In diesem Artikel werde ich Perspektiven für eine geschichtsbewusste Bildungsarbeit im Kontext der gegenwärtigen Migrationsgesellschaft diskutieren. Weil Migration nicht nur eine Tatsache ist, sondern zugleich diskursiv besetzt und eingesetzt wird, steht der Begriff "Migrationsgesellschaft" zumindest im deutschsprachigen Raum noch nicht für etwas Allgemeines, das alle angeht und mit dem alle gemeint sind. Mit dem Signalwort "Migration" bietet die Bezeichnung "Migrationsgesellschaft" immer noch die Gelegenheit, nicht über sich selbst, sondern über andere zu sprechen. Denn obwohl mit diesem Begriff eine Kennzeichnung gegenwärtiger gesellschaftlicher Erfahrungen und weltweiter Normalität angeregt wird, setzt sich eine personifizierende Sicht auf "Migrantinnen und Migranten", die national-kulturell ethnisiert und als "Migrationsandere"
Ausgangsbedingungen gegenwärtiger Geschichtsbeziehungen
Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Bundesrepublik zeichnet sich durch Diskontinuitäten aus. Für die Generation heutiger Jugendlicher und junger Erwachsener ist oft nicht mehr erkennbar, wie umkämpft der Weg zu einer öffentlich artikulierten Anerkennung der Relevanz der NS-Verbrechen gewesen ist. Nach 1990 hat sich der als "Erinnerungskultur" bezeichnete Modus des Geschichtsbezugs zu einem staatstragenden Element im Selbstverständnis und in der internationalen Repräsentation der Bundesrepublik Deutschland entwickelt. Bis weit in die 1980er Jahre dominierte demgegenüber eine Reserviertheit gegenüber der Thematisierung der Verbrechen und ihrer Akteurinnen und Akteure bei gleichzeitiger Präsenz vielfältiger Initiativen des Gedenkens vor Ort. Ein durchgehendes Motiv im Umgang mit den NS-Verbrechen in der Bundesrepublik besteht bis heute in der Abwehr eines vermuteten und stets befürchteten Schuldvorwurfs, der nicht ausgesprochen werden muss, um eine vorauseilende Beteuerung der Nichtschuld zu provozieren. Diese stark emotionale Komponente findet sich auch in den dritten und vierten Generationen nach 1945 wieder, deren Angehörige kein ernst gemeinter Schuldvorwurf treffen kann. Es ist weniger eine explizite Schuldabwehr, eher eine Sorge um ein unbeschädigtes und unbelastetes Nationalgefühl, ein Ausdruck des Wunsches, harmlos zu sein.
Die Etablierung eines öffentlich und parlamentarisch verantworteten Erinnerns an die NS-Verbrechen kann nicht unabhängig von diesen Distanzierungs- und Entlastungsmustern wahrgenommen werden. Sie ist mit ihnen verknüpft, was insbesondere dann zum Ausdruck kommt, wenn die Geschichtserinnerung dazu dient, ein unproblematisches Selbstbild der gegenwärtigen Gesellschaft zu zeichnen. Insbesondere die pädagogische Arbeit zur Auseinandersetzung mit der Geschichte und Wirkung des Nationalsozialismus neigt aufgrund ihrer normativen Aufladung leicht dazu, ihr kritisches Potenzial zu verlieren. Was Fragen an den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft aufwirft, wird dabei zu einem Reservoir von Antworten. Spätestens mit dem Stockholm International Forum of the Holocaust, das im Januar 2000 stattfand, wurde der Massenmord an den europäischen Juden, der hier mit der etablierten und kaum noch hinterfragten Bezeichnung "Holocaust"
Wie lässt sich in dieser Situation etablierten Erinnerns noch irgendetwas anderes aus der zeitgeschichtlichen Thematisierung gewinnen als die Abgrenzung von einer monströsen Gewaltgeschichte und eine Bestätigung der gegenwärtigen Demokratie? Erfahrungen aus der Gedenkstättenpädagogik zeigen, dass "die Konfrontation mit der Monstrosität der nationalsozialistischen Verbrechen" die meisten Besucherinnen und Besucher nicht dazu anregt, "die eigene (demokratisch verfasste) Gegenwartsgesellschaft auf uneingelöste Versprechen und Rechte hin kritisch zu befragen. Heutige Verletzungen von Menschen- und Grundrechten werden im Vergleich als nicht so dramatisch angesehen."
Migration bewegt historisch-politische Bildung
Migration beunruhigt die Bildungsinstitutionen. Aus dem faktischen Alltagsphänomen ist ein diskursives Phänomen von Thematisierungen geworden. Darin taucht immer wieder die konstitutive Frage auf: "Wer ist Wir?", wie ein Buchtitel von Navid Kermani lautet.
