Austeritätspolitik ist nicht neu. In Großbritannien verstand man darunter beispielsweise den Konsumverzicht und die Rationierungen während des Zweiten Weltkrieges. Über deren Notwendigkeit herrschte Einigkeit in der britischen Gesellschaft und Politik. Strittig wurde die Austeritätspolitik, als ausgerechnet eine dem Ausbau des Wohlfahrtsstaates verpflichtete Regierung unter der Führung der sozialdemokratischen Labour Party diese Politik nach dem Krieg fortführte.
Wie wir es auch heute beobachten können, hatte diese wirtschaftspolitische Strategie soziale und parteipolitische Folgen. Während die Konservative Partei im Vereinigten Königreich die staatliche Kontrolle des gesellschaftlichen Konsums kritisierte, sahen die führenden Köpfe der Labour Party im zeitweiligen Konsumverzicht den Weg zum Sozialismus. Dabei argumentierten sie mit dem Vorbild der Sowjetunion, die durch erzwungenen Konsumverzicht das Land industrialisiert habe.
In jüngster Zeit war im Zusammenhang mit der Staatsschuldenkrise in den EU-Ländern wieder verstärkt von haushaltspolitischer Austerität die Rede. Im Vereinigten Königreich entwickelten die Regierungen und die wichtigsten Parteien den Ehrgeiz, in der Sparpolitik besonders erfolgreich zu sein; griechische Regierungen – um ein anderes Extrem zu nennen – argumentierten hingegen, dass Austeritätspolitik ihr Land überfordere.
Definiert man Austeritätspolitik als Sparpolitik mit dem Hauptziel, das Primärdefizit zu beherrschen,
Interpretationen und Begründungen von Austeritätspolitik
Austeritätspolitik findet ihre Begründung nicht in einem eigenen Politikfeld. Sie ist vielmehr ein Instrument zum Erreichen eines bestimmten Zwecks. Die Deutungen von Austeritätspolitik unterscheiden sich hinsichtlich der ihr unterstellten weitergehenden Ziele.
Am weitesten verbreitet ist wohl die These, Austerität ergebe sich aus der Logik des Neoliberalismus. Dieser leugne den Zusammenhang zwischen der von den Banken verursachten Finanzkrise seit 2008 und der Staatsschuldenkrise, die von den Kosten der Bewältigung der Bankenkrise mitverursacht wurde. Vielmehr werde aus neoliberaler Perspektive argumentiert, dass die Haushaltsprobleme der EU-Staaten dadurch entstanden seien, dass die Bürgerinnen und Bürger in den Krisenländern über ihre Verhältnisse gelebt haben. Um die Haushaltsprobleme zu überwinden, müssten alle mithelfen und Einschnitte bei ihren Einkommen, vor allem aber bei den Leistungen des Sozialstaates mittragen. Das bedeute, dass faktisch ein Umverteilungsprozess von Arm zu Reich stattfindet, weil die Besitzenden über die politischen und ökonomischen Möglichkeiten verfügen, die Kosten der Krise auf die Besitzärmeren abzuschieben, deren Lebensstandard weit mehr vom Sozialstaat abhängt.
Tatsächlich wuchs in den EU-Krisenländern während der Austeritätspolitik der Anteil der armutsgefährdeten Personen nach Sozialleistungen, legt man die EU-Definition zugrunde (weniger als 60 Prozent des Median-Einkommens).
Kritiker der Austeritätspolitik halten dieser auch vor, nicht nur ungerecht, sondern auch überflüssig zu sein, weil sie kein Wirtschaftswachstum ermögliche.
