Jede Stadt hat ihre eigene Geschichte, aber nicht jede Stadt hat eine so ausgeprägte Eigengeschichte wie Dresden. Eigengeschichten werden geschaffen, sie werden erzählt, zu Mythen verdichtet. Sie geben Orientierung, vermitteln einer Bürgerschaft das Gefühl der Zusammengehörigkeit, erzeugen Identität. Von außen gesehen ist die Geschichte einer Stadt eher eine Erzählung ihrer Brüche, Veränderungen, Transformationen, vielleicht auch die Beschreibung eines Kerns gemeinsamer, über Jahre oder Jahrzehnte überlieferter Überzeugungen, Einstellungen und Vorstellungen ihrer Bürgerinnen und Bürger. Eigen- und Fremdbeschreibung aber sind selten identisch, vor allem nicht aus der Distanz des Beobachters. Aber auch das könnte im Fall Dresdens anders sein.
Dresden lebt von der Erinnerung an den vergangenen Glanz höfischer Prachtentfaltung, von der von Bernardo Bellotto (Canaletto) gemalten barocken Stadtsilhouette und vom Ruhm bedeutender Kunstsammlungen und herausragender Leistungen in der Musik- und Operngeschichte. Doch Mythen haben nicht nur heroische Seiten, sie gewinnen an magischer Kraft, wenn sie die Geschichte von Niedergang und Wiederaufstieg zu erzählen wissen. Dresdens Zerstörung am 13. und 14. Februar 1945 ist der eine Teil einer solchen Geschichte, der Wiederaufbau des historischen Zentrums nach 1990 der andere. Eingefügt wurde der erinnernden Erzählung auch die – bereits von den Nationalsozialisten propagierte, dann von den Kommunisten fortgeschriebene, vom Stadtbürgertum lange Zeit übernommene – Legende vom "sinnlosen" Opfer, das Dresden kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges erbrachte, welches berechtigt, Wiedergutmachung, in diesem Fall: historisch getreue städtebauliche Rekonstruktion zu erlangen.
Entzauberung eines Mythos
Das "Alte Dresden", wie es Fritz Löffler, Kunsthistoriker und Denkmalpfleger, in seinem 1955 erstmalig erschienenen, seitdem zur Pflichtlektüre eines Dresdners gehörenden gleichnamigen Buch wieder hat entstehen lassen, war lange Zeit der Fluchtpunkt kollektiver Imagination, einer Traumwelt des Schönen und Erhabenen, des Authentischen und Auratischen, der mythische Gegenentwurf zu den Verheerungen des Krieges und den Zumutungen des DDR-Regimes, das aus Dresden eine Musterstadt des Sozialismus zu machen beabsichtigte. Das Phantasma des alten Dresden erzeugte einen Vorstellungsraum von Selbstverständigung und Selbstbehauptung, in dem die Reste des Dresdner Bürgertums seine spezifische Lebensweise auch im Arbeiter- und Bauernstaat der DDR konservieren konnten. So war es möglich, sich als Dresdner Bürger und keineswegs als DDR-Bürger zu verstehen – wie der ehemalige sächsische Justizminister und kurzzeitige Kandidat Helmut Kohls für die Bundespräsidentschaft, Steffen Heitmann, rückblickend befand. Dass derselbe Dresdner Bürger nun, am Ende des Jahres 2015, die Zuwanderung von Flüchtlingen und Migranten zum Anlass genommen hat, aus seiner Partei, der seit 1990 die Geschicke des Landes Sachsen lenkenden CDU, auszutreten und dies mit der Begründung versah "Ich habe mich noch nie – nicht einmal in der DDR – so fremd in meinem Land gefühlt",
Nun ist dies gewiss nicht die einzige Irritation, die Dresden derzeit vermittelt. Seit über einem Jahr treffen sich allwöchentlich Tausende von Bürgern auf den Straßen und ikonischen Plätzen der Stadt, um gegen die vermeintliche "Islamisierung des Abendlandes" zu demonstrieren. Sie skandieren schrille Slogans und hören Rednern auf den Kundgebungen zu, die ihrem Hass auf Flüchtlinge und Migranten ebenso freien rhetorischen Lauf lassen, wie sie gegen "die Politiker" und "die Medien" als "Volksverräter" und "Lügenpresse" hetzen. Pegida, als eine Bewegung "patriotischer Europäer" im Oktober 2014 in Dresden von einem Kreis über die sozialen Medien miteinander vernetzter Freunde und Bekannte begründet, hat dunkle Flecken auf das Bild einer ostdeutschen Stadt gelegt, welche ökonomischen Aufschwung und wissenschaftliche Exzellenz, soziale und politische Stabilität, landschaftliche Schönheit und kulturellen Glanz in vorbildlicher und vor allem erfolgreicher Weise miteinander zu vereinbaren schien. 25 Jahre nach der Wiedervereinigung sieht nun aber alles ganz anders aus. Die "Abendspaziergänge" von Pegida haben Befürchtungen reifen lassen, dass Ausländerfeindlichkeit und islamkritische Einstellungen verbreiteter sind als im übrigen Bundesgebiet und Dresden zum Hort einer rechtspopulistischen Bewegung werden könnte.
