Welche moralischen Verpflichtungen sind an die ökonomische Transaktion der Geldleihe geknüpft? Muss man Schulden zurückbezahlen? In seinem vielbeachteten Buch "Schulden. Die ersten 5000 Jahre" argumentiert der Sozialanthropologe David Graeber, dass die obligatorische Rückzahlung von Schulden erst mit dem modernen Kapitalismus entstanden ist, und nennt von der griechischen Antike bis zum Londoner Schuldenabkommen 1953 eine Vielzahl historischer Beispiele für die Praxis des Schuldenschnitts.
Restschuldbefreiung gegen Redlichkeit
Die Verabschiedung der Insolvenzordnung (InsO) wurde als Meilenstein der Gesetzgebung gefeiert: Erstmals wurde in der Bundesrepublik ein Ausweg aus dem modernen Schuldturm geschaffen. Die beiden Hauptziele der neuen Rechtsordnung sind im ersten Paragrafen formuliert, nämlich erstens "die Gläubiger eines Schuldners gemeinschaftlich zu befriedigen, indem das Vermögen des Schuldners verwertet und der Erlös verteilt" wird. Darauf folgt das zweite Ziel: "Dem redlichen Schuldner wird Gelegenheit gegeben, sich von seinen restlichen Verbindlichkeiten zu befreien." (InsO §1) An die Schuldbefreiung wird die Auflage der Redlichkeit geknüpft – aber was genau konstituiert den "redlichen Schuldner" in den Augen der Gesetzgebung?
Die Kriterien und Nachweise für Redlichkeit setzen sich aus den Auflagen und Versagensgründen innerhalb des Insolvenzverfahrens zusammen. Zu den Auflagen gehört erstens, dass Schuldnerinnen und Schuldner bei Verfahrenseröffnung initiativ werden und dem Eigenantrag folgende Unterlagen zur Übersicht beilegen: eine Bescheinigung der Schuldnerberatung, dass eine außergerichtliche Einigung erfolglos geblieben ist, ein Vermögens-, Gläubiger- und Forderungsverzeichnis sowie einen Schuldenbereinigungsplan (InsO §305). Zweitens müssen Menschen im Insolvenzverfahren Willen zur aktiven Mitwirkung an der Schuldentilgung an den Tag legen: Sie unterliegen der Erwerbsobliegenheit, das heißt sie müssen bis zur Beendigung des Insolvenzverfahrens eine angemessene, also gegebenenfalls auch berufsfremde Erwerbstätigkeit oder Aushilfs- und Gelegenheitstätigkeit ausüben oder sich um eine solche bemühen und dürfen keine zumutbare Tätigkeit ablehnen (InsO §287b, §295). Weiterhin müssen sie ihr gesamtes pfändbares Vermögen und zukünftiges Kapital über die Pfändungsgrenze hinaus für Rückzahlungen zur Verfügung stellen. Eine dritte Auflage ist die Auskunftspflicht (InsO §97, §295), nach der ein Wechsel des Wohnsitzes oder der Beschäftigungsstelle mitgeteilt, Vermögensverhältnisse offengelegt und Auskunft über Erwerbstätigkeit, die Bezüge aus solcher oder über die Suche nach Erwerbstätigkeit gegeben werden müssen.
Die sogenannte Wohlverhaltensperiode, in der Schuldnerinnen und Schuldner ihre Redlichkeit unter Beweis stellen müssen, dauerte in der ersten Fassung der Insolvenzordnung sieben Jahre. Die Länge des Gesamtverfahrens wurde – und wird nach wie vor – kritisiert und im Zusammenhang mit Reformen immer wieder diskutiert. In der Tat zeigen diese Diskussionen Wirkung: Nach der ersten Reform wurde 2006 die Wohlverhaltensphase um ein Jahr auf sechs Jahre verkürzt, seit der Novellierung der Reform 2014 ist es möglich, die Wohlverhaltensperiode auch auf drei Jahre zu verkürzen.
