partei zuvor als Bollwerk gegen die Regierung und Präsident Erdogans Machtstreben gesehen hatten, kritisiert, Sprachrohr der PKK zu sein.

Wenngleich die türkische Regierung unter Ministerpräsident Ahmet Davutoglu und die Regierungspartei AKP politische Gespräche mit der HDP seit dem zweiten Halbjahr 2015 ablehnen, so ist diese Haltung möglicherweise nicht von Dauer. Denn Mitte Januar 2016 lud der türkische Parlamentspräsident alle Parteien zu Gesprächen über eine neue Verfassung ein – ausdrücklich auch die HDP.

Der Konfliktverlauf im Südosten der Türkei im Dezember 2015 und im Januar 2016 führte in den südostanatolischen Städten Cizre, Silopi, Diyarbakir und Van zu massiven militärischen Zusammenstößen zwischen türkischer Sicherheit und PKK beziehungsweise PKK-nahen Gruppen, die Hunderte Getöteter und Verwundeter auf beiden Seiten zur Folge hatten. Besonders besorgniserregend war dabei die Rolle der Patriotischen Revolutionären Jugendbewegung (YDG-H), die in den städtischen Unruhegebieten an vorderster Front kämpfte. Bei ihren Kämpfern soll es sich auch um die Kinder von vertriebenen Kurden und getöteten PKK-Kämpfern gehandelt haben. Im Januar 2016 wurde dann die Gründung einer neuen PKK-Untergliederung gemeldet, der Zivilen Verteidigungseinheit (YPS), die ebenfalls Kinder für ihren Kampf rekrutiert haben soll.

Kampf um Kobane

Die Entwicklung der PKK und ihres Kampfes in der Türkei ist eng mit der Situation in Syrien verbunden. Jahrelang hatte das syrische Baath-Regime unter Hafez al-Assad dem PKK-Führer Abdullah Öcalan und seiner Miliz eine sichere Rückzugsmöglichkeit geboten. Erst 1998, 20 Jahre nach Gründung der PKK, sorgten massive türkische Drohungen dafür, dass Syrien seinen konfrontativen Kurs änderte, Öcalan auswies und im "Vertrag von Adana" eine Zusammenarbeit mit der Türkei vereinbarte. Dies sorgte bis 2011 unter dem Sohn und Nachfolger im Präsidentenamt, Bashar al-Assad, für zunehmend positive Entwicklungen zwischen beiden Ländern. Doch mit der türkischen Unterstützung für die gegen Assad kämpfenden Milizen wendete sich das Blatt dann wieder. Die Türkei hatte diesen Kurswechsel 2011 in der Erwartung eines schnellen Sturzes von Assad vollzogen, daher mögliche "Kollateralschäden" für die eigene Sicherheit nur begrenzt perzipiert. Assad revanchierte sich aber, indem er "mit der PKK kooperierte, ihr logistische Unterstützung zuteilwerden ließ und ihr sogar die Organisation der syrischen Kurden überließ". Der stärksten syrischen Kurdenpartei, der Partei der Demokratischen Union (PYD) und ihrem bewaffneten Arm, den Volksverteidigungseinheiten (YPG), wird dementsprechend eine enge Verbindung zur PKK nachgesagt. Ein Großteil ihrer Kämpfer soll sich heute sogar aus der Türkei rekrutieren.

Die Kooperation beider Milizen zeigte sich bei der Befreiung von Kobane, der überwiegend von Kurden bewohnten Stadt im Gouvernement Aleppo, von den Kämpfern des IS. Die Türkei hatte eine Unterstützung der syrischen Kurden bei ihrem Überlebenskampf abgelehnt. In Sichtweite des türkischen Militärs fand die Zerstörung dieser Stadt statt. Schließlich akzeptierte die Türkei aber, dass Peshmerga-Kämpfer aus Irakisch-Kurdistan über die türkische Grenze nach Kobane reisen konnten, um die dortigen kurdischen Kämpfer zu unterstützen.

Die Ereignisse von Kobane und die innerkurdische Kooperation zwischen den PKK- und Peshmerga-Kämpfern machten der Türkei deutlich, dass sich die Zusammenarbeit der Kurdenmilizen gegen den IS nicht verhindern ließ. Dieses neue kurdische Bündnis hatte sich bereits angekündigt, als umgekehrt die PKK den Peshmerga bei der Verteidigung der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan, Erbil, im Irak gegen den IS zur Hilfe geeilt war.