Doch hat das Bild auch andere Facetten: In der Stadt haben sich viele Initiativen gebildet und in der Hoffnung zusammengefunden, Zeichen eines weltoffenen und toleranten Dresdens setzen zu können. Auch fanden wöchentliche Gegendemonstrationen statt, wobei es den Organisatoren jedoch zu keinem Zeitpunkt gelang, Pegida zahlenmäßig zu übertreffen und in ähnlich kontinuierlicher Weise eine hohe Teilnehmerschaft zu mobilisieren. Allein zwei Großveranstaltungen im Januar 2015 vermochten mehr als 20.000 Besucher anzuziehen. Früh schon hatte sich die Landeszentrale für politische Bildung unter ihrem Leiter Frank Richter bemüht, die Situation durch Gesprächsangebote an Pegida-Anhänger und Gegner zu entspannen. Die gleiche Absicht verband auch eine von einem Verein initiierte "Bürgerkonferenz" sowie vier von der sächsischen Staatskanzlei und der Landeshauptstadt organisierte "Dialogforen" unter dem Titel "Miteinander in Sachsen". Darüber hinaus gab es zahlreiche weitere Veranstaltungen, unter anderem von Angehörigen der Universität. Doch haben diese Initiativen die Blockaden nicht aufzulösen vermocht. Die Stadt und ihre Bürgerschaft sind nach wie vor gespalten, zerrissen und ratlos, wie sie mit der Situation umgehen sollen.
Fremd(e) in der eigenen Stadt
Offensichtlich haben sich in Dresden gesellschaftliche Teilkulturen herausgebildet, in denen die vergangenen Jahrzehnte in sehr unterschiedlicher Weise erlebt und wahrgenommen wurden und die auf neue Entwicklungen deshalb jeweils anders reagieren. Lange Zeit sind sie durch die gemeinsamen, immer wieder auch politisch beschworenen geschichtlichen Erinnerungsbestände und durch das Versprechen blühender Stadtlandschaften zusammengehalten worden. Der rapide Wandel seit der deutschen Einheit und die unmittelbare Erfahrbarkeit globaler Entwicklungen – wie der Zunahme der Migrationsbewegungen – direkt vor der eigenen Tür haben überkommene, auf das "Dresdner Biotop" bezogene Narrative infrage gestellt, ohne dass die Stadt bislang zu einer neuen Vision gefunden hätte. So wird auf der einen Seite ein besonderer Dresdner way of life gegen eine neue, fremd und unbegreifbar gewordene Welt persönlicher und globaler Zumutungen verteidigt, während auf der anderen Seite eine weltoffene und tolerante Stadtgesellschaft anvisiert wird, die sich der Herausforderungen und Chancen einer globalisierten Welt annimmt. Die Lager verstehen sich wechselseitig nicht, weshalb die Stadt sich selbst fremd geworden ist.
Der aus Dresden stammende Lyriker Durs Grünbein hat anlässlich der Beobachtung einer Demonstration von Pegida festgestellt, dass Dresden "seit 1989 nicht mehr gelüftet worden" sei.
