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"Das radikal Böse ist das, was nicht hätte passieren dürfen." | Holocaust und historisches Lernen | bpb.de

Holocaust und historisches Lernen Editorial "Das radikal Böse ist das, was nicht hätte passieren dürfen." Unannehmbare Geschichte begreifen Gedächtnis im Zeitalter der Globalisierung. Prinzipien für eine neue Politik im 21. Jahrhundert Geschichtsbewusstsein ohne Identitätsbesetzungen. Kritische Gedenkstättenpädagogik in der Migrationsgesellschaft Gedenkstättenarbeit zwischen Universalisierung und Historisierung Globales Gedächtnis und Menschenrechtsbildung

"Das radikal Böse ist das, was nicht hätte passieren dürfen." Unannehmbare Geschichte begreifen

Volkhard Knigge

/ 17 Minuten zu lesen

Das Gedächtnis an die Opfer des Nationalsozialismus ist fester Bestandteil deutscher Erinnerungskultur. Die normative Rhetorik verdeckt jedoch wichtige konzeptionelle Fragen zum historischen Lernen aus "unannehmbarer Geschichte" (Kertész).

Die Geschichtskultur in Deutschland hat sich in den vergangenen dreißig Jahren einschneidend verändert. Galt die selbstkritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bis in die 1980er Jahre hinein in der Bundesrepublik gemeinhin eher als Nestbeschmutzung denn als elementare politische und sittliche Notwendigkeit, gehören die Bewahrung des Gedächtnisses an die Opfer des Nationalsozialismus und die Erinnerung an den Holocaust heute zur Staatsräson. An den Orten einst vergessener, durch absichtliche Zerstörung oder gleichgültige Nachnutzung aus der Wahrnehmung gedrängter Konzentrationslager und Tötungsorte sind institutionalisierte Gedenkstätten entstanden. Mit der 1999 etablierten, 2008 fortgeschriebenen Gedenkstättenkonzeption ist der Bund in bis dahin kaum vorstellbarem Maß an der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und auch des DDR-Kommunismus beteiligt. Die Geschichte der umstrittenen und verzögerten Auseinandersetzung ist längst selbst Gegenstand der Reflexion geworden.

Trotzdem klaffen der Ausbau der Gedenkstättenlandschaft – zwischen 1980 und 2010 entstanden in der Bundesrepublik mehr als 150 kleinere und größere Gedenkstätten – und die systematische Konzeptualisierung des Lernens aus unannehmbarer Geschichte (Imre Kertész) auseinander. Dieses Problem und die damit verbundenen Herausforderungen werden von der normativen Rhetorik der Erinnerung, wie sie nicht nur in der Bundesrepublik entstanden ist, eher verdeckt als dass damit eine Lösung verbunden wäre. In besonderer Weise verdeckt die Rhetorik der Erinnerung die Frage danach, ob nicht zumindest in Hinsicht auf das historische Lernen und in Hinsicht auf die Folgen für die Bildung von Geschichtsbewusstsein – kurz: in geschichtsdidaktischer Perspektive – zwischen Geschichte und einer Geschichte, die nicht hätte passieren dürfen, zwischen Geschichte und menschenfeindlicher, unannehmbarer, im nicht-religiösen, nicht-metaphysisch-geschichtsteleologischen Sinne heilloser Geschichte unterschieden werden muss. Und sei es nur, weil sich mit letzterer ein Identifikations- und Tradierungsverbot verbindet sowie eine besondere kognitiv-affektive Wucht, die ebenso aufrütteln wie erschrecken und beängstigen kann; jedenfalls dann, wenn Geschichte nicht nur als narrative Konstruktion ohne Wirklichkeitsbezug verstanden wird.

Die folgenden Überlegungen beanspruchen keinesfalls, die geschichtstheoretischen und geschichtsdidaktischen Grundprobleme des Lernens aus unannehmbarer Geschichte vollständig oder abschließend zu behandeln. Sie möchten vielmehr darauf aufmerksam machen, dass es sie überhaupt gibt. Die vielfach beschworene "Zukunft der Erinnerung" ist deshalb unauflöslich mit der Frage nach dem Lernen aus unannehmbarer Geschichte verbunden

Erinnerung als Königsweg?