Sobald die Thematisierung des Nationalsozialismus und seiner Folgen mit Fragen der Migration verbunden wird, kommt es zur Gegenüberstellung von zwei Gruppen – jener mit und jener ohne "Migrationshintergrund". In diesem gruppenkontrastierenden und zugleich gruppenkonstituierenden Modus wird eine jeweils auf die beiden Gruppen bezogene innere Homogenität im Verhältnis zur Geschichte des Nationalsozialismus vorausgesetzt. Die Diversität von Haltungen, Perspektiven und Beziehungen zur Geschichte und den Folgen des Nationalsozialismus muss ausgeschlossen werden, wenn das Modell nicht obsolet werden soll. Die Vermutung und der Wunsch, dass sich an der Kategorie "Migrationshintergrund" Unterschiede im Geschichtsinteresse und im Zugang zu Geschichtswissen festmachen lassen, ordnen eine Erinnerungslandschaft, die unübersichtlich und multiperspektivisch ist.
Der Einfluss, den die Migrationsgeschichte von Eltern oder Großeltern auf gegenwärtige Geschichtsbeziehungen hat, wird tendenziell überschätzt. Denn viel einflussreicher als die Geschichten der Vorfahren sind die erfahrenen Geschichtsthematisierungen in der eigenen Biografie derer, die sich heute mit den historischen Gegenständen auseinandergesetzt haben. Zwar lassen sich Nuancierungen, jedoch keine deutlichen binär zu erfassenden Unterschiede im Zugang zur NS-Geschichte entlang der Entweder-oder-Kategorie Migrationshintergrund feststellen.
Eine Pädagogik, die aus der gesellschaftlichen Angelegenheit der Migration ein persönliches und gruppenbezogenes Problem von Verhaltensweisen und Identitäten macht, bewegt sich zwischen Fürsorglichkeit und Disziplinierung. Sie verfehlt ihren Gegenstand, weil sie ihn individualisiert und dabei häufig auch psychologisiert. Für die historisch-politische Bildung, die sich mit den angemessenen Vermittlungsformen in der Auseinandersetzung mit Geschichte und Wirkung des Holocaust befasst, wirkt sich eine solche Sicht besonders fatal aus. Denn sie verstellt den Weg zum Annehmen eigener Verantwortung für den Umgang mit den Folgen dieser Geschichte in der Gegenwart. Diese Verantwortung ist keinesfalls von einer spezifischen nationalen Herkunft abhängig.
Die Reserviertheit gegenüber Eingewanderten und ihren Nachkommen, die auch noch zwei Generationen nach dem Ankommen keine unhinterfragte Zugehörigkeit erreichen, ist Ausdruck der Abwehr jeder inneren gesellschaftlichen Diversität. Es spiegelt sich darin jene Unerträglichkeit der Ambivalenz wider, die für Zygmunt Bauman ein grundlegendes Problem der Moderne ausmacht, und zwar deshalb, weil das Uneindeutige, die Verschiebung und Auflösung von Grenzen und die Konfrontation mit Pluralität kennzeichnend für die gesellschaftliche Situation in der Moderne sind.
Machtreflexive Perspektiven auf die Geschichtsvermittlung in der Migrationsgesellschaft
Um eine nicht-identifizierende Perspektive auf die Geschichtsbewusstseinsbildung einnehmen zu können, ist für die Gedenkstättenarbeit und für die historisch-politische Bildungsarbeit insgesamt an eine kritische Migrationsforschung
Das aus der postkolonialen Museumstheorie hervorgegangene Konzept der contact zone thematisiert "asymmetrical relations of power such as colonialism, slavery, or their aftermaths, as they are lived out in many parts of the world today".
Die Formen des Kontakts und die persönlichen Erfahrungen mit den pädagogischen Herangehensweisen an den historischen Gegenstand werden in einer reflexiven Gedenkstättenpädagogik als wesentliche Faktoren für das Interesse an einer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus betrachtet. Bestehende Ungleichheitsverhältnisse und Missachtungserfahrungen wirken sich auf die Zugänge zu historischen Lernorten aus, weil Teilnehmende ihren Alltag in die Gedenkstätten mitbringen. Die Erfahrung, von Gedenkstättenmitarbeitenden ernst genommen zu werden, steht für viele Jugendliche und junge Erwachsene heute im Kontrast zu dem "defizitorientierten Diskurs über sie selbst", den sie auch manchmal selbst reproduzieren.
Identitäre Symptome
Die Herstellung einer nach innen reinen nationalen Gemeinschaft gehört zum Kernbestand der nationalsozialistischen Ideologie. Doch es hat lange gedauert, bis die pädagogischen Konzeptionen historisch-politischer Bildung zum Nationalsozialismus darauf befragt wurden, welche nationalen Zugehörigkeitsordnungen ihnen zugrunde liegen.