Dresden durchlebt einen raschen Prozess erneuter "nachholender" Urbanisierung, der dort anknüpft, wo es in der Wende vom 19. ins 20. Jahrhunderts angesetzt hatte und mit der die damals sechstgrößte deutsche Stadt zu einer ökonomisch prosperierenden und einer der reichsten Metropolen Deutschlands wurde. Zugleich gehörte Dresden mit der ihm eigenen Mischung aus Tradition, landschaftlicher Schönheit und künstlerischer Vorreiterschaft – vom Tanz über die Malerei von "Brücke" und "Neuer Sachlichkeit" bis hin zu neuen Formen des aus der Lebensreformbewegung erwachsenen Städtebaus – zur kulturellen Avantgarde. Dieser Prozess wurde durch zwei Diktaturen eingefroren, ja – nimmt man die Versuche einer sozialistischen Moderne einmal aus – jäh abgebrochen.
Die gegenwärtigen Umbrüche und die mit ihnen einhergehenden neuen Erfahrungen starker Pluralisierung sozialer, kultureller, ökonomischer und räumlicher Bezüge erfordern Strategien wechselseitiger Anerkennung und die Einübung von Toleranzpraktiken sowie des Aushaltens von Spannungen und der zivilen Bearbeitung von Konflikten innerhalb der Stadtgesellschaft. Das, was eine Stadt zu einer modernen Stadt macht, nämlich Vielfalt, Ungleichzeitigkeiten, Ungleichheiten und Ungleichartigkeiten, scheinen indes in Dresden in besonderer Weise auf die Widerstände milieugeprägter traditionaler Homogenitätserwartungen zu stoßen. Diese hängen zum Teil aus DDR-Zeiten über, zu einem anderen Teil sind sie durch die Entwicklungen der vergangenen 25 Jahre enttäuscht worden. Sie kristallisieren sich in Vorstellungen soziokultureller Geschlossenheit, sozioökonomischer Gleichheit und übergreifenden politischen Konsenses aus, deren faktische Grundlagen zunehmend als prekär erfahren werden.
"Süße Krankheit Gestern" – Traditionalisten und Modernisierer
Anders als in anderen ostdeutschen Städten konnte in Dresden zur Zeit der DDR ein ausgeprägtes "Nischenbürgertum" fortexistieren. Dieses hatte sich in Kunst, Musik und Wiederherstellung barocker Stadtschönheit seine die DDR-Realität transzendierenden Fluchtpunkte geschaffen und ist später von Uwe Tellkamp literarisch verewigt und wegen seiner abgeschotteten, bürgerlichen Lebensweise an und auf den Elbhängen metaphorisch "Turm" genannt worden.
Mit der Restituierung des alten Dresden ging zugleich eine Öffnung einher, die auf die Anziehungskräfte einer internationalen Metropole, auf Lebensqualität, attraktive Arbeitsplätze und ein urbanes Flair gerichtet war. Die auf Wissenschaft und Technologie basierende Transformation der ökonomischen Strukturen konnte einerseits auf die bereits bestehenden, jedoch zu modernisierenden Infrastrukturen und die in Dresden ausgebildete technische Intelligenz zurückgreifen, machte andererseits aber die Ansiedlung neuer Industrien, vor allem im Mikrotechnologiebereich, und Forschungseinrichtungen genauso notwendig wie den Zuzug von Menschen, die über hohes ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital verfügen. Damit etablierte sich ein neues, internationalisiertes Milieu zugezogener Bürger, welches durchaus den sich in Architekturen, Villen und Barockgärten manifestierenden Repräsentationsgestus großbürgerlicher Provenienz genauso zu schätzen weiß wie die vielfältigen Angebote von Kultur und Landschaft, Kunst und Musik. So sehr sich aber die Neubürger auch mit dem Dresdner Traditionalismus akkomodierten, ja in ihm auch ein anziehendes Alleinstellungsmerkmal erblickten, so blieb für sie der Referenzpunkt städtischer Identität und bürgerschaftlichen Handelns keineswegs allein die Vervollkommnung rekonstruierter städtischer und kultureller Vergangenheiten.