Wenn ich mich im Titel meines Beitrags auf Hannah Arndt und Imre Kertész beziehe, dann tue ich das, weil sowohl der Begriff des radikal Bösen wie die Charakterisierung von Geschichte als unannehmbar nicht ins Abstrakte oder sogar Metaphysische verweisen, sondern durchdachte historische Erfahrung repräsentieren und auf dem Durchdenken, auf dem Begreifen historischer Erfahrung beharren, damit unmenschliche Geschichte überwunden und unter Bezug auf historische Erfahrung verhindert werden kann.

Hannah Arendt, die deutsch-jüdische Philosophin, die nach 1933 Flucht, Internierung und die Recht- und Schutzlosigkeit einer Staatenlosen erfahren musste, hat den Begriff des radikal Bösen ab 1950 entwickelt. Wie im Fall anderer ihrer Begriffe drückt sich in ihm Arendts Anliegen aus, die rein nacherzählende Darstellung nationalsozialistischer Gräuel analytisch zu überwinden und eine elementare Selbstverständigung darüber anzustoßen, wie Vernunft, Geschichte, Politik, Gesellschaft und Mensch nach und mit der Erfahrung der Shoah gedacht werden müssen.

Imre Kertész, der als ungarischer Jude Auschwitz und Buchenwald überlebt hat, hat 1995 dargelegt, dass die mittlerweile zur Routine gewordene Redeweise von der Unverstehbarkeit der nationalsozialistischen Verbrechen, insbesondere der Shoah, "im Grund ein Synonym (für) unannehmbar" sei. Unannehmbar – damit will Kertész gerade nicht sagen, dass Geschichte und Erfahrung des Nationalsozialismus nicht angeeignet, das heißt verstanden und begriffen werden können. Er versteht Unannehmbarkeit auch nicht als moralisches Verdikt, so wie man etwa von einem unannehmbaren Verhalten spricht. Vielmehr geht es ihm darum, eine aus der historischen Erfahrung unmittelbar resultierende und sie symptomatisch zum Ausdruck bringende Erkenntnisabwehr bloßzulegen: "Was wir als irrational, als unverstehbar empfinden bzw. dazu erklären, ist (…) weniger eine Sache der äußeren Faktoren als vielmehr unserer eigenen Innenwelt. Wir können und wollen einfach nicht der brutalen Tatsache ins Auge sehen, daß jener Tiefpunkt der menschlichen Existenz, auf den der Mensch in diesem Jahrhundert herabgesunken ist, nicht nur mit der eigenartigen und befremdlichen – ‚unverstehbaren‘ – Geschichte von ein oder zwei Generationen zu erklären ist, sondern zugleich eine der generellen Möglichkeiten des Menschen darstellt, also Beispiel einer Erfahrung ist, die bei gegebener Konstellation auch unsere eigene Möglichkeit einschließt."

Damit wendet auch er sich gegen die Reduktion historischer Erfahrung aufs grauenhafte Detail und ihre Abschottung durch voreilige moralische Appelle, vertritt aber keineswegs die essenzialistische Vorstellung eines geschichtsentkoppelten, allgemeinmenschlich Bösen, das sich willkürlich periodisch Bahn bräche. Vielmehr geht es ihm um ein Bewusstsein, das sowohl um die konkreten politischen, kulturellen und sozialen Merkmale der "Konstellation" weiß, in der staatliche und gesellschaftliche Wirklichkeit in Gewalt und Destruktivität umschlagen, und das sich darüber hinaus darum bemüht, zu begreifen, welche damit verbundenen Einsichten es abwehrt – und aus welchen Gründen.

Im Gegensatz dazu gilt heute, wie angedeutet, in erster Linie "Erinnern" als Königsweg des Lernens aus und gegen Diktatur- und Gewaltgeschichte. Dies gilt ungeachtet dessen, dass die unmittelbare, lebensgeschichtlich rückgebundene Erinnerung an den Nationalsozialismus fast gänzlich erloschen ist und die allgegenwärtige Rede von der Erinnerung den Begriff ausgehöhlt hat. Denn weder das individuelle noch das historische Erinnern in der Gesellschaft ist automatisch identisch mit kritischem, gegenwartsrelevantem Lernen aus unannehmbarer Geschichte. Zudem bezeichnet Erinnern diesem Verständnis nach paradoxerweise sowohl das Ziel des Lernens – nämlich Erinnern lernen, Erinnerung lernen – wie auch den Vorgang des Lernens selbst, insofern Erinnern und Lernen gleichgesetzt werden. Erinnern gilt dementsprechend als adäquate, gleichsam natürliche Verschränkung von Wissen um die Vergangenheit, triftiger Vergangenheitsdeutung und politisch-moralischer Wertbildung. Die unterschiedlichen Dimensionen von Erinnerung – von der an Erfahrung gebundenen mikroperspektivischen lebensgeschichtlichen Erinnerung bis hin zu den mehr oder minder durchmachteten Formen historischen Erinnerns in der Gesellschaft – werden verwischt. Fragen nach dem Charakter und den Herausforderungen des Lernens aus unannehmbarer Geschichte erscheinen überflüssig; allenfalls stellen sich Fragen nach der medialen Modernisierung der Weitergabe von Erinnerung, nach mitreißenden Vermittlungsrezepten.