Sparpolitik kann aber nicht nur als Enteignung der Armen verstanden werden, sondern auch als Belohnung der Tugendhaften. Hier steht die Überlegung im Vordergrund, dass ein Staat auf Dauer nicht mehr ausgeben kann, als er einnimmt. Die Analogie zu privaten Haushalten wird bemüht, von den Gegnern der Austeritätspolitik aber heftig abgelehnt. Aus ihrer Sicht werde damit die fundamentale Einsicht keynesianischer Wirtschaftspolitik missachtet, dass in Zeiten einer Krise und ausfallender privater Nachfrage der Staat die Aufgabe habe, diese Nachfrage zu ersetzen, um die Wirtschaft zu stützen. Ob solche Überlegungen zur Konjunkturpolitik ein Patentrezept für die Überwindung struktureller Defizite in den heutigen Krisenstaaten der EU sind, etwa das Fehlen einer funktionierenden Steuererfassung in Griechenland oder der Einfluss der organisierten Kriminalität in Süditalien, mag bezweifelt werden.
Strukturelle Defizite erfordern eine Auseinandersetzung mit den grundlegenden gesellschaftlichen und ökonomischen Problemen eines Landes, Konjunkturprogramme laufen hier ins Leere. Gehört ein Land der Eurozone an, lassen sich strukturelle Defizite, wenn sie zu wirtschaftlichen Problemen führen, nicht mehr durch eine Währungsabwertung auffangen, die qualitativ schlechtere Produkte über den Preis wieder konkurrenzfähig macht. Eine Abwertung des Euro leistet hier zwar Schützenhilfe außerhalb des Euroraums, von der nach innen aber die wettbewerbsstärksten Länder am meisten profitieren. Wettbewerbsfähigkeit hat zwei Säulen, die nicht unmittelbar durch politische Entscheidungen beeinflussbar sind: zum einen die Produktivität einer Volkswirtschaft – fehlt diese, helfen auch Subventionen nicht, sie werden im Gegenteil zu reinen Erhaltungsmaßnahmen auf Kosten von Wettbewerbern; zum anderen die Innovationskraft eines Landes.
In der EU führte die moralisch-realpolitische Sichtweise von Austerität zu der Wahrnehmung einer Spaltung zwischen Nord- und Südeuropa. Den Südeuropäern wird vorgehalten, sie seien nicht zu einer Gemeinschaftsanstrengung zur Stabilisierung der europäischen Wirtschaft und Währung bereit, seien also – anders als die Nordeuropäer – unsolidarisch und lehnten, trotz vertraglicher Verpflichtungen und Selbstverschulden, die nötigen Opfer für eine bessere europäische Zukunft ab. Damit werde die Finanzierung der Krisenlasten auf diejenigen Staaten verschoben, die seriös haushalten. Diese Debatte ist in der EU noch nicht zu Ende. Es wird von Bemühungen des Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker und führender europäischer Sozialdemokraten berichtet, den Stabilitäts- und Wachstumspakt aufzuweichen, um neue Staatsverschuldung zu erleichtern.
Eine weitere These sieht in der Austeritätspolitik eine Voraussetzung für nachhaltiges Wirtschaften, das künftigen Generationen keine immensen finanziellen Altlasten aufbürdet. Wenn jede Generation für ihre Verpflichtungen einstehen soll, sei beim erreichten Stand der Staatsverschuldung der heutigen Generation zuzumuten, Grenzen der Ausgabenpolitik anzuerkennen. Die Idee, aus nationalen Haushaltsproblemen durch Vergemeinschaftung europäische zu machen, um die Schärfe sozialer Einschnitte für einzelne EU-Mitglieder abzufedern, findet bei den ökonomisch bessergestellten EU-Mitgliedstaaten naturgemäß weniger Unterstützung. Orientiert man Nachhaltigkeitspolitik am Erreichen des Maastricht-Kriteriums für die Gesamtverschuldung von Staaten von 60 Prozent des BIP im Jahr 2030, so müsste beispielsweise Griechenland nach heutigen Schätzungen sein Primärdefizit jährlich um 11 Prozentpunkte des BIP verringern. Für Belgien wären es 8,2 Prozentpunkte, für Zypern 7,5, für Frankreich 7,3, für das Vereinigte Königreich 6,9, für Spanien 6,6, für Portugal und Italien 5,7 Prozentpunkte und für Deutschland 1,3 Prozentpunkte.