Obwohl es zwischen einem mit der Metapher "Turm" bezeichneten Alt-Dresdner und einem mit dem – etwas plakativen – Etikett "Modernisierer" charakterisierten Neu-Dresdner Milieu vielfältige Gemeinsamkeiten gibt, so gibt es auch kulturelle Unterschiede, die sich in differierenden Welt- und Gesellschaftsbildern manifestieren: hier die Vorstellung einer sich aus Geschichte und landsmannschaftlicher Verbundenheit herleitenden sozialen und kulturellen Homogenität, dort das Leben in globalen und multikulturellen Bezügen, die sich bisweilen bis zu Formen spannungsgeladener, auch ethnischer und religiöser Verschiedenartigkeit auszudehnen vermögen. Wo die einen die Tradition als Quelle ihrer kollektiven, sächsischen und Dresdner Identität zu behaupten suchen, sehen die "Modernisierer" in den Veränderungen auch die Chance, Dresden und Sachsen zu öffnen und sozial und kulturell im Sinne eines "weltoffenen Dresdens" zu internationalisieren.
Dies stößt indes auf die Skepsis der Bewahrer, die glauben, in der jüngeren Vergangenheit bereits alle überhaupt denkbaren Veränderungen erfolgreich bewältigt zu haben und dennoch mit der Wiederherstellung des alten Dresden die neu-alte Heimat und Identität realisiert zu haben. Dabei werden dann die aktuellen Folgen von Globalisierung, von "ökonomisierter", beschleunigter Lebensweise, von islamistischem Terror und von großen Migrations- und Flüchtlingsbewegungen so interpretiert, dass sie den Zustand von Normalität, Stabilität und Sekurität bedrohen, der sich nach den tief greifenden erwerbsbiografischen, sozioökonomischen und demografischen Umbrüchen der Nachwendezeit gerade erst wieder eingestellt hatte. Unübersichtlichkeit und Ungewissheit der bis in den Nahbereich sicht- und spürbaren weltpolitischen Entwicklungen haben erneut ein Gefühl des Ausgeliefertseins an übergeordnete Mächte erzeugt, die zu überwinden man 1989 auf die Straße gegangen war. Zugespitzt formuliert, fühlen viele sich um die Früchte der Friedlichen Revolution betrogen.
Auch hatte sich das traditionalistische Alt-Dresdner Milieu lange Zeit nicht des Gefühls einer teilweisen "kulturellen Enteignung" durch die aus Westdeutschland zugezogene neue Elite in Politik, Verwaltung, Wissenschaft und Kultur erwehren können. Die Zugezogenen forderten den exklusiven Deutungsanspruch der Autochthonen über das, was Dresden ist und ausmacht, und wohin es sich entwickeln soll, heraus und begannen nun ihrerseits über die Zukunft Dresdens mitzubestimmen. Diese Ost-West-Spannungslage blieb immer latent, sie erzeugte in den öffentlichen Diskussionen um Kunst, Kultur, Ästhetik und Stadtrekonstruktion ein deutlich vernehmbares Hintergrundrauschen.
Kollektive Wut und rituelle Gemeinschaftsstiftung
Auch bei Pegida spiegeln sich Ost-West-Verwerfungen wider, die so bislang kaum sichtbar geworden sind. Vor allem manifestieren sie sich in einer artikulierten Unzufriedenheit, in Teilen sogar in der Ablehnung der in Deutschland praktizierten Demokratie. Teilnehmer von Pegida-Demonstrationen fühlen sich in der medial vermittelten Diskussionskultur der Bundesrepublik nicht heimisch und empfinden ihre politischen Institutionen nicht als die "eigenen", sondern als "vom Westen übergestülpte" Instrumente einer "Scheindemokratie". Die Repräsentanten und Entscheidungsfindungsprozesse dieses "Systems" gelten wahlweise als "verkrustet", "verblendet" oder "korrupt" und werden mit verschwommenen Erinnerungen an die DDR verglichen. Dabei werden auch Politiker, die aus Ostdeutschland stammen (wie Bundeskanzlerin Merkel und Bundespräsident Gauck) diesem System zugerechnet. Woher kommen diese Demonstranten, und welchem Milieu Dresdens sind sie zuzurechnen?
