Kann Erinnerung überhaupt mit Globalisierung in Zusammenhang gebracht werden? Ist nicht gerade die ‚kollektive Erinnerung‘ bestimmend für das ‚Lokale‘, das sich der Globalisierung Widersetzende? Mit diesen Fragen leitete ich 2001 einen Artikel in dieser Zeitschrift ein.
Kosmopolitisierung der Erinnerung
Beginnen wir im "kleinen" europäischen Rahmen. Wer nach der Europäisierung nationaler Erinnerungskulturen fragt, stößt in der einschlägigen Literatur auf einen bemerkenswerten Grundzug. In den entsprechenden Studien wird zumeist davon ausgegangen, dass die Beziehung zwischen Europa und dem Nationalen meist (mehr oder weniger unausgesprochen) auf ein gemeinsames europäisches Gedächtnis und eine entsprechende Identität zuläuft. Im Kern wird also stillschweigend unterstellt, dass sich Europäisierung nach dem Modell der vergrößerten Nationalstaatsbildung im 19. Jahrhundert vollzieht – oder eben nicht. Entsprechend wird die Frage der europäischen und der nationalen Identifikationen und Identitäten meistens in sich gegenseitig ausschließenden Kategorien begriffen. Patriotische Europäer sind demnach also keine "Kosmopoliten", sondern entweder national oder europäisch – als ob es sich hierbei um ein dichotomisches Gegensatzpaar handle.
Es ist klar, dass der nationale Referenzrahmen nach wie vor dominant und relevant ist. Was jedoch bezeichnend zu sein scheint, und ebenso typisch wie problematisch, dass in diesen Untersuchungsergebnissen das Nationale als getrennt, ja sogar als antithetisch zum Europäischen und Globalen begriffen wird. Diese zumeist unreflektiert vorausgesetzte Entweder-oder-Logik des Nationalen und des Transnationalen kennzeichnet einen Grundzug eines großen Teils der sozialwissenschaftlichen Forschung zu Fragen europäischer Gedächtniskulturen und Identifikationen. Mit anderen Worten: Auch dieser Teil der sozialwissenschaftlichen Forschung und Diskussion vollzieht sich im epistemologischen Gefängnis des "methodologischen Nationalismus", indem davon ausgegangen wird, dass das "Nationale" das Schlüsselprinzip und die Messlatte ist und bleibt für die Untersuchung von sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Prozessen. Diese Gleichsetzung von Gesellschaft und Nation kennzeichnet auch das Konzept der "kollektiven Erinnerung": Offizielle und öffentliche Erinnerungsdiskurse werden demnach sowohl theoretisch als auch empirisch innerhalb des nationalen Containers angesiedelt. Sie stehen danach zum einen im Widerspruch zur Signatur der neuen Uneindeutigkeit, die seit Anfang des 21. Jahrhunderts prägend geworden ist, zum anderen zu den Wirklichkeiten der Europäisierung, verstanden als Erinnerungskulturen, die sich jenseits dieses Rahmens bewegen.
Damit öffnet sich ein neuer Raum, ja, vielleicht handelt es sich sogar um einen Meta-Wandel nationaler Erinnerungslandschaften inner- und außerhalb Europas. Um das sozialwissenschaftlich untersuchen zu können, bedarf es eines methodologischen und theoretischen Perspektivwechsels. Wie in der wachsenden Literatur zu einem sozialwissenschaftlich erneuerten Kosmopolitismus argumentiert wird, ist es dafür notwendig, ein analytisches Verständnis von "moderner Gesellschaft" zu entwickeln. Hierfür gilt es, die Ontologie des Nationalen abzustreifen und den erkenntnistheoretischen Horizont zu öffnen. Dabei will ich hier gar nicht die kontinuierliche Relevanz nationaler Orientierungen oder Erinnerungen infrage stellen. Vielmehr liegt die Bedeutung länderspezifischer Erfahrungen nicht darin, warum und wie das Nationale dominant bleibt, sondern darin, wie europäische Referenzen und Identifikationen in das politisch-kulturelle Skript der Nationen inkorporiert werden und so das Nationale transformiert wird. Entscheidend ist, das Europäische und das Nationale nicht als sich ausschließende Dichotome vorauszusetzen, sondern als sich wechselseitig ergänzende und verändernde Momente zu begreifen: Europäische Identifikationsmerkmale werden zum integralen Teil nationaler Diskurse und problematisieren und reformulieren auf diese Weise die Sinngehalte des Nationalen.