Politische und gesellschaftliche Folgen der Austeritätspolitik
Die EU-Krisenstaaten begegneten der Herausforderung, ihre Wirtschafts- und Sozialsysteme im Zuge der Austeritätspolitik zu verändern, auf unterschiedliche Art – analog zu den unterschiedlichen Ursachen ihrer wirtschaftlichen Probleme. Auch ihre Gesellschaften reagierten jeweils anders auf die Auswirkungen der Austeritätspolitik. Die Reaktionen reichten von heftiger Ablehnung der "Fremdherrschaft" der sogenannten Troika aus Europäischer Zentralbank (EZB), IWF und EU-Kommission bis zu der Einsicht, dass es gelte, für selbstverschuldete Fehler eine Lösung zu finden. Solche öffentlichen Diskurse prägten ein Meinungsklima, das sich auch bei Wahlen und im Parteiensystem niederschlug. Verallgemeinernd lässt sich feststellen, dass die Ablehnung der Austeritätspolitik in den Bevölkerungen politische Erfolge von Randparteien und neuen populistischen Parteien erleichterte, die trotz der eigentlich unabweisbaren Notwendigkeit von Einsparungen und Strukturreformen des Sozialstaates den Erhalt und Ausbau des Wohlfahrtsstaates versprachen. Dieses Versprechen speiste sich aus der Definition einer Opferrolle für das eigene Land, wobei in Südeuropa in der öffentlichen Meinung inzwischen ein gewisser Konsens über die schädlichen Wirkungen eines angeblichen deutschen Diktats vorherrscht, während linke Parteien gleichzeitig Austerität als eine Politik der Bankenrettung und des Abbaus sozialer Errungenschaften geißeln.
Austeritätspolitik hat in der Regel mehr als eine Ursache (Tabelle 1). Als politisch entscheidend hat sich die Unterscheidung herausgestellt, ob Lösungen im Kontext der Austeritätspolitik von außen, beispielsweise als konkrete Bedingungen für die Inanspruchnahme der europäischen Rettungsschirme und anderer Hilfen, an die EU-Krisenstaaten herangetragen wurden, oder ob sie durch eigene Anstrengungen gefunden wurden.
Von den Ländern, die von 2010 bis 2015 Gelder aus den europäischen Rettungsschirmen erhielten, war nur in Irland die Kritik an den somit eingegangen Einsparverpflichtungen eine Minderheitsmeinung. Für viele Irinnen und Iren war die Vorstellung, sich den Anforderungen des freien Marktes und der Haushaltskonsolidierung zu stellen, trotz sozialer Härten nicht bedrohlich, sondern mit der Erinnerung an die vergangenen wirtschaftlichen Erfolge des Landes verbunden.
Sowohl in Großbritannien als auch in Griechenland war im Kontext der Haushaltspolitik die Hauptsorge, das Haushaltsdefizit nicht mehr beherrschen zu können. Während sich im Vereinigten Königreich ein Allparteienkonsens für entsprechende Sparmaßnahmen fand und findet,
Die Bankenrettung nach der Finanzkrise 2008 zwang selbst streng marktwirtschaftlich orientierte Regierungen wie die britische oder die irische zu weitreichenden finanziellen Verpflichtungen bis hin zur Übernahme maroder Banken, um das Funktionieren der Volkswirtschaften zu garantieren. Im Vereinigten Königreich war das Haushaltsdefizit aber nicht allein die Folge der Bankenrettung, sondern auch eines wirtschaftlichen Einbruchs und fehlender Haushaltsdisziplin in den letzten Jahren der Labour-Regierungen.
Tabelle 2: (Partei-)Politische Auswirkungen der Austeritätspolitik (© bpb)
Tabelle 2: (Partei-)Politische Auswirkungen der Austeritätspolitik (© bpb)
Die Finanzmärkte verloren aber nicht nur Vertrauen in jene Staaten, die offensichtlich Schwierigkeiten hatten, ihre Haushalte zu stabilisieren. Als problematisch erwiesen sich auch Länder, die "über ihre Verhältnisse leben", in denen also der erreichte Lebensstandard nicht mehr der Wirtschaftsleistung entspricht. Griechenland war schon vor der Finanzkrise nicht fähig gewesen, die sogenannten Konvergenzkriterien für die Einführung des Euro einzuhalten.