Befragungen haben gezeigt, dass die Teilnehmer zu etwa gleichen Teilen aus Dresden oder anderen Gebieten Sachsens kommen, dass aber hinsichtlich ihrer Einstellungen und Motive keine signifikanten Unterschiede bestehen. Wenn sich mittlerweile der Eindruck verfestigt, dass Pegida im Spätherbst 2015 zu einer offen rassistischen Bewegung geworden ist, die sich aggressiv gegen Flüchtlinge und Migranten wendet und mit der radikalen Rhetorik die dünnen Grenzen zwischen sprachlicher und physischer Enthemmung verschwimmen, so muss gleichwohl festgestellt werden, dass die Organisation in Dresden in ihrer Hochphase um die Jahreswende 2014/15 und dann wieder im September und Oktober 2015 keine Bewegung ausschließlich von Rechtsextremisten sowie Islam- und Ausländerfeinden gewesen ist, wie zunächst gemutmaßt wurde. Etwa ein Drittel der Teilnehmer der Kundgebungen und "Abendspaziergänge" ließ diffuse islamophobe Motive und Einstellungen erkennen. Die Mehrheit übte fundamentale Kritik an Politik, Medien und der konkreten Funktionsweise der praktizierten Demokratie.
Pegida rekrutierte sich anfangs überwiegend aus der bürgerlichen Mitte Dresdens und ihren fragilen Segmenten. Auffallend in der soziodemografischen Zusammensetzung war der vergleichsweise hohe Anteil von Selbstständigen und Angestellten und – bezogen auf die Einkommensstruktur – ein leicht überdurchschnittlicher Wohlstand. Die biografischen Hintergründe der mehrheitlich aus dem westlichen Umland Dresdens stammenden Organisatoren ließen vielfach auf ein wechselhaftes, prekäres Berufsleben als Kleinunternehmer vor allem im Dienstleistungsgewerbe schließen. Sie waren in Dresden gut vernetzt: ein Teil der Dresdner Partyszene beruflich verbunden, ein anderer den Kreisen von Fußball und Eishockey. Der Sprecher, Lutz Bachmann, hatte sich bereits anlässlich des Elbehochwassers im August 2013 als Organisator eines umfassenden Fluthilfenetzwerkes im Stadion von Dynamo Dresden hervorgetan. Für sein Engagement erhielt er den Sächsischen Fluthilfeorden.
Die Frage nach den Gründen für den besonderen Erfolg von Pegida in Dresden sind immer wieder mit Mutmaßungen über eine besonders ausgeprägte Fremden- und Islamfeindlichkeit beantwortet worden, zumal die bei den Kundgebungen gehaltenen Reden keinen Zweifel an der pauschalen Ablehnung und Diffamierung des Islam, der Muslime und von Flüchtlingen zuließen. Doch unterschied sich das bei den Demonstranten festgestellte Ausmaß an Islam- und Fremdenfeindlichkeit nicht von der durchschnittlichen, hohen Verbreitung dieser Einstellungsmuster in der Gesamtbevölkerung – im Osten wie im Westen.
Bei der Dresdner Oberbürgermeisterwahl im Juni 2015 konnte die Pegida-Kandidatin Tatjana Festerling im ersten Wahlgang rund 21.000 Stimmen beziehungsweise einen Stimmenanteil von 9,6 Prozent für sich verbuchen (im zweiten Wahlgang trat sie nicht mehr an). Dabei fiel auf, dass der Zuspruch in den Stadtteilen am größten war – in einzelnen Wahlbezirken sogar über 20 Prozent –, in denen Flüchtlingsunterkünfte eingerichtet oder vorgesehen worden waren. Anscheinend sind hier die – von den Pegida-Rednern und -Organisatoren geschürten – Befürchtungen einer "Überfremdung", auch die Konkurrenzangst auf den Arbeits- und Wohnungsmärkten beziehungsweise den Sozialsystemen, auf Resonanz gestoßen.