Zum Vergleich: In den USA sieht das Insolvenzrecht eine sofortige Schuldenregulation und damit einen fresh start vor, sobald Schuldnerinnen und Schuldner sich aktenkundig für insolvent erklärt haben. In der Folge veräußern sie ihre gesamte Habe und entledigen sich im Gegenzug aller Schulden. In skandinavischen, französischen, niederländischen und belgischen Modellen wird die Redlichkeit zwar ebenfalls geprüft, das Verfahren ist jedoch deutlich kürzer – in Frankreich dauert es zum Beispiel zwischen sechs Monaten und zwei Jahren.
Im deutschen Insolvenzrecht hingegen legt die Gesetzgebung den Schwerpunkt darauf, den Durchhaltewillen als Voraussetzung für die Schuldbefreiung zu prüfen: Die Insolvenzordnung hat damit ein pädagogisches Ziel. Motivationen, den Zeitraum zu verkürzen, sind nicht vorgesehen, die Insolvenzordnung berücksichtigt keine Anreize für überobligatorische Zahlungsangebote des Schuldners wie Einmalzahlungen von Dritten oder Zahlungen aus dem unpfändbaren Einkommen. Konkret bedeutet das: Wer mehr bezahlt, gelangt nicht früher zur Restschuldbefreiung. Die deutsche Insolvenzordnung wirkt damit eher sozial disziplinierend als ökonomisch motivierend; zumal in der Praxis der gerichtlichen Insolvenzverfahren tatsächlich nur etwa 20 Prozent der Verfahren zu nennenswerten Zahlungen an die Gläubigerinnen und Gläubiger führen. Der Großteil der Verfahren sind damit Nullinsolvenzen mit einem rein pädagogischen Ziel. Aber selbst bei völliger Vermögenslosigkeit müssen Schuldnerinnen und Schuldner das aufwendige und personalintensive Verfahren durchlaufen, um sich aus ihrer Überschuldung zu befreien.
Der Verfahrensabschluss kann den Antragstellenden versagt bleiben, wenn sie wegen einer Straftat rechtskräftig verurteilt wurden, falsche Selbstauskünfte in einer Kreditsache machten sowie die Mitwirkungspflicht verletzten oder wenn ihnen in den vergangenen zehn Jahren vor Verfahrenseröffnung eine Restschuldbefreiung erteilt oder versagt wurde. Auch das Eingehen von unangemessenen Verbindlichkeiten oder die Verschwendung von Vermögen sind Gründe, das Verfahren einzustellen und den Antragstellenden Schuldbefreiung zu versagen (InsO §290). Die Restschuldbefreiung erfolgt nach einer letzten Anhörung aller Beteiligten. Zu diesem Zeitpunkt dürfen – bei erfüllten Auflagen – die Richterinnen und Richter die Restschuldbefreiung nicht mehr verweigern, sie haben also keinerlei Ermessensspielraum hinsichtlich der Laufzeiten oder der Gläubigerberücksichtigung.
Während in den USA oder in Großbritannien das Gericht befähigt ist, die Schulden mit sofortiger Wirkung zu erlassen (discharge), bleibt in Deutschland die Aussicht auf Restschuldbefreiung an den Verfahrensablauf gebunden. Das deutsche Recht verzichtet bewusst auf die Freiheit des anglo-amerikanischen Insolvenzsystems. Aus dem deutschen Auflagenkatalog resultiert vielmehr die Botschaft, dass Restschuldbefreiung kein richterlicher Gnadenakt ist, sondern dass ihr die Erfüllung von Auflagen vorauszugehen hat. So können sich Schuldnerinnen und Schuldner letztlich nur durch den Beweis ihrer Redlichkeit von ihren Schulden befreien.
