Die Europäische Union steckt in einer tiefen Krise, vermutlich der tiefsten in ihrer Geschichte, das ist weitgehend unumstritten. Die Eurokrise und die Flüchtlingskrise stellen zwei Kernprojekte und Aushängeschilder der europäischen Integration infrage: den Euro und Schengen, also die gemeinsame europäische Währung und die offenen Binnengrenzen. In der Eurokrise drohte der Staatsbankrott mehrerer Euroländer, ihr Ausscheiden aus dem gemeinsamen Währungsraum und vielleicht das Ende des Euro überhaupt. Auch wenn der "Grexit" in dramatischen Verhandlungen im Sommer 2015 verhindert wurde, bleibt die Währungsunion mit großen Unsicherheiten behaftet. Kurz darauf brach das europäische Asylregime unter dem Druck der Fluchtbewegungen aus dem Vorderen Orient zusammen; in nationalen Alleingängen richteten Staaten im Schengen-Raum neue Grenzkontrollen ein und schoben das Flüchtlingsproblem auf ihre Nachbarländer ab. Schließlich steht die Volksabstimmung über den Verbleib Großbritanniens in der EU vor der Tür. Ein "Brexit" würde weitere Integrationsfelder – den Binnenmarkt und die Außen- und Sicherheitspolitik der EU – deutlich schwächen.
Die Krise der EU wirft grundsätzliche Konflikte und Debatten über die Richtung, die Möglichkeiten und die Grenzen der europäischen Integration auf, die sich vereinfacht als Alternativen zwischen "mehr Europa" und "weniger Europa" darstellen lassen. Empirisch betrachtet: Erweist sich die EU als widerstandsfähig und krisenstabil, und sehen wir als Ergebnis der Krise sogar eine Vertiefung der europäischen Integration? Oder führt die Krise zu einem Bedeutungs- und Kompetenzverlust der europäischen Institutionen und zu einer Renationalisierung der europäischen Politik? Präskriptiv gesprochen: Soll Europa in der Krise mit der Integration voranschreiten? Braucht es mehr Europa, um Stabilität wiederherzustellen? Und wenn ja, wie soll dieses "Mehr" aussehen? Oder zeigt die Krise nicht vielmehr, dass die europäische Integration zu schnell und zu weit gegangen ist und daher "weniger Europa" angesagt wäre?
In diesem Beitrag beschränke ich mich auf die Eurokrise und ihre Folgen. Auch wenn die Flüchtlingskrise ähnliche Fragen aufwirft, ist sie noch zu neu und zu sehr im Fluss, um empirische Fragen beantworten zu können. Zunächst stelle ich drei integrationstheoretische Perspektiven vor: Intergouvernementalismus, Neofunktionalismus und Postfunktionalismus. Sie vertreten unterschiedliche Auffassungen darüber, unter welchen Bedingungen es zu mehr oder weniger Europa kommt. Dann gehe ich der Frage nach, welche dieser theoretischen Perspektiven den Prozess und das Ergebnis der Eurokrise am besten zu erklären vermag. Meine These ist, dass wir als Ergebnis der Eurokrise trotz massiver Politisierung und trotz eines regierungsdominierten Krisenmanagements deutlich "mehr Europa" sehen. Dies entspricht den Erwartungen des Neofunktionalismus. Abschließend zeichne ich die wesentlichen Positionen in der Debatte über die Zukunft der europäischen Integration nach, die sich nicht nur in der Dimension "mehr oder weniger Europa", sondern auch in der politischen Links-Rechts-Dimension unterscheiden.
Integrationstheoretische Perspektiven
Aktuelle Theorien der europäischen Integration unterscheiden sich in ihren Antworten auf zwei Kernfragen: Geschieht und verbleibt die europäische Integration im Interesse und unter Kontrolle der Nationalstaaten und ihrer Regierungen? Oder löst die Integration eine Eigendynamik aus, die von den Regierungen nicht mehr eingefangen werden kann? Und wenn das so ist, führt diese Eigendynamik zu mehr Integration oder weckt sie Gegenkräfte, die die Integration zum Stillstand bringen oder gar zu weniger Europa führen?
Aus Sicht des Intergouvernementalismus
Neofunktionalismus und Postfunktionalismus gestehen zu, dass die ersten Integrationsschritte zumeist von den Regierungen entschieden werden. Sie widersprechen jedoch der Annahme, dass die Regierungen die weitere Kontrolle über die Integration behalten. Vielmehr setzt die anfängliche Integration unvorhergesehene und unkontrollierbare Entwicklungen in Gang. Diese Entwicklungen beschränken den Handlungsspielraum der Regierungen und zwingen sie zu unerwünschten Integrationsschritten.
Der Neofunktionalismus sieht eine Reihe von Spillover-Prozessen am Werk, die systematisch zu "mehr Europa" führen.
Im Gegensatz dazu hebt der Postfunktionalismus Faktoren hervor, die zu einer negativen Eigendynamik führen, den Integrationsfortschritt untergraben und damit funktionale Problemlösungen erheblich erschweren.
Mehr Europa trotz Politisierung und regierungsdominiertem Krisenmanagement
In der Eurokrise sehen wir alle diese Triebkräfte europäischer Integration besonders deutlich am Werk: eine bis dahin ungekannte Politisierung europäischer Politik, einen ungeheuren Problemdruck auf die unzulängliche Konstruktion der Währungsunion und intensive und dramatische Verhandlungen zwischen den europäischen Regierungen, um in der Krise die Kontrolle zurückzugewinnen. Trotz Politisierung und regierungsdominiertem Krisenmanagement sehen wir im Ergebnis eine deutliche Stärkung der europäischen Integration.
Die Eurokrise war ein Höhepunkt der Politisierung der EU.
Die Eurokrise war jedoch auch ein Höhepunkt der intergouvernementalen Krisendiplomatie und Politikkoordinierung. Nie zuvor trafen sich die europäischen Finanzminister, Staats- und Regierungschefs auf höchster Ebene und in so schneller Folge wie auf dem Höhepunkt der Eurokrise. Aus intergouvernementalistischer Perspektive stellt sich die Eurokrise als ein Prozess dar, bei dem die beteiligten Regierungen ihre unterschiedlichen wirtschaftlichen Eigeninteressen in harten Verhandlungen durchzusetzen versuchten – und die mächtigeren Staaten die Oberhand behielten.
Dieser Mix aus einem gemeinsamen Interesse, den Zusammenbruch der Kooperation zu vermeiden, und dem individuellen Interesse, die Kosten dafür der jeweils anderen Seite aufzubürden, ist charakteristisch für die Verhandlungssituation des "Feiglingsspiels" (chicken game). In dieser Konstellation versuchen beide Seiten, die andere zum Einlenken zu bringen, und bleiben so lange hart, bis ein Nachgeben unausweichlich wird, um der Katastrophe zu entgehen. Diese Verhandlungstaktik war während der Eurokrise regelmäßig zu beobachten, etwa als es um die Rettung der Schuldenländer und die Aufstockung der Rettungsfonds ging, aber auch in den Verhandlungen in der ersten Jahreshälfte 2015 zwischen der griechischen Syriza-Regierung und ihren Gläubigern. Entsprechend der Logik des Feiglingsspiels kam es unter dem Druck der Finanzmärkte, des drohenden Staatsbankrotts und der Gefahr eines Auseinanderbrechens der Eurozone immer wieder zu einem Kompromiss in letzter Minute, der typischerweise darin bestand, dass die Schuldnerstaaten die Sparauflagen und die Haushaltskontrolle der EU akzeptierten und dafür von