Diese Kosmopolitisierung der nationalen europäischen Identitätslandschaften wird unter anderem durch das, was man den weltkulturellen Gedächtnisimperativ nennen könnte, vorangetrieben. Dieser findet seinen Ausdruck in einem spezifischen Satz von politischen und normativen Erwartungen, die dazu auffordern, sich mit den dramatischen Ungerechtigkeiten und Verletzungen der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Das europäische Phänomen des "Nie wieder!", das aus den moralischen Belastungen des Zweiten Weltkriegs hervorgeht, wird somit zur politischen Herausforderung.
Erinnerungen als Dämonen
Aber dort beginnt es. Die Erinnerungen an den Holocaust haben sich verallgemeinert und verwandelt in einen universalen Code, was gleichbedeutend ist mit einem Imperativ, vergangenes Unrecht – sowohl legal als auch in Formen und Normen des Erinnerns – immer aufs Neue ins Gedächtnis zu rufen und wachzuhalten. Während dieser Gedächtnisimperativ aus der Zentralität der Holocausterinnerungen in den 1990er Jahren hervorging, ist dieser nun ein dekontextualisierter Code geworden für Menschenrechtsverletzungen im Allgemeinen. Die Folge ist: Europäische Nationalstaaten engagieren sich (oder wenigstens sehen sie sich mit dieser Erwartung konfrontiert) in der Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Geschichte – und zwar in der skeptischen Auseinandersetzung mit dieser. Aus dem "Nie wieder" bildet sich eine eigene Ethik heraus. Während traditionelle Gedächtnisnarrative geschichtliche Ereignisse im Lichte eines nationalen Gründungsmythos beleuchten und organisieren, decken derartige skeptische Geschichtsnarrative auch Ereignisse auf, die in der Vergangenheit begangene eigene Untaten ins Zentrum rücken.
Erinnerungen werden so gleichsam zu Dämonen, zu Zwischenwesen, die sich in einem Bereich zwischen Geschichte und Gegenwart, Zeit und Raum, dem Unwirklichen und Wirklichen bewegen. Sie sind wie Geister, die zwischen Leben und Tod wandeln. Shakespeare drückte es so aus: "Die Zeit ist aus den Fugen" – so erschrickt sich Prinz Hamlet, als er mit dem Geist seines Vaters konfrontiert wird.
Die konkreten und abstrakten Geister, die durch die Erinnerung hervorgerufen werden, sind weder menschlich noch heilig und verwahren sich jeglicher Form von Abschluss oder Festlegung. Sie sind ständig im Fluss, werden permanent verhandelt, verändert und verändern ihrerseits – zum Beispiel die Politik, die Teil der Verhandlung und Unterhaltung ist. Sie bewohnen einen Raum, den man thirdspace nennen kann, wo Raum, Kultur und Geschichte miteinander verschmelzen.
Folgerungen aus dem Gedächtnisimperativ "Nie wieder!"