Die Gründe für die Restschuldbefreiung sind schließlich festzuhalten, der Beschluss des Gerichts zu veröffentlichen. Die Wirkung der Restschuldbefreiung besteht dann in der Umwandlung von Restforderungen in unvollkommene Verbindlichkeiten. Das bedeutet, dass die Schulden juristisch weiterhin existent sind und durch die Schuldnerin oder den Schuldner eingelöst werden können, die Gläubigerinnen und Gläubiger ihre Forderungen aber nicht mehr mit staatlicher Hilfe durchsetzen können. Die Schulden bestehen also weiterhin, sind aber nicht mehr einklagbar.
Technologien der Schuld(en)vergebung
Der Nachweis der Selbstaktivierung, der Selbstauskunft, des Durchhaltewillens und der dauerhaften Bereitschaft zum Verzicht im Leben an der Pfändungsgrenze unterscheiden also nach Gesetzesgrundlage die redlichen von unredlichen Verschuldeten. Da der Redlichkeitsbeweis nicht anders angetreten werden kann als im Verfahren selbst, werden dessen Auflagen für die Schuldnerinnen und Schuldner zur moralischen Instanz ihrer Lebensführung. Gerade in der finanziellen und sozialen Krise der Verschuldung erfahren die normierten Regelungen der Lebensführung eine hohe Akzeptanz.
Einsicht und Reue, Handlungsinitiative und Bekenntnisbereitschaft sowie Verzicht und ökonomische Härte bilden also die gesetzlich verankerten und gesellschaftlich akzeptierten Leitplanken auf dem Weg aus den Schulden. Das Insolvenzverfahren wirkt damit selbstaktivierend und disziplinierend zugleich. Diese Regierungstechniken der Schuldbefreiung haben eine kulturhistorische Genese, die aufschlussreich für ihre Wirkmacht ist. Denn die Ordnung der Restschuldbefreiung weist auffällige Parallelen zu Formen der christlichen Sündenvergebung und zu Techniken der christlichen Pastoralmacht im Sinne Michel Foucaults auf.
Mit Pastoralmacht sind bei Foucault Selbsttechnologien gemeint, die dem Individuum Anerkennung und soziale Akzeptanz in Aussicht stellen, wenn es sich den gesellschaftlichen Verhältnissen unterwirft. Anders gesagt: Im Prozess der Subjektkonstitution oder Subjektivierung nimmt der Mensch gesellschaftliche Anforderungen als individuelle Bedürfnisse wahr und macht externe Leitungs- und Kontrollvorstellungen zu internen Ambitionen. Laut Foucault trugen und tragen diese christlich-religiösen Machttechniken in säkularisierter Form zur Herausbildung und Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft bei.
Die Vorstellung der Schuldbereinigung ist an zentraler Stelle im jüdisch-christlichen Glauben verankert. So lautet eine Bitte des Vaterunsers: "Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern." Die Verwandtschaft zwischen geistlicher und weltlicher Schuldvergebung reicht jedoch weiter: Die Langwierigkeit und Härte der Verfahrensdauer und der Verzicht auf volkswirtschaftlich sehr wohl zu begründende Anreize zur Verfahrenskürzung bilden strukturell einen Akt der Buße ab, der erst, wenn er in seinem vollen Umfang absolviert wurde, gültig und wirksam werden kann. Eine Motivation zur Verkürzung der Bußaufgaben wäre in diesem Sinne kontraproduktiv, da die Absolution erst erteilt werden kann, wenn die Buße in ihrer Gänze getan wurde. Weiterhin ist Bekenntnis in Form der Beichte ein zentraler Teil der katholischen Bußpraxis. Die Insolvenzordnung fordert ebenfalls eine Selbstauskunft als Teil der Schuldbereinigung. So müssen – wie bereits erwähnt – die Antragstellenden noch vor Eröffnung des Verfahrens ein Verzeichnis über Vermögensverhältnisse, Gläubiger und Forderungen sowie einen Schuldenbereinigungsplan erstellen und allen Beteiligten öffentlich machen (InsO §305). Restschuldbefreiung setzt also eine detaillierte Selbstveröffentlichung der Schuldverhältnisse voraus.