Ich möchte an zwei Beispielen andeuten, wie weit dieser Prozess fortgeschritten ist. So hat sich seit Richard von Weizsäckers – mit Rückgriff auf die jüdische Mystik geschichtsmetaphysisch aufgeladener – Darstellung der Erinnerung als Erlösung in seiner Ansprache zum Kriegsende 1985 zunehmend die Vorstellung ausgebreitet, die Zukunft der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus läge allein in der Identifikation mit der Erinnerung von – insbesondere jüdischen – Überlebenden. Horst Köhler hat das in seiner Rede zum 60. Jahrestag des Kriegsendes 2005 so formuliert: Nachdem Deutschland sich "von seinem Inneren her" verändert habe, bliebe nur mehr als Pflicht das "Wachhalten der Erinnerung", verstanden als Weitergabe der Erinnerungen von Zeitzeugen von Generation zu Generation. Auch Bundestagspräsident Norbert Lammert hat diese Auffassung in seiner Rede zum 27. Januar 2015 mit Rückgriff auf Elie Wiesels Vorstellung vom Zeugen des Zeugen bekräftigt, indem er es eine ermutigende Erfahrung nannte, dass in Deutschland eine "Generation von Zeugen der Zeugen im Entstehen begriffen" sei.

Dass die würdigende Annahme und Akzeptanz der Zeugenschaft nationalsozialistisch Verfolgter in der deutschen Gesellschaft für die selbstkritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus von elementarer Bedeutung war, ist gewiss. Unbestreitbar ist aber auch, dass selbst durch die Addition unzähliger Mikrogeschichten Geschichte weder geschrieben noch erklärt noch begriffen werden kann. Junge Menschen Erinnern zu lehren, wie es Empfehlungen der Kultusministerkonferenz und eine darauf bezogene Tagung im April 2015 mit dem Titel "Erinnern lernen" nahelegen, verschärft nur das Problem. Denn hier deutet sich eine inhaltliche und institutionelle Zergliederung des historischen Lernens an, nämlich: An der Schule werde Geschichte eher als Stoff, als Faktenwissen vermittelt, während Gedenkstätten – als bloße Erinnerungsorte missverstanden – Wertbezüge und politische Orientierungen beisteuerten, etwa in Gestalt der Menschenrechte oder der Legitimierung der Demokratie.

Aus Geschichte lernen?

Ich möchte nicht missverstanden werden. Ich will nicht ein weiteres Mal den Relevanzverlust des Historikers in Postmoderne und Mediengesellschaft mit ihrer Vielzahl an Vergangenheitsdeutern, Geschichtsbildproduzenten, zersplitterten Sichtweisen auf und heterogenen Erinnerungen an die Vergangenheit beklagen. Es geht mir vielmehr darum, ernst zu nehmen, dass die Auflösung von Geschichte und Geschichtsbewusstsein in Erinnerung und Erinnerungsrhetorik wesentliche Fragen verstellt beziehungsweise sie voreilig als beantwortet erscheinen lässt. Dazu zählt erstens die grundsätzliche Frage, ob aus Geschichte überhaupt gelernt werden kann. Zweitens ist die Frage zu stellen, inwieweit der Nationalsozialismus oder ihn begünstigende Strukturen tatsächlich nur noch Geschichte sind – eine Frage, die für die Bestimmung geschichtskonkreter Gegenwartsrelevanz des Lernens von besonderer Bedeutung ist. Und drittens ist zu fragen, wie mit der Aporie umgegangen werden kann, dass die politisch-moralische Beurteilung von Geschichte als menschenfeindlich, unannehmbar oder heillos im Prinzip die historischen und politisch-moralischen Einsichten und das Urteilsvermögen voraussetzen, die durch das historische Lernen gewonnen werden sollen.