Weil Sachsen, auch im Dresdner Umland, zudem seit vielen Jahren über eine gefestigte rechtsextreme Szene verfügt und rechtsextreme Parteien wie die NPD immer wieder Erfolge bei Wahlen erzielen, wäre nach Zusammenhängen zu fragen, die fremdenfeindliche Einstellungen begünstigen. Insgesamt lässt sich für Dresden zwar von einer sozialräumlichen Fragmentierung sprechen, aber noch keineswegs von einer für andere Metropolen kennzeichnenden Segregation von als "problematisch" zu bezeichnenden Stadtteilen mit Gettobildungen, die einen verfestigten Trend zu autoritärem Wahlverhalten am rechten Rand des politischen Spektrums erkennen lassen.
Gesucht: Urbane Konfliktkultur
Die "Straße" ist in Dresden zu einem Raum kollektiver Empörung und Selbstvergewisserung geworden. Für die Pegida-Sympathisanten besitzen die montäglichen Zusammenkünfte offenbar auch eine kompensatorische, "therapeutische" Wirkung auf Verluste, Ängste und Traumatisierungen, die sich in den persönlichen Nah- und sozialen Umwelten durch den tief greifenden sozialen, kulturellen und demografischen Wandel eingestellt haben. Offensichtlich substituieren die zum gemeinschaftsstiftenden Ritual gewordenen "Abendspaziergänge" das Gefühl verloren gegangener Identität und Tradition. Der "Stammtisch" der Straße füllt die Sinnleere in einem Umfeld auseinandergebrochener Gewissheiten und enttäuschter Erwartungen und vermittelt das Gefühl, im Kreis von Gleichen mit den diffusen Ängsten und Sorgen "aufgehoben" zu sein. Zugleich wird eine scheinbar aus den Fugen geratene Welt mit einfachen Antworten – und seien es Verschwörungstheorien – wieder begreifbar gemacht. Das Gefühl der Verunsicherung, des Abgehängt-Seins bricht sich in der Konstruktion des Fremden, Flüchtlings und Asylbewerbers genauso Bahn wie das Gefühl, von den Medien nicht gehört und von der etablierten Politik nicht repräsentiert zu werden. Die unverstellte, enthemmte Rhetorik der Straße spiegelt grundlegende lebensweltliche Entfremdungserfahrungen wider, vertieft die Spaltung zum etablierten politischen System, schafft aber zugleich einen neuen Raum wechselseitiger Anteilnahme und Bestärkung.
Durch die Umbrüche der vergangenen Jahre, die Erfahrungen des wirtschaftlichen, sozialen und demografischen Wandels, den Austausch der Elitenpositionen in Verwaltung, Wissenschaft, Politik und Kultur, den Zuzug Fremder, zuerst aus Westdeutschland, dann aus der ganzen Welt, sind Vorstellungen und "Weltbilder" brüchig und entwertet geworden, die auf dem geschlossenen, homogenen Kosmos imaginierter Vergangenheiten der Stadt oder sozialer Gemeinschaften basierten. Die Teilnehmer von Pegida reagieren mit Wut und Empörung auf der Straße, die Bürger des konservativen Milieus mit Rückzug in das Private oder unentschiedenem und unentschlossenem Attentismus.
Dresdens Traditionalismus hat eine konservative Grundstimmung erzeugt, die sich in der Bewahrung des Alten und Erreichten gefällt, dem Unbekannten und Fremden aber mit grundsätzlicher Skepsis begegnet. Vor diesem Hintergrund sind Phänomen und Erfolg von Pegida in Dresden auch zu deuten. Auf der Straße wird der Kulturkampf indes nicht zu gewinnen sein, mit moralisierenden oder pathologisierenden Vorhaltungen ebenfalls nicht. Dresden wird eine neue Urbanität als Tugend einer stadtgesellschaftlichen Konflikt- und Streitkultur entwickeln müssen, um sich den Herausforderungen einer weltoffenen Metropole stellen zu können, ohne den Schatz starker geschichtlicher Identität und landschaftlicher Attraktivität aufzugeben. In der Balance liegt die Chance.