Das Schuldensubjekt und die Moral der Geschichte
Entscheidend ist bei Foucault für die These der Pastoraltechnik, dass sich das Subjekt im Akt der Versprachlichung nach diskursiven Regeln konstituiert. Das Reden über Schulden ist also gesellschaftlichen Erwartungen, Denkhaltungen und Wahrnehmungen angepasst, anders gesagt: In der erzählerischen Selbstdarstellung erfolgt eine Selbstherstellung nach den Regeln des hegemonialen Diskurses.
Wenn Menschen sich in Geschichten entwerfen, dann stellen biografische Planbrüche die Erzählenden vor narrative Herausforderungen: Wie kann man über die eigenen Schulden sprechen und dabei das Gesicht wahren? Die Antwort liegt in der Form, Funktion und Moral der Selbsterzählung. Mit der Verwendung sprachlicher Formen und narrativer Muster deuten die Erzählenden im Reden über Schulden ihre finanzielle Krise um und kompensieren so die Stigmatisierung und soziale Marginalisierung, die sie im Alltag erfahren. Die Schuldnerinnen und Schuldner machen also im Sprechen als sozialem Handeln ihr ökonomisches Handeln diskursfähig, also anschlussfähig an eine gesellschaftliche Norm.
In der narrativen Kompensation der Schuldenerfahrung wiederholen sich zwei Erzählstrategien. Die erste ist die Her- und Darstellung von Linearität in der Selbsterzählung. Damit wird die Verschuldungserfahrung zum sinnhaften Erlebnis. Ein Interviewbeispiel kann dies veranschaulichen: Die Befragte ist eine 28-jährige Studentin aus Münster. Nach ihrer Ausbildung zur Bürokauffrau verlor sie ihren Arbeitsplatz bei einer Spedition und begann ein Studium der Erziehungswissenschaften, das sie mit Krediten finanzierte. Zuvor hatte sie bei ihrer Hausbank bereits einen Konsumentenkredit für eine Wohnungseinrichtung aufgenommen, insgesamt ist die Studentin mit 45000 Euro verschuldet.
Interviewerin: "Und wofür war dann der zweite Kredit?"
Interviewte: "Ja, das war was anderes, das war ja dann, als ich schon wusste, was ich wollte – Also ich habe ja Bürokauffrau gelernt, aber irgendwie, obwohl es mir da gut gefallen hat, so von den Leuten her, da habe ich nach einer Weile schon gemerkt, das mir das nicht so reicht. Deshalb fand ich das gar nicht so schlimm, dass ich dann bei der Spedition gegangen wurde, ich wollte ja eh studieren. (…) Und bei der Beratung, da haben sie mir gesagt, dass ich Erziehungswissenschaften machen sollte mit dem Schwerpunkt Soziale Arbeit und das wär’s auch genau für mich. Und das habe ich ja angefangen, dann, aber das geht eben nicht so parallel, und dann fehlte für den Übergang kurzfristig schon das Geld. Da habe ich noch einen Konsumentenkredit aufgenommen und dann aber den Bildungskredit von der KfW. Das läuft so, dass ich Geld bekomme und die sind extrem flexibel und locker, das ist dann nicht nur für die Uni, sondern auch für alle Kosten, Miete, Klamotten, Urlaub, was man will, Bücher – Und ich habe es erst einmal gebraucht, dass ich nicht mehr arbeiten musste und ganz an die Uni gehen konnte und mich auf mein Studium konzentrieren. Dann konnte ich mich darauf auch anders einlassen. Und dann war es mir auch egal, dass ich wieder kein Geld hatte, das ist ja normal, am Anfang, da mache ich mir keinen Kopf. Schnäppchen machen und billig Leben gehört halt dazu, man wohnt wieder mit anderen zusammen, teilt sich den Kühlschrank und so."