Erinnerung bewegt sich somit im Zwischenraum – so wie auch Geister zwischen Menschen und Göttern "leben". Wie Furien wettern die Geister gegen das Vergessen der Toten – unabhängig davon, ob es sich nun um Opfer des Holocaust, "Verschwundene" in Lateinamerika, von Francos Falangisten ermordete Oppositionelle in Spanien oder Opfer kommunistischer Säuberungen in der ehemaligen Sowjetunion handelt. Diese Geister haben oft die gleiche Botschaft: "Nie wieder!" Die Politik des "Nie wieder" ist somit nicht nur ein hehres Ideal, das von menschlicher Größe ausgeht, sondern eine klare Forderung – und eine Herausforderung an unser Leben. Es geht darum, wie man nach der Katastrophe weiterleben kann. Wenn eine solche Politik in irgendeiner Form überhaupt Sinn ergibt, dann nur, wenn sowohl das Allgemeine als auch das Besondere bewahrt bleiben, ohne dass man Gefahr läuft, das eine auf das andere zu verkürzen. Damit wird auch eine neue Zeit – thirdtime – erzeugt, die irgendwo zwischen Vergangenheit und Zukunft "nicht" verankert ist. Es ist daher lebensnotwendig, transnationale Debatten historisch einzubetten und zu verankern. Das gilt insbesondere auch für Diskussionen über transnationale Gerechtigkeit, in denen es über europäische Ansätze hinausgehen soll und bei denen es auch um die "Traditionen der Unterdrückten" geht. Partikulare Stimmen, also Stimmen von Minderheiten, sind daher historisch und theoretisch notwendig.
Wer sich auf partikulare Traditionen berufen will, findet seinen Blick auf Katastrophen gerichtet. Es gibt nicht mehr die gemeinsame "abendländische Welt", keinen gemeinsam geglaubten Gott, kein allgemeingültiges Menschen- oder Weltbild. Ein gemeinsames Bewusstsein lässt sich nur durch Negationen charakterisieren: durch die Erfahrung des Zerfalls der geschichtlichen Erinnerung, durch den Mangel eines herrschenden Grundwissens, durch die Ratlosigkeit in Bezug auf die absolute Ungewissheit der Zukunft. Und hier beginnt die Politik des "Nie wieder" im Sinne einer historisch-pragmatischen Politik, deren Gültigkeit und Geltung zwar aus der Erfahrung historischer Katastrophen erwächst, aber immer erst gegen Widerstände erarbeitet, ja erkämpft werden muss.
Angesichts gravierender Menschenrechtsverletzungen im Kosovo entschied sich 1999 die Bundesrepublik Deutschland im Zusammenspiel mit den USA und anderen NATO-Partnern, ohne UN-Mandat militärisch in den Konflikt zwischen Serbien (als Teil der Bundesrepublik Jugoslawien) und Kosovo-Albanern einzugreifen, um metaphorisch oder praktisch ein neues "Auschwitz" zu verhindern (so der damalige Außenminister Joschka Fischer). Auch im intellektuellen Umfeld wurde die Beteiligung Deutschlands unter anderem von Jürgen Habermas und Ulrich Beck erinnerungspolitisch gerechtfertigt: Hier wurde also die Politik des "Nie wieder" auf die Erwartung der Zukunft angewendet.
Vielfalt der Erinnerungen teilen
Kosmopolitische Erinnerung – als Folge des Gedächtnisimperativs "Nie wieder" – setzt voraus, dass die Geschichte und die Erinnerungen der "Anderen" anerkannt werden. Dieser kosmopolitische Moment, die eigene Geschichte auch mit den Augen der Anderen zu sehen, ist zu einer wichtigen Quelle der inneren und äußeren Legitimation staatlichen Handelns geworden. Entsprechendes gilt für die Signatur des Europäischen in den nationalen Erinnerungslandschaften Europas. Es handelt sich hier um einen reflexiven Partikularismus der Erinnerung. Dies bedeutet, dass der Nationalstaat in den entstehenden transnationalen europäischen Erinnerungslandschaften aufgewertet wird. Allerdings kann diese Entwicklung weder reduziert werden auf die Persistenz noch auf den Bedeutungsverlust des Nationalismus; vielmehr zeigt sie, dass das Nationale selbst neu verhandelt und definiert wird. Kosmopolitisierung besteht somit nicht darin, dass ein einheitlicher europäischer Erinnerungsdiskurs sich durchsetzt, sondern darin, dass widerstreitende Elemente und Momente in spezifischen Formen des Sowohl-als-auch nebeneinander praktiziert oder auch miteinander verbunden werden.