Zudem gehört hierher, dass wissenschaftliche Geschichtsschreibung kein Mittel unmittelbarer, politisch-moralischer Beurteilung von Geschichte sein kann und dass sie sich durch moralische Vorfestlegungen um Erkenntnismöglichkeiten brächte; es aber auch keine Lösung ist, die politisch-moralische Dimension des Geschichtsbewusstseins gleichsam in historisch entkernte Erinnerung und Pietät auszulagern. Welche Folgen diese Aufspaltung hat, zeigt ein Beispiel aus dem Alltag der Gedenkstätte Buchenwald: "Wie können Sie meinem Hund das nur antun? Haben Sie denn nichts aus der Geschichte gelernt?" – entrüstet sich eine Dame, als eine Mitarbeiterin sie darauf aufmerksam macht, dass Hunde nicht in den Kernbereich der Gedenkstätte, das ehemalige Häftlingslager, mitgenommen werden dürfen.

Dass aus der Geschichte gelernt werden muss, scheint mit der Erfahrung des Nationalsozialismus – und anderer Diktaturen und Menschheitsverbrechen – zwingend. Karl Jaspers hat dementsprechend nach 1945 von "Selbstdurchhellung" in geschichtlicher und persönlicher Hinsicht gesprochen. Erich Weniger hat (1946/49) dazu aufgefordert, die geschichtliche Erfahrung zum "Bewußtsein zu bringen und kritisch zu durchleuchten". Felix Messerschmid verstand (1963) unter Erinnerung die Rückbindung des Geschichtsbewusstseins an "prägende sittliche Einsichten". Theodor Litt hat (1948) eine "Erziehung zu historischem Verstehen" und zu "historischer Selbstkritik" als Aufgabe gestellt. Die sich ab Ende der 1960er Jahre entwickelnde Geschichtsdidaktik – allen voran 1966 Friedrich J. Lucas – hat historisches Lernen aus dem Bann eines vermeintlich wertneutralen Historismus gelöst; insbesondere seiner Tendenz, Vergangenheiten in ihrer Eigenheit und ihrem normativen Eigensinn letztlich hinnehmend bloß zu verstehen. Dagegen hatte sich etwa Jean Améry, Widerstandskämpfer und Auschwitzüberlebender, 1976 nachdrücklich gewandt: "Im humanen Sinn aber ist entscheidender die Forderung, dass die Geschichtsbetrachtung, nicht anders als die historischen Verläufe selbst, ein moralisch wertendes Element enthalten muss. Vernünftig ist das Wirkliche nur, solange es moralisch ist. Und Historizität wird im Sinne des Menschen unnatürlich, sobald sie sich wertneutral gibt. So verstanden ist der Mythos vom Dritten Reich als Mythos vom radikal Bösen sachgetreuer als eine vorgebliche Objektivität, die dem Übel sich nicht widersetzt und allein durch ihre Indifferenz schon zu dieses Übels Fürsprecher wird."

Mit der Entwicklung der "Kategorie des Geschichtsbewusstseins" verloren Vorstellungen historischen Lernens, die deskriptive Vergangenheitsdarstellungen explizit oder implizit mit gegenwartskonformer Sinngebung (wenn nicht gar Gesinnungsbildung) verbanden, ihre Grundlage. In den Mittelpunkt rückten nun das Wissen um und die begreifende Bearbeitung der Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von Vergangenheitserfahrung und Zukunftserwartung – kurz: von Historizität und die Befähigung zu historischem Denken und Urteilen. Es ging nicht mehr um einen teleologisch festgezurrten Sinn der Geschichte, es ging nicht mehr um Geschichtsbilder und vorgegebene historische Identifikationen, sondern um reflektierte Orientierung an triftig angeeigneter und durchgearbeiteter historischer Erfahrung.

Ob – und inwieweit – Geschichte tatsächlich abgeschlossen ist, lässt sich in dieser Perspektive nicht von der Gegenwart her oder geschichtspolitisch dekretieren. Es bedarf des doppelten Blicks auf Vergangenheit und Gegenwart, auf Distanz und Nähe zwischen Gestern und Heute. Und: Angesichts der Vielfalt von Faktoren, die die Geschichte und ihren Verlauf prägen, lässt sich diese Frage nicht nur auf ein Kriterium gestützt beantworten, etwa dem der institutionellen Verfassung des Staates. Auch in der Demokratie können Mentalitäten oder Strukturen wirksam sein, die zur Etablierung der Diktatur beigetragen haben. Man denke nur an die Verbindung von sozioökonomisch verursachter Angst in der Gesellschaft und Entstehung sowie Ausagieren von Ressentiments oder deren rassistischer Fixierung. Ich breche die Skizze hier ab, denn ich bin bisher nur mittelbar auf die Frage eingegangen, ob man aus Geschichte lernen kann, so wie es landläufig unterstellt wird.