Die gesamte Darstellung ihrer Verschuldung strukturiert die Studentin entlang eines kontinuierlichen Prozesses der Selbstverwirklichung, an dessen Ende sie sich als bildungsorientiert positioniert. Sie spricht in der Interviewsituation aktuell vom Standpunkt eines biografisch erfahrenen und kenntnisreichen erzählenden Ichs ("als ich schon wusste, was ich wollte") und grenzt sich so vom früheren erzählten Ich ab. Diesen autoepistemischen Prozess der Selbsterkenntnis und der Selbstverwirklichung ("das wär’s auch genau für mich") stellt sie in den Mittelpunkt ihrer Aussage. Zusätzliche Kohärenz verleiht sie ihrem biografischen Entwurf durch die Entschlossenheit und Konzentration, mit der sie ihr neues Ziel verfolgt ("ganz an die Uni gehen konnte und mich auf mein Studium konzentrieren").
In diesem Schema entfaltet der Moment der Entlassung ein sinnstiftendes Aktivierungspotenzial und macht gleichsam den Weg frei für ihre neue akademische Bestimmung. Die Formulierung des "Gegangen Werdens" ist über ihren Gehalt der lockeren Umgangssprachlichkeit hinaus aussagekräftig für die ambivalente Bewertung der Entlassung. Hierin ist das Verlaufsmuster des Übergangs von passivem Erleben zu aktiver Gestaltung festgehalten, die als zweite narrative Strategie der Schuldenkompensation gelten kann. Die Interviewpartnerin macht sich durch diese Wortwahl handlungsfähig, denn trotz der Passivkonstruktion impliziert das Wort "Gehen" eine Form der Selbstbestimmung, die semantisch im Wort "Entlassung" nicht enthalten ist. Dieses Anliegen der Autonomie wiederholt sie in der Beschreibung der Kreditkonditionen der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), die keine Vorgaben für die Geldverwendung macht, vielmehr könne man machen, "was man will". Handlungsmacht ist gerade in der Situation, in der die Verschuldeten kaum noch Spielraum in ihrem Konsum- und Freizeitverhalten haben, eine wichtige Dimension der Selbstwahrnehmung, die wiederholt narrativ hergestellt wird.
Der Weg aus der Schuldenkrise verläuft also über die narrative Umdeutung der Verschuldungserfahrung. Obwohl er alltagspraktisch mit biografischen Rückschritten einhergeht ("man wohnt wieder mit anderen zusammen, teilt sich den Kühlschrank"), rahmt die Interviewte diese Situation als Station auf einem kontinuierlichen Weg der Selbstfindung. In der Logik der Selbstfindung erscheint auch ein Studienfachwechsel, den sie später unternimmt, nicht als Diskontinuität, sondern als ein logischer Schritt in der Interessen- und Selbstverwirklichung. Sie begründet dies mit den Kreditregeln der KfW: "Einmal darfst Du ja auch das Fach wechseln. Weil, da sind die flexibel, solange man das begründen kann, ist es im Rahmen." Der KfW-Rahmen wird zu ihrem eigenen, sie internalisiert die Regulationen als Gradmesser für die Angemessenheit ihrer Entscheidung. Die möglichen Konsequenzen sieht sie nicht als prekär an und "macht sich keinen Kopf", denn "am Anfang" sei es ja "egal", ja sogar "normal", kein Geld zu haben gehöre "halt dazu". Die verstärkenden Partikel "halt" sowie das unpersönliche "man" verweisen auf eine Handlungsorientierung an einem angenommenen Kollektiv mit sozialen Normen. Die Bezugnahme auf dieses Kollektiv wirkt integrierend: Die Studentin weiß sich in Gesellschaft und fühlt sich in ihrer Schuldenkrise weniger exponiert.