"Rojava" und Ankaras Kampf gegen kurdische Bestrebungen in Syrien

Trotz der Kriegsnot hat sich für die syrischen Kurden in den vergangenen Jahren einiges zum Positiven entwickelt. Erst nach dem Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges hatte das Assad-Regime ihnen die staatsbürgerschaftlichen Rechte verliehen, um sich so ihre Loyalität zu sichern. Noch relevanter für die syrischen Kurden aber war, dass die syrische Armee sich praktisch vollständig aus den syrischen Kurdengebieten zurückzog und damit die kurdischen Milizen der YPG und die politischen Kräfte der PYD das Heft des Handelns in die eigenen Hände nehmen konnten. Im von rund zwei Millionen Kurden und zwei Millionen syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen besiedelten Nordsyrien wurde bald nach dem Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges ein "radikaldemokratisches Experiment" durchgeführt: "Mit Beginn des syrischen Aufstands wurden dort bereits Jahre zuvor vorbereitete politische und soziale Strukturen gebildet, die eine Selbstverwaltung in politischer, wirtschaftlicher und auch militärischer Hinsicht ermöglichen. Es wurden im Verborgenen Räte und provisorische Verwaltungen gebildet, Selbstverteidigungskräfte aufgestellt und Wirtschaftskooperativen gegründet."

Die drei Kantone Efrin, Kobane und Cizire haben sich im Januar 2014 herausgebildet und sich eine neue "politische Verfassung" gegeben, die den "demokratischen Konföderalismus" anstrebt. In der von den drei Kantonen verabschiedeten Verfassung beziehungsweise dem "Gesellschaftsvertrag" heißt es dazu: "Die Kantone der demokratisch-autonomen Verwaltung akzeptieren weder das nationalstaatliche, militaristische und religiöse Staatsverständnis, noch akzeptieren sie die Zentralverwaltung oder Zentralmacht. (…) Sie erkennen die Grenzen Syriens an."

Die PKK sieht diese Autonomieentwicklung in der "Rojava" genannten Region als ein Modell auch für die Türkei an. Für die Türkei bedeutet dies jedoch, dass sich nicht nur im militärischen Bereich, sondern auch auf der zivil-politischen Ebene zwischen syrischen und türkischen Kurden Allianzen bilden, die als Gefährdung der territorialen Integrität der Türkei betrachtet werden können. Inwieweit sich dieses "Experiment", das sich durch "multiethnische und multireligiöse Selbstverwaltungsstrukturen" auszeichnen soll, aber durchsetzen beziehungsweise für den demokratischen Aufbau Syriens eine Modellfunktion haben wird, ist völlig offen. Aus türkischer Perspektive ist vor allem die enge Zusammenarbeit zwischen den syrisch-kurdischen und türkisch-kurdischen Milizen eine unakzeptable Sicherheitsgefährdung, die eine Akzeptanz der politischen Entwicklung in Rojava nicht erwarten lässt. Ankaras Politik gegenüber den syrischen Kurden ist vielmehr grundsätzlich darauf ausgerichtet, das Schaffen von solchen Fakten in den syrisch-kurdischen Gebieten zu verhindern, die sich als problematisch für die Eindämmung der politischen Bestrebungen der Kurden in der Türkei erweisen könnten.

Allerdings befindet sich die Türkei hier in einer schwierigen Lage, da die USA im Kampf gegen den IS ganz unbedingt auf die militärische Unterstützung auf dem Boden durch die syrisch-kurdische PYD setzen, deren YPG-Volksschutzeinheiten und das PYD/YPG-dominierte Bündnis der Syrisch-Demokratischen Kräfte, das auch Turkmenen, Araber und Christen umfasst. Die jüngsten Erfolge dieser Milizen gegen den IS in Syrien wurden durch Luftschläge der von den USA angeführten Anti-IS-Koalition dann auch massiv unterstützt und damit erst ermöglicht.

PYD mit Teheran und Moskau gegen Ankara

Auch der Iran, der in Syrien fest an der Seite des Assad-Regimes steht, ist ein taktisches Bündnis mit den syrisch-kurdischen Milizen eingegangen und soll die PYD im Kampf gegen den IS unterstützen. Für die Türkei, die sich in Syrien in scharfem Gegensatz zum Iran befindet, ist dies besonders bitter, da es in der Vergangenheit zwischen Ankara und Teheran durchaus ein gemeinsames Interesse an der Niederhaltung kurdischer Bestrebungen gegeben hatte.

Auch Moskau, als wichtigste Macht hinter dem Assad-Regime, sieht die Kurden als verlässliche Bündnispartner im Kampf gegen den IS-Terror und zugleich gegen die von den Russen nicht gewünschte türkische Einflussnahme auf die Ereignisse in Syrien an. Wie der Kovorsitzende der PYD, Salih Muslim, im Oktober 2015 in einem Interview sagte, sind die Russen aus syrisch-kurdischer Sicht eine Gewähr dafür, dass die Türken die Grenzen zu Syrien nicht überschreiten werden.