Handlungsrezepte aus der Geschichte?

Vor Kurzem fragte mich ein Bundestagsabgeordneter, der die Aufarbeitung des Nationalsozialismus und die Umwandlung ehemaliger Konzentrationslager in Gedenkstätten schon früh engagiert begleitet hatte, welche Antwort die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in Bezug auf die Frage gebe, ob die Bundesrepublik heute Waffen an Saudi-Arabien liefern solle. Die hier erwartete unmittelbare Ableitung von Handlungsrezepten aus der Geschichte ist verständlich, aber in mehrfacher Hinsicht problematisch. Historisches Denken betont aus guten Gründen die Offenheit des Geschichtsprozesses und damit zugleich die menschliche Freiheit und Verantwortung, Geschichte zu gestalten. Die Geschichte auf Lehren festzulegen, hieße, sie nachträglich, vom Heute her moralisch oder politisch zu fixieren, im schlimmsten Fall: sie sich für herrschaftliche Zwecke zurechtzulegen, sie mit einem politischen oder moralischen Telos zu versehen, das Freiheit und Verantwortung suspendiert. Geschichte würde damit zu einem Gegenstand der Einübung in Anpassung, zumindest aber würde sie bloß illustrativ, entkontextualisiert und aufs funktionale Fragment reduziert präsentistisch verwendet. Nicht zuletzt ist eine unmittelbar Handlungsrezepte gebende Geschichte aufgrund der beschleunigten Enttraditionalisierung in der Moderne, aufgrund des mit ihr verbundenen beschleunigten Wandels nicht mehr denkbar.

Handlungsrezepte lassen sich – ebenso wenig wie Orientierung und Sinn – auch nicht mehr aus vermeintlich absoluten Gewissheiten über den Gang der Geschichte ableiten. Dass Geschichte die Inkarnation von Fortschritt sei – im Sinne der Aufklärung, des Marxismus oder westlicher Modernisierungstheorien – ist nicht nur durch wissenschaftliche Nachdenklichkeit, sondern auch historisch widerlegt. Gleichwohl – und hier möchte ich Améry ernst nehmen – kann es angesichts katastrophaler historischer Erfahrungen nicht hinreichen, Gegenwart im Spiegel der Geschichte nur kontemplativ zu schauen oder mit Geschichte postmodern zu spielen. Zumal die geschichtstheoretischen Hinweise ernst zu nehmen nicht ausschließt, sich zumindest darum zu bemühen, Einsicht und Orientierung an historischen Begebenheiten und Konstellationen zu gewinnen auf das hin, was man besser nicht tun sollte. Und hierfür eignen sich gerade die Begebenheiten, an denen tradierte Erwartungshorizonte und die Selbstverständlichkeit von Geschichts- und Kulturgewissheiten im Lebensvollzug durch historische Ereignisse in die Krise geraten.

Wenn wir uns so der Geschichte zuwenden, gewinnen wir zwar für den Einzelfall kein Handlungsrezept, aber – beispielsweise – aus der historischen Erfahrung das Wissen, dass sich mittels Rassismus soziale oder ökonomische Probleme in der Gesellschaft nicht bewältigen lassen. Man kann aber auch einen Schritt weitergehen und danach fragen, welche Geschichts- und Kulturgewissheiten durch historische Begebenheiten, hier: den Nationalsozialismus, in die Krise geraten und welche Folgen damit – auch für das erkennende Bewusstsein – verbunden sind. Das ist der Weg, auf den Arendt und Kertész hinweisen und den Ruth Klüger, die Auschwitz überlebt hat, so formuliert: "Wer mitfühlen, mitdenken will, braucht Deutungen des Geschehens. Das Geschehen allein genügt nicht." Dem Geschehen eine der historischen Erfahrung abgerungene Bedeutung zu geben, gehört selbst zum historischen Denken und heißt gerade nicht, Geschichte vom Heute her zu übermächtigen – auch wenn die Fragen, die wir an die Vergangenheit stellen, vom Heute her kommen.