Die finanzielle Krise lässt sich also durch eine sprachliche Gestaltung, nach welcher der Zustand der Erschütterung und des Chaos narrativ geordnet wird, zähmen und bewältigen. Der Krisengeschichte wird dabei ein logischer Ablauf unterstellt, der aus dem Standpunkt der Gegenwart Verunsicherung und Ungewissheit der Vergangenheit zuordnet und für die Zukunft Klärung bereithält. Mit diesem Handlungsverlauf ist ein Akt der Sinnstiftung verknüpft. Die Krise wird zum sinnhaften Moment und zur Chance, weil auf sie Läuterung, Konversion und Ordnung folgen und die Akteurin handlungsmächtig und selbstbestimmt aus ihr hervorgeht.
Ihre Überzeugungskraft erhält die Schuldengeschichte sowohl auf formalsprachlicher Ebene – "man" versus "ich" – als auch im erfolgreichen Einsatz eines Erzählmusters. Die Studentin greift die Erzählstruktur der Bildungsgeschichte mit einem Läuterungsmoment auf und schildert ihre Erfahrungen entlang eines Prozesses der Selbsterkenntnis. Mit diesem kulturell etablierten Erzählmuster lädt sie ihre Biografie mit Sinn auf: Dadurch, dass sie sich jetzt als selbstverwirklicht, handlungsfähig und eigenverantwortlich erzählt, nimmt sie den guten Ausgang der Geschichte vorweg.
Andere Befragte wiederum vertreten im Erzählmuster des Underdogs eine systemkritische Haltung zu Kapitalismus und Finanzwesen: David gewinnt gegen Goliath, weil er klug eine einfache Waffe gegen den Riesen wählt und im Kampf den Mut und Glauben an sich selbst nicht verliert. In der erzählerischen Aneignung dieses Motivs stellen sich Verschuldete gegen Großbanken, Konzerne und den Staat und wissen sich dabei auf der moralisch richtigen Seite, die sie aus der kulturellen Akzeptanz des Musters ableiten. Die Erzählung entfaltet so Möglichkeiten, zu denen die Schuldensubjekte aufgrund ihrer finanziellen Deprivation kaum Zugang haben. Narrativ aber entwickeln sie Handlungswirksamkeit, indem sie wie hier auf die Pluralität von Lesarten hinweisen, vielfältige Evaluationen bereitstellen und damit dominante Positionen hinterfragen. So können Erzählende die Knappheit von Ressourcen in eine Wertschöpfung des Selbst umdeuten. Der Schlüssel dazu liegt in der Moral der Geschichte und damit im Erzählen als einer kulturellen Leistung.
Die diskursiven Leitbilder, die den sprachlichen Habitus der Entschuldung bestimmen, knüpfen an die Vorstellungen von Redlichkeit und Schuldbefreiung der Insolvenzordnung an. Auch die mediale Darstellung des Umgangs mit Schulden – das bekannteste Beispiel ist sicherlich die RTL-Sendung "Raus aus den Schulden" – schärfen ihrem Publikum ein, dass der Weg zur Schuldbefreiung nur über die Akzeptanz der eigenen Verantwortung, über die Offenlegung der Schuldverhältnisse – man denke an Peter Zwegats Flipchart – und über die ausdauernde Bereitschaft zum Verzicht führt. Als Bedingungen für die finanzielle Entschuldung schreiben sich diese Regulationsmodi in die Selbstanforderungen der Schuldnerinnen und Schuldner ein. Der medial aufbereitete normative Charakter des Gesetzes wird in den Bedingungen der Restschuldbefreiung zur moralischen Instanz und bestimmt die narrative Umdeutung und Neubewertung der ökonomischen Krise. Dies ist nur möglich, weil eine Selbstpositionierung als handlungsfähig zugleich Anschlussfähigkeit an eine gesellschaftliche Normalität und ihre hegemonialen Diskurse bedeutet. Die Konversions-, Bildungs- und Underdoggeschichten fungieren also nicht zuletzt als Integrationsversprechen.
Dieses Versprechen gibt es aber nicht umsonst, die moralische Aufwertung von Handlungswirksamkeit im Umgang mit Schulden führt nämlich in ihrer Konsequenz in ein für die Akteurinnen und Akteure fatales neoliberales Schulden- und Schuldverständnis.