Nach dem Abschuss eines russischen Jagdfliegers durch die türkische Luftwaffe am 23. November 2015 über syrischem Territorium eskalierte der Konflikt zwischen Russland und der Türkei. Der türkische Botschafter in den USA, Serdar Kilic, kommentierte den Vorfall auf Twitter: "Testet nicht die türkische Geduld." Aus türkischer Sicht hatten die Russen keineswegs nur den IS angegriffen, sondern auch die von den Türken unterstützten Turkmenen. Die einst nomadischen turkmenischen Stämme waren bereits im 11. Jahrhundert aus Anatolien und Mesopotamien in das Gebiet des heutigen Syrien gewandert. 2012, zu Beginn des syrischen Bürgerkrieges, hatten sie sich zur Syrisch-Turkmenischen Versammlung zusammengeschlossen und einen militärischen Arm – die Syrisch-Turkmenischen Brigaden – gebildet. Dieser kämpft sowohl gegen das Assad-Regime als auch gegen IS und YPG.

Für die Türkei entwickelte sich nach diesem Abschuss die ohnehin prekäre Lage in Syrien insbesondere mit Blick auf die türkisch-kurdische Dynamik ungünstig. Russland hatte schon zuvor die von der Türkei unterstützten sunnitischen Milizen wie Ahrar Al-Sham und Nusra-Front bekämpft. Der Kovorsitzende der HDP Selahattin Demirtas und der Kovorsitzende der PYD Salih Muslim nahmen gemeinsam an einer fünftägigen Konferenz in Moskau zur Kurdenfrage in Syrien und in der Türkei teil, auf der sie scharf die Position und die Rolle der Türkei gegenüber dem IS kritisierten. In der Türkei wurde Demirtas diese Moskaureise – bei der er explizit auch den Abschuss des russischen Jets durch türkische Kampfflieger als "falsche Entscheidung" bezeichnet hatte – als Verrat angekreidet.

Als besonders problematisch wurde aus türkischer Perspektive aber wahrgenommen, dass Russland – durch die von der Türkei zwar unterstellte, aber nicht belegte Anfachung weiterer Gewaltausübung durch die PKK in der Türkei – Druck auf dieselbe ausüben wollte. Da Russland der Türkei gegenüber den offiziellen Standpunkt dargelegt hatte, dass weder die PKK noch die PYD als "terroristische Organisationen" angesehen würden, war die behauptete Eskalation der Gewalt und die Instrumentalisierung der PKK durch Moskau für die Türkei wichtiger Bestandteil einer russlandkritischen Sicht geworden. Russlands Ziel war nach dieser Lesart, dass die Türkei ihre Haltung gegenüber den syrischen Kurden, insbesondere gegenüber der Präsenz der PKK in den syrischen Kurdengebieten, änderte. Die deutsche Homepage der regierungsnahen türkischen Tageszeitung Sabah berichtete sogar, dass Demirtas bei seinem Treffen den russischen Außenminister Sergej Lawrow um Raketenwerfer des Typs AT-14 für den Kampf der PKK gebeten habe. Bereits im Oktober 2015 hatte das türkische Außenministerium neben dem US-Botschafter John Bass auch den russischen Botschafter Andrej Karlow einbestellt, um die Ablehnung der Bewaffnung der syrischen Kurden durch diese beiden Großmächte zum Ausdruck zu bringen. Von russischer Seite war dies damit kommentiert worden, dass eine Bewaffnung der syrischen Kurden durch Russland unwahrscheinlich sei, da Russland den syrischen Staatschef Assad und ein einheitliches Syrien unterstütze.

Ausblick

Der Einfluss der Türkei auf die Ereignisse in Syrien und im syrisch-kurdisch-türkischen Grenzgebiet erscheint heute vergleichsweise gering. Die Türkei allein wird die kurdischen Bestrebungen in Syrien weder militärisch noch politisch in ihrem Sinne eindämmen können. Für eine erfolgreiche Strategie fehlen ihr die notwendigen Kooperationspartner in der Region. Auf der Gegenseite ist die Achse zwischen den zivil-politischen und den militanten Kräften der türkischen und der syrischen Kurden dagegen fest etabliert. Dieses Bündnis muss sich aber nicht zwangsläufig dauerhaft gegen die türkischen Sicherheitsinteressen richten. Und die Türkei verfügt über einige Gestaltungsmöglichkeiten. Sie könnte durch die Wiederaufnahme des zuvor schon weit gediehenen Friedensprozesses mit den militanten türkisch-kurdischen Kräften und durch einen politischen Dialog mit der HDP einen neuen Prozess der Vertrauensbildung einleiten. Zurzeit erschwert die Gleichsetzung von HDP und PKK durch die türkische Regierung aber einen glaubwürdigen und nachhaltigen Friedenskurs. Ein nicht auszuschließendes Verbot der HDP und die derzeit angestrebte Verurteilung ihrer Führer wären entsprechend höchst kontraproduktiv. Die Lage in Syrien macht aber deutlich, dass die Türkei keine Zeit zu verlieren hat, wenn es um die Aussöhnung mit kurdischen Kräften in der Türkei und in Syrien geht. Gerade für den prioritären "Kurdischen Friedensprozess" in der Türkei hat die EU zuletzt am 16. Januar 2016 ihre Unterstützung angeboten.