Kein Staat war völlig resistent gegen parteipolitische Folgen der Austeritätspolitik (Tabelle 2). In Großbritannien, Portugal,
Die politische Polarisierung entlang des Themas Austerität ist weit stärker in jenen Ländern, in denen bisherige Randparteien mit unterschiedlichem Erfolg versuchen, sozialen Protest zu bündeln. In Italien etwa steht die Demokratische Partei inzwischen fast alleine und zum Teil auch zögerlich für eine wirtschaftliche Reformpolitik. Alle wichtigen Oppositionsparteien – die Fünf-Sterne-Bewegung Cinque Stelle als quasi neue Partei, die Lega Nord sowie die Restbestände der dem ehemaligen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi noch folgenden Gruppierungen – eint inhaltlich, wenn auch nicht organisatorisch, die Ablehnung der Austeritätspolitik und zum Teil auch der EU. In Italien schien sich anfangs noch die Möglichkeit abzuzeichnen, Austeritätspolitik als nationale Anstrengung zu begreifen, um das Land voranzubringen. Die 2011 gebildete Technokratenregierung unter Mario Monti war jedoch gerade einmal ein Jahr im Amt. Der wiedereinsetzende Parteienwettbewerb orientierte sich rasch am Populären, wozu auch zählt, die Verantwortung für wirtschaftliche und soziale Probleme Europa zuzuschieben.
Eine schwächere Rolle als Anti-Austeritätspartei spielt Sinn Féin in Irland. Zwar hatte die Immobilien- und Bankenkrise einen Regierungswechsel zur Folge. Die Fianna Fáil/Grüne-Koalition wurde 2012 abgelöst von einer Fianna Gael/Labour-Koalition. Die stärkste Regierungspartei wurde für die Krise des Landes verantwortlich gemacht. Für Sinn Féin reichte ihre ablehnende Haltung zur Austerität nur zu geringen wahlpolitischen Erfolgen, was angesichts der erwähnten gesellschaftlichen Unterstützung in der irischen Gesellschaft für Einsparungen bei staatlichen Leistungen nicht erstaunt.
Frankreich ist insofern ein etwas untypischer Fall, als der Aufstieg des Front National nicht in erster Linie einem an Austerität ausgerichteten Populismus zu verdanken ist. Der Front National konnte allerdings von den Enttäuschungen profitieren, die die Sozialistische Partei provozierte, nachdem sie 2010 mit einem Anti-Austeritätsprogramm die Wahlen gewonnen hatte. Weder gelang der wirtschaftliche Aufschwung, noch konnte die Partei ihrer Ablehnung des Abbaus sozialer Errungenschaften gerecht werden. 2014 traten Premierminister und Wirtschaftsminister zurück, womit auch der Einfluss des linken, austeritätskritischen Flügels der Partei geschwächt wurde. Der neue Premierminister Manuel Valls nähert sich einigen Aspekten sozialer Reformpolitik an, eingedenk des innerparteilichen Widerstands jedoch zögerlich.
In Griechenland waren von Beginn der Austeritätspolitik an die Zweifel in der Bevölkerung groß, ob diese erforderlich sei.
Fazit
Austeritätspolitik ist auch Gesellschafts- und Parteipolitik. Sie wird aus unterschiedlichen Gründen als alternativlos präsentiert. Ihre Akzeptanz variiert je nach wirtschaftlicher Ausgangslage und wirtschaftspolitischem Grundkonsens einer Gesellschaft. Fehlt die Akzeptanz, sind Veränderungen in nationalen Parteiensystemen möglich, angefangen von innerparteilichen Schismen über das Erstarken von Randparteien bis hin zu erfolgreichen Parteineugründungen.