In diesem Sinne drückt sich die Praxis des reflexiven Partikularismus darin aus, dass erstens Prinzipien der Erinnerungsarbeit geteilt werden, die zweitens affirmative und ambivalente Wahrnehmungen und Bewertungen des Europäisch-Seins enthalten, drittens zugleich allerdings auch skeptische Narrative über die Nation (in denen zum Beispiel Täterschaft thematisiert wird), und viertens auch ein Perspektivwechsel praktiziert wird, der sich mit dem Blick der Anderen auf geschichtliche Ereignisse auseinandersetzt. Die verschiedenen Erinnerungen an den Holocaust sind der Schlüssel für diese Politik; gemeinsam geteilt schaffen sie die Grundlage für eine neue kosmopolitische Erinnerung, die über ethnische und nationale Grenzen hinausgeht.
Erinnerungen an den Holocaust sind im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich ausgefallen. Mit der wachsenden Verbreitung von Bildern hat es eine zunehmende massenmediale Durchwirkung von Holocausterinnerungen gegeben. Das soll nicht zu dem Fehlschluss führen, dass globale Symbole überall die gleiche Bedeutung hätten. Aber nicht nur der Ort verliert an nationaler Bedeutungskraft. Die nationalstaatliche Zeit, die ethnische Zeit, ja das Gedächtnis schlechthin wird durch globale Prozesse rasender. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verlieren ihre verorteten Verknüpfungen. Unter anderem Migration, Medien und Massenkultur sorgen dafür, dass "unsere" Vergangenheit plötzlich auch "deren" Zukunft wird. Wie erinnern sich zum Beispiel türkischstämmige Deutsche, israelische Araber, Schwarze Amerikaner nicht nur an den Holocaust, sondern auch an anderes historisches Unrecht? Historische und gegenwärtige Ereignisse am einen Ende des Globus betreffen die Menschen am anderen Ende und machen sie mitunter betroffen. Das Leiden auf der anderen Seite des Planeten wird sichtbar.
Medien und Mitgefühl
Die Bilder der Konzentrationslager waren der Beginn. In ihrer Eindringlichkeit entkoppelten sie das Ereignis vom spezifischen Ort und von der spezifischen Zeit und brachten auf diese Weise – wenigstens einen historischen Augenblick lang – die nationalen Mauern der kosmopolitischen Apathie zum Einsturz, die nach innen Räume des Mitleidens und nach außen Räume der Mitleidlosigkeit schaffen und aufrechterhalten. Dies kann man nun nicht nur für medial verbreitete Bilder sagen, sondern für Sprache ganz allgemein (Sprache der Fotografie, der Malerei, der Literatur).
Alle Horizonte müssen entfaltet und genutzt werden, wenn kosmopolitische Empathie möglich und Wirklichkeit werden soll. Dichtung denkt und fühlt das Leid der entfernten Anderen als eigenes Leid, kosmopolitisches Mitleiden findet in der Sprache oder gar nicht statt. Der Schrecken für Andere wird auf diese Weise zum Schrecken für uns, und der Schrecken hat für uns nicht ein anderes Gesicht, er hat viele Gesichter, und alle sehen aus wie unser eigenes. Weil jeder und jede zum generalisierten Mitleidenden wird, kann jeder (muss aber nicht) denken: Das Gesicht der Tragödie könnte mein eigenes sein. Gerade die traumatische Obszönität, in der Bild und Wirklichkeit, Sprache und Mitleiden eins werden, kann voneinander getrennte Individuen einen. Das ist die Kraft der Dämonen und Geister, die zwischen den Welten die Zeit überbrücken.