In einer diskursanalytischen Studie zur zeitgeschichtlichen Erinnerungsarbeit im Kontext der Migrationsgesellschaft stellt Rosa Fava ein dominierendes abstammungsbezogenes gesellschaftliches Selbstbild fest. Mehrfachzugehörigkeiten der "Neuen Deutschen"
Das "Fehlen einer rassismuskritischen Perspektive"
Verantwortung statt Identität
Mit einem Ausgangspunkt beim gegenwärtigen Kontext einer Gesellschaft vielfältiger Zugehörigkeiten, Migrationen und Globalisierung können diverse Geschichtsbeziehungen artikuliert werden, ohne dass eine Festlegung auf nationale Identitäten erfolgen muss. Differenz sollte eine offene Kategorie bleiben können, um sich reflexiv mit vielfältigen sozialen Beziehungen innerhalb der Nachwirkungen von Verbrechensgeschichte auseinanderzusetzen. Verschiedenheiten und Gegensätze ergeben sich aus den Erfahrungen der Nachkommen von Verfolgten, Überlebenden, Widerständigen, Tätern und Täterinnen und der Masse der Zuschauenden.
Der im Gegensatz zu "Schuld" weniger personalisierend eingesetzte und abstrakter gefasste Begriff "Verantwortung" bietet die Möglichkeit, sich auf unterschiedliche Weise in Beziehung zu den NS-Verbrechen zu setzen und das Kriterium der nationalen Herkunft nicht zum einzig relevanten zu erklären. Im diachronen Bezug auf den Generationenwechsel wie im synchronen Bezug auf den gegenwärtigen migrationsgesellschaftlichen und globalisierten Kontext kann das Konzept der Verantwortung den Raum für vielfältige Beziehungen zu den NS-Verbrechen offenhalten, die nicht von einer familiären nationalen Abstammung abhängig gemacht werden müssen. Für eine zeitgemäße Geschichtsvermittlung in der gegenwärtigen Migrationsgesellschaft ist dies ausgesprochen relevant. Geschichtszugänge sind nicht von nationaler Herkunft abhängig, sondern viel mehr davon, welche Anknüpfungspunkte angeboten werden, um die Frage "Was hat das mit mir zu tun?" bearbeiten zu können.
Bis heute ist das Geschichtsverhältnis zum Nationalsozialismus in weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit im Horizont nationaler Identität betrachtet worden.
Antisemitismuskritische Reflexion
Die Sehnsucht nach Identität, auf deren Rückseite sich die "Wut auf die Differenz" äußert,
Améry wendet sich hier gegen die Verdinglichung, wie sie im Antisemitismus praktisch geworden ist und bietet zugleich eine Definition für Nicht-Identität an, wie sie Adorno in der "Negativen Dialektik" entfaltet hat. Zum Juden gemacht worden zu sein, ist für Améry aus der Perspektive des Überlebenden ein Einbruch, ein "Elementarereignis", das "ohne Gott, ohne Geschichte, ohne messianisch-nationale Erwartung" bestanden werden muss.
Beide Positionen sind hoch aktuell in einer Zeit, die dazu neigt, soziale Ungleichheitslagen und Missachtungsverhältnisse zu psychologisieren, zu pathologisieren und als persönliches Problem defizitärer Subjekte aufzufassen. Weder Philosophie noch Theologie hatten für Améry Wesentliches zu seiner Situation als Überlebender und Gefolterter zu sagen. "Nicht das Sein bedrängt mich oder das Nichts oder Gott oder die Abwesenheit Gottes, nur die Gesellschaft."
Forschende Gedenkstättenpädagogik
Das große Potenzial für eine migrationsgesellschaftliche Kontextualisierung der Gedenkstättenpädagogik sehe ich in deren eigener vielfach praktizierter Selbstreflexivität. Die Orte der NS-Verbrechen fordern viele der dort professionell Handelnden im pädagogischen Bereich dazu heraus, ihr Geschichtsverhältnis immer wieder zu hinterfragen und sich selbst dabei zu beobachten, was der Ort mit ihnen macht. Programmatisch kommt dies in dem Buchtitel "Verunsichernde Orte" zum Ausdruck.
Der Erwartung authentischer Konfrontation mit der Verbrechensgeschichte, die Gedenkstättenbesuche im Bildungsbereich oft motiviert, wird die Reflexionsarbeit aus dem Heute heraus entgegengesetzt. Was dort gelernt werden kann, steht nicht bereits fest. Konfrontiert mit den Funktionalisierungen für gesellschaftliche Selbstvergewisserungen, versuchen Gedenkstättenmitarbeitende die fundamentalen Infragestellungen anzunehmen, die an den Tatorten der NS-Verbrechen zu thematisieren sind. Das gelingt nur dann, wenn diese Orte nicht einem Diktum unterstellt werden, das aktuell häufig in den Ansprüchen von "Menschenrechtsbildung" oder "Demokratielernen" zum Ausdruck kommt.
Gefordert ist die Fähigkeit, offen zu bleiben für die Erforschung des historischen Gegenstandes und diesen Prozess des Erforschens mit den Besuchergruppen fortzusetzen. Deshalb benötigen die Protagonistinnen und Protagonisten der Gedenkstättenpädagogik den Mut, sich den Vereinnahmungen der Gedenkstätten als Orte einer quasi national-demokratischen Selbstvergewisserung zu entziehen. Sie können das mit Selbstbewusstsein tun, weil sie ausschließlich den Opfern und Überlebenden dieser Orte sowie den gegenwärtigen Teilnehmenden gedenkstättenbezogener Bildungsprozesse verpflichtet sind.