Die so gewonnene Bedeutung ist gewiss auch eine Konstruktion, aber keine von Überlieferung, Quellenkritik und methodischer Triftigkeit abgekoppelte, freihändige. Die Erinnerungen Überlebender können sie instruieren, auch wenn sie kontextualisierend und perspektivisch darüber hinausgeht. Man kann diese Konstruktion als Sinnbildung verstehen, sie ist aber weit mehr Desillusionierung und Hinterfragen von Sinn. In didaktischer Hinsicht steht eine solche Form der historischen Bedeutung – um es altmodisch zu formulieren – weniger für ein unmittelbares Lernziel, sondern vielmehr für die Überwindung eines – überdies leicht instrumentalisierbaren oder ratlos machenden – erkenntnisarmen Positivismus des Grauens. Anders gesagt: Sie ist Gegenstand und Ausgangspunkt für historisches Lernen als bewusste Selbstbeunruhigung. Ich komme darauf zurück.

Ende der Gewissheiten

Hannah Arendt hat früh auch darauf hingewiesen, dass das historisch Neue der Shoah in der Zwecklosigkeit des Mordens besteht. Einen Zweck erfüllte dies Projekt nur in der Perspektive des gesellschaftsbiologischen Paradigmas des Nationalsozialismus, seines Rassismus und Erlösungsantisemitismus, nicht aber im Horizont tradierter und lebensweltlich verankerter (Zweck-)Rationalität. Menschen wurden nicht nur grundlos, nicht nur wegen ihrer Abstammung aus jedem Lebensrecht verstoßen. Die Widersinnigkeit des Genozids bestand auch in der Vernichtung dringend benötigter Arbeitskraft und in der Bindung kriegswichtiger Ressourcen. Den Deutschen nützlich zu sein – etwa durch Zwangsarbeit in den Ghettos – rettete nicht. Die kulturselbstverständliche Gewissheit, dass Zweckrationalität das Äußerste verhindert, wurde vielmehr von den Nationalsozialisten für die reibungslose Abwicklung des Mordens funktionalisiert.

Das alles ist hinlänglich und tiefenscharf beschrieben. Weniger deutlich machen wir uns, welche Folgen es hat, wenn – nachdem Geschichte schon kein erlösendes Telos mehr hat – auch keine verlässlichen Begrenzungen von Gegenmenschlichkeit mehr angenommen werden können. Denn diese bestanden doch gerade in der Überzeugung, dass Gewalt durch das Interesse von Staaten, von Tätern an zweckrationaler Ausbeutung und an Selbsterhaltung, das heißt, sich durch ihr Handeln nicht mit in den Abgrund zu reißen, von selbst begrenzt wird. Karl Jaspers Begriff der metaphysischen Schuld aufgreifend, ließe sich sagen, dass der Nationalsozialismus nicht nur unter Beweis gestellt hat, dass die absolute Zerschlagung der Grundsolidarität mit dem Menschen als Mensch möglich ist, sondern selbst der "Solidarität", die aufs schiere Kalkül herabgekommen ist.

Unannehmbare Geschichte ist in dieser Hinsicht gleichsam doppelt unsicher gewordene Geschichte. So wie sie kein Ziel hat, hat sie auch keinen Boden. Das mag in geschichtswissenschaftlicher Perspektive kaum von Belang erscheinen. Denn für den forschenden Blick gibt es nur Vergangenheiten als solche. Für lebensweltliche Selbst- und Weltgewissheit – und historisches Lernen hat damit elementar zu tun – ist dies aber erheblich. Ich denke, wir vergessen in unserer umtriebigen Erinnerungskultur zu oft, welche Zumutungen wir eigentlich zum Thema machen und dass diese Zumutungen sich weder durch Abstandserklärungen in Bezug auf die Vergangenheit noch durch Normalitätserklärungen in Bezug auf die Gegenwart auflösen lassen. Beide sollten vielmehr daraufhin befragt werden, inwieweit sie nicht auch Symptome für das kulturelle Unbewusstmachen unannehmbarer Geschichte und ihrer Virulenz sind.