Die ganze Vielfalt der heutigen Kommunikationsmöglichkeiten macht Entfernungen irrelevant, tötet Gleichgültigkeit, weckt Neugierde. Sie ermöglicht es, per Mausklick Schicksale aufzuspüren, auszutauschen, zu überprüfen, in ihre Einzelheiten hinein zu verfolgen. Bis zu einem gewissen Grad kann jeder sich überall einmischen, zum Reporter werden, der seiner eigenen Story des Dabeiseins nachgeht. Die traumatische Vergangenheit lässt sich zwar nicht mehr ändern, aber die Zukunft dieser traumatischen Vergangenheit kann damit verhindert werden.
Kosmopolitische Erinnerung und Menschenrechte
Wenn wir also behaupten, dass Erinnerung frei über Grenzen schwebt, und dass das gerade für die Holocausterinnerung zutrifft, dann sind Menschenrechte die Verkehrsmittel, in denen diese Erinnerungen reisen. Natürlich bedeutet das keine Homogenisierung. Die Träger der kosmopolitischen Erinnerung zeichnen sich dadurch aus, dass ihre persönlichen Einstellungen weniger von Staaten als von der Welt an sich bestimmt sind. Das bedeutet dann auch, dass sie die Welt anders interpretieren – ihnen ist daran gelegen, "innere Angelegenheiten" abzuschaffen und alle Menschenrechtsverletzungen zu Weltangelegenheiten zu machen.
Die grundlegenden UN-Konventionen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wären ohne den Holocaust nicht denkbar gewesen. Dieser kurze "kosmopolitische Augenblick" wurde jedoch schon bald vom Kalten Krieg abgelöst und von nationalen Mustern verdrängt. Nach dem Kalten Krieg kam es zu einer Wiederbelebung: In der vernetzten Welt haben sich die Menschenrechte aus dem Blockdenken des Kalten Kriegs befreit. Und hier wird die Holocausterinnerung zentral: Die Erinnerung wird zur entscheidenden Trägerin einer moralischen Gewissheit. Diese bildet das kulturelle Fundament der massiven kosmopolitischen Reaktion, mit der die jüngsten Verbrechen gegen die Menschheit verarbeitet werden.
Es gibt mindestens vier Wege, den Holocaust zu generalisieren. Erstens hinsichtlich der Opfer: Handelte es sich um Juden, oder war es eine Vielzahl von allen möglichen Menschen? Zweitens hinsichtlich der Täter: Waren die Nazis einzigartig grausam, oder waren sie nur effizienter als andere Massenmörder? Drittens hinsichtlich der Zukunft: Besteht die Lehre daraus, dass ähnliches niemals mehr den Juden angetan werden darf oder überhaupt niemandem mehr? Und viertens hinsichtlich des Gegenstands der Erinnerung: Wer kann und wer muss Zeuge sein? Wer hat das Recht, in die Souveränität anderer Staaten einzugreifen?
Es handelt sich dabei allerdings nicht um eine Erinnerung, aus der vergangenheitsbezogene, formative Gründungsmythen geschaffen werden, es geht hier vielmehr vor allem um zukunftsweisende Erinnerungen. Diskussionen um neue postnationale Gemeinschaften konzentrieren sich meist auf die Zukunft, wobei die Kernfrage lautet: Wie können Risiken eingeschränkt werden? Die Möglichkeit postnationaler Solidarität beruht zumeist auf der politischen Anerkennung und medialen Vermittlung von grenzüberschreitenden Risiken sowie auf zivilgesellschaftlichen Initiativen gegen diese. Durch neue Kriege kommt jedoch ein neues, weiteres Risiko dazu: Völkermord. In diesem Zusammenhang besinnt sich Europa der Vergangenheit des Holocaust.