Die internationale Unterstützung für einen Prozess, der die kurdischen Milizen aus der Türkei entfernt und in Syrien und im Irak in (im besten Fall mit der Türkei abgestimmte) sicherheitspolitische Strukturen einbindet, ist gegeben, da die Kurdenmilizen sich im Kampf gegen den IS bewährt haben. Die seit vielen Jahren bestehende, enge türkische Kooperation mit den Peshmerga in Kurdistan im Nordirak macht deutlich, dass die Türkei einen pragmatischen Weg zu gehen bereit ist, wenn die Sicherheit ihres eigenen Territoriums gewahrt bleibt. Wie im Nordirak ist die Türkei auch in Syrien als stabilisierende Regionalmacht von Bedeutung. Eine Entwicklung in den syrischen Kurdengebieten, die den türkischen Interessen diametral widerspricht, wird es nicht geben, da die Türkei diesen etwa 800 Kilometer langen Raum an ihrer Grenze schon aus sicherheitspolitischen Gründen wird stabilisieren müssen. Auch die syrischen Kurden sind daher herausgefordert, ihrer politischen Verantwortung gerecht zu werden und sich aus der Umklammerung durch die PKK zu befreien.

Bei den anstehenden Verhandlungen über Syrien ist es wichtig, dass die in ihren jeweiligen syrienpolitischen und kurdenpolitischen Ansätzen stark divergierenden Gestaltungsmächte USA und Russland die türkischen Interessen angemessen berücksichtigen und die Türkei aktiv in den Lösungsprozess einbinden.

Für die proaktive türkische Außenpolitik wird die Stabilisierung der Lage in Syrien und insbesondere auch die Entwicklung in den syrischen Kurdengebieten im Jahr 2016 eine der wichtigsten Herausforderungen bleiben. Die weitere Ausgestaltung der Beziehungen Ankaras mit der kurdischen Region im Irak wird hiervon auch berührt, da der Kampf gegen den IS auch für die irakischen Kurden oberste Priorität genießt und sie sich hierbei den syrischen und türkischen Kurden enger verbunden fühlen, als dies Ankara gefällt. Nicht zuletzt würde die türkische Kurdenpolitik auch im Inneren der Türkei eine sehr positive Dynamik entfalten, wenn Ankara durch ein konstruktives Vorgehen – gemeinsam mit seinen Verbündeten – die syrischen Kurden für einen gemeinsamen Ansatz beim Aufbau einer syrischen Nachkriegsordnung gewinnen könnte. Eine aktive Unterstützung Ankaras für die syrischen Kurden würde diese nicht nur aus der iranischen und russischen Umklammerung befreien, sondern auch die sicherheitspolitische Lage in der Region erheblich stabilisieren.

Perspektivisch könnte sich hierdurch eine für die Türkei wichtige innenpolitische Dimension entwickeln: Wenn die Türkei den Prozess der politischen Integration der jahrzehntelang vom Baath-Regime unterdrückten und entrechteten syrischen Kurden in ein Nachkriegssyrien unterstützte, dann würde dies potenziell auch den Versöhnungsprozess mit denjenigen Kräften unter den türkischen Kurden befördern, die sich heute noch als "Befreiungsbewegung" verstehen und den türkischen Staat teilweise mit terroristischer Gewalt bekämpfen. Das Diktum Atatürks, des Gründers der türkischen Republik, – "Frieden im Land – Frieden in der Welt" – würde hierdurch eine neue Strahlkraft erhalten und die Rolle der Türkei als Ankerland in einer instabilen Krisenregion stärken.

Dr. phil., geb. 1967; Politikwissenschaftler und Publizist, Länderreferent für Türkei, Iran, Israel und Palästinensische Gebiete in der Hauptabteilung Europäische und internationale Zusammenarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung, Klingelhöferstraße 23, 10907 Berlin. E-Mail Link: oliver.ernst@kas.de Twitter: @droliverernst