Bewusste Selbstbeunruhigung

Zum Schluss möchte ich einige didaktische Konsequenzen andeuten. Bewusste Selbstbeunruhigung an historischer Erfahrung hat mit einer Erziehung durch Schrecken, hat mit Schockpädagogik nichts zu tun. Sie nimmt aber ernst und überspielt nicht, dass das mit der nationalsozialistischen Geschichte verbundene Beunruhigende nicht abgeschlossen ist und zudem den Gegenstand des Lernens trifft: nämlich die Geschichte und unsere vorreflexiven, im Alltagsbewusstsein verankerten Vorstellungen und Erwartungen an sie und ihren Gang. Ebenso nimmt sie das Gewordensein unannehmbarer Geschichte ernst sowie die Möglichkeit, ihre Entstehung, Wirkung und fortdauernde Relevanz empirisch gehaltvoll und konkret kleinzuarbeiten und so auf Gegenwart bezogen zu begreifen. Sie hilft etwa, zu begreifen, dass die Zerstörung der Institutionen friedlicher Konfliktaustragung in der Gesellschaft – von der demokratischen Gewaltenteilung bis hin zu den Bürgerrechten – und die Durchsetzung eines rassistischen Menschenbildes und Gesellschaftskonzepts nicht Harmonie und Gerechtigkeit schaffen, sondern fortwährend Gewalt erzeugen. Ebenso wird begreifbar, dass der Einzelne durch Mittel der Moderne – wie bürokratische Organisation und Arbeitsteilung – gleichsam mit ruhigem Gewissen an Unrecht und (Massen-)Mord beteiligt sein kann.

Hingegen versperrt das konkrete, nicht aufs Illustrative verkürzte historische Kleinarbeiten den rein normativen Übersprung in Moral-, Demokratie- oder Menschenrechtspädagogik. Nicht, dass ich solche Konzepte grundsätzlich verwerfen wollte, aber sie verkürzen den historischen Sachbezug und finalisieren Geschichte nachträglich. Außerdem gehört zur Normalitätserschütterung durch die nationalsozialistische Erfahrung, wie inaktiv das moralische Selbstbewusstsein geblieben ist, wie schnell Gerechtigkeitsgefühl und moralisches Empfinden erodierten; nicht nur in einzelnen Fällen, sondern als dominierende Erfahrung und in Bezug auf ganz normale Menschen. Gleichsam mit Kant ein in jedes Menschen Herz angelegtes, mit der Vernunft natürlich verschwistertes Moralgefühl wachrütteln zu wollen, greift deshalb zu kurz.

Solche Konzepte und Formen des historischen Erinnerns in der Gesellschaft greifen auch deshalb zu kurz, weil zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus gehört, dass Gerechtigkeit gegenüber den Opfern nur eingeschränkt hergestellt worden ist. Selbst wenn man hier ein "immerhin" hinzufügt, bleibt noch der bedachteste und unaufdringlichste Appell an das Moralgefühl im Licht der Geschichte ambivalent. Nimmt man dies ernst, liegt es nahe, nicht (normativ) moralischen Altruismus zum Ausgangspunkt und Ziel des historischen Lernens aus unannehmbarer Geschichte zu machen, sondern Egoismus – im Sinne einer auch lebensweltlich nachvollziehbaren, historisch begründeten Sorge um sich selbst. Diese setzt nicht auf einen zu aktivierenden Willen zum Guten, sondern stattdessen auf interessengeleitete Einsichtsfähigkeit. Ich meine zum Beispiel die Einsicht, dass Rassismus letztlich willkürlich ist. Da er sich sachlich nicht begründen lässt, kann potenziell jeder und jede Gruppe sein Ziel werden – das war schon Theodor W. Adornos letztes, vortheoretisches, nicht auf Vernunft, sondern auf die Abscheu des Leibes "vor dem unerträglichen Schmerz" setzendes Argument: "Nur im ungeschminkt materialistischen Argument überlebt die Moral." Ohne die Grundsolidarität mit dem Menschen als Mensch, ohne das, was Jean Améry Urvertrauen genannt hat, kann letztlich kein Mensch sicher leben.

Bewusste Selbstbeunruhigung an historischer Erfahrung ist vor diesem Hintergrund nicht pathetisch. Sie ist lakonisch, sie ist detektivisch und fragt nach der politischen und gesellschaftlichen Verursachung von Gegenmenschlichkeit. Sie liefert keine Erst- und keine Letztbegründungen für politische und gesellschaftliche Strukturen und Institutionen, für Werte. Sie kann sie aber plausibilisieren. Das Eintreten für die Etablierung und die Geltung der Menschenrechte etwa erscheint dann nicht als rein normative Praxis mit universellem, hegemonialem Anspruch, sondern als kulturübergreifend anschlussfähige Erfahrungsverarbeitung: Menschenrechte als rechtliche Kodifizierung und Tradierung historischer Erfahrung, auch unter den Bedingungen jeweiliger Gegenwart.