Opfer der Universalisierung
Dies eröffnet wiederum den Raum für kosmopolitische Erinnerungen. Der Holocaust ist das Ereignis, das diesen Wert der kosmopolitischen Erinnerung am besten ausdrückt, da das Ereignis selbst ein transnationales Verbrechen und daher auch ein Angriff auf den Kosmopolitismus selbst war. Bezeichnenderweise gewinnt dieser Öffnungsprozess gerade in dem Augenblick an Zuspruch, da einzelne europäische Staaten nicht mehr umhin können, sich mit ihrem eigenen Verhalten während des Zweiten Weltkriegs auseinanderzusetzen. Im globalen Zeitalter muss man sich nicht nur nach innen, sondern auch nach außen legitimieren. Der Preis: All diese Entwicklungen entfernen sich von den jüdischen Opfern des Holocaust, die in dieser kosmopolitischen Perspektive im Namen der "Menschheit" nochmals geopfert werden. Dieses kosmopolitische Modell ist daher eine radikale christliche Vereinnahmung der jüdischen Katastrophe, die sich aber gleichzeitig als fortschrittlich und frei von ethnischen Bindungen präsentiert.
Es gibt noch ein weiteres Interpretationsmuster des Holocaust; und es ist natürlich kein Zufall, dass dieses Narrativ seinen Ursprung in Europa hat: Der Täterbegriff der Nazis wird aufgelöst in Metaphern, nach denen die wahren Schuldigen keine konkreten Menschen sind, sondern "die Moderne", "die Bürokratie" oder gar "der Mensch". Es ist gerade die postmoderne Kritik an der Aufklärung, die den Holocaust als "Beweis" für das Scheitern der Moderne anführt. Die sozialwissenschaftliche Reflexion des Holocaust hat mit guten Gründen einen Verzweiflungsdiskurs hervorgebracht. Nach Max Horkheimer und Theodor W. Adorno ist es die Aufklärung selbst, deren Dialektik die Perversion hervortreibt. Diese Kausalitätsvermutung von Modernität und Barbarei wirkt auch in Zygmunt Baumans "Dialektik der Ordnung" fort.
Aber dieser verzweifelte Abschied von der Moderne muss nach dieser kosmopolitischen Auffassung nicht das letzte Wort sein. Ja, er ist sogar blind dafür, dass und wie mit der Europäischen Union ein Ringen um Institutionen mit dem Ziel beginnt, dem europäischen Horror mit europäischen Mitteln und Werten zu begegnen: Die Alte Welt erfindet sich neu. Moderne und Postmoderne ergänzen sich hier jedoch. Beides sind europäische Projekte, die auf europäische Erfahrungen und Erinnerung zurückgreifen. Beide sehen in der jüdischen Erinnerung nichts anderes als das Überbleibsel einer überwundenen Moderne. Im neuen kosmopolitischen Europa wird die Erinnerung an den Holocaust zu einem Mahnmal für die allgegenwärtige Modernisierung der Barbarei – nicht für den institutionalisierten Hass gegen die Juden. Darin drückt sich die historische Erfindung der national und staatlich entgleisten Moderne aus, die das moralische, politische, ökonomische und technologische Katastrophenpotenzial wie im Schreckensbilderbuch des Reallabors ohne Erbarmen und Rücksicht auf Selbstzerstörung entfaltet hat. Kosmopolitismus wird über die Holocausterinnerung zur Kritik des europäischen Pessimismus der Modernität und der Postmoderne, die die Verzweiflung auf Dauer stellt. Die Geister verfolgen uns überall. Die jüdischen Geister werden zur Metapher des universalisierten "Nie wieder", und das ist der Preis für die globalisierte Erinnerung.
Dieser Aufsatz ist Ulrich Beck gewidmet, der am 1. Januar 2015 verstarb. Viele der hier aufgeschriebenen Gedanken sind im gemeinsamen Gespräch entstanden.