Ob und inwieweit historische Erfahrung Werte und die Einrichtung der Gesellschaft plausibilisieren kann, übersteigt pädagogische Konzepte und Methodik. An historische Erfahrung angeschlossene Normativität lebt nicht nur von der Vergangenheit, sondern auch von ihrer Geltung im Heute. Nur wenn sie im Heute praktisch zu Geltung kommen kann – und nicht nur als normative Rhetorik –, bleibt sie plausibel und mit dem Begreifen unannehmbarer Geschichte verbundene Beängstigung und Abwehr können sich auflösen statt umzuschlagen: in Zynismus, ethnische und kulturelle Hybris, die Regression auf das Recht des Stärkeren oder in die Enthistorisierung der Gegenwart. Die hier umrissene Form des historischen Begreifens unannehmbarer Geschichte öffnet sich transnational weniger über die Globalisierung der Holocausterinnerung als weltweiter Meistererzählung, auch wenn die Shoah universale Bedeutung hat. Vielmehr ist sie strukturell offen für und verbindbar mit allen Bestrebungen und Aktivitäten, das Unannehmbare in der je eigenen Geschichte selbstkritisch aufzuarbeiten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Hannah Arendt, Denktagebuch. 1950 bis 1973, 2 Bde., München–Zürich 2002, hier: Bd. 1, S. 7.

  2. Imre Kertész, Meine Rede über das Jahrhundert. Vortrag am Hamburger Institut für Sozialforschung, 14.5.1995, zit. nach: Sebastian Kleinschmidt (Hrsg.), Stimme und Spiegel. Fünf Jahrzehnte Sinn und Form, Eine Auswahl, Berlin 1998, S. 17.

  3. Vgl. Volkhard Knigge, Erinnerung oder Geschichtsbewusstsein? Warum Erinnerung allein in eine Sackgasse für historisch-politische Bildung führen muss, in: Stiftung Topographie des Terrors, Gedenkstättenrundbrief Nr. 172 (12/2013), S. 3–15.

  4. Die Formulierung geht zurück auf den Gründer des Chassidismus im 18. Jahrhundert Baal Schem Tov: "Vergessen verlängert das Exil, in der Erinnerung liegt das Geheimnis der Erlösung."

  5. Horst Köhler, Rede bei der Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa, 8.5.2005, Externer Link: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2005/05/20050508_Rede.html (10.12.2015).

  6. Norbert Lammert, Begrüßungsansprache am Tag des Gedenkens für die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag, 27.1.2015, Externer Link: http://www.bundestag.de/bundestag/praesidium/reden/2015/002/357470 (10.12.2015).

  7. Karl Jaspers, Die Schuldfrage, Heidelberg 1946; Erich Weniger, Neue Wege im Geschichtsunterricht, Frankfurt/M. 1949; Felix Messerschmid, Historische und politische Bildung, in: Neue Sammlung, 2 (1963), S. 12-34; Theodor Litt, Wege und Irrwege geschichtlichen Denkens, München 1948.

  8. Vgl. Friedrich J. Lucas, Der Beitrag des Geschichtsunterrichts zur politischen Bildung, in: Gesellschaft – Staat – Erziehung. Blätter für politische Bildung und Erziehung, 10 (1966), S. 381–395.

  9. Jean Améry, Die Zeit der Rehabilitierung. Das Dritte Reich und die geschichtliche Objektivität (1976), in: ders., Werke. Bd. 7: Aufsätze zur Politik und Zeitgeschichte, Stuttgart 2005, S. 92f.

  10. Vgl. Karl-Ernst Jeismann, Geschichtsbewusstsein, in: Hans Süssmuth (Hrsg.), Geschichtsdidaktische Positionen, Paderborn 1980, S. 179–219; Rolf Schörken, Geschichtsdidaktik und Geschichtsbewußtsein, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 23 (1972), S. 81–89.

  11. Vgl. dazu grundlegend: Reinhart Koselleck, Historia Magistra Vitae, in: ders., Vergangene Zukunft, Frankfurt/M. 1979, S. 38–66.

  12. Vgl. Jürgen Habermas, Aus der Geschichte lernen?, in: ders., Die Normalität einer Berliner Republik, Frankfurt/M. 1995, S. 9–17.

  13. Ruth Klüger, Weiter leben. Eine Jugend, München 1997 (1992), S. 128.

  14. Vgl. K. Jaspers (Anm. 7).

  15. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik (1966), zit. nach: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 6, Darmstadt 1998, S. 358.

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Dr. phil., geb. 1954; Professor für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der Universität Jena; Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, 99427 Weimar. vknigge@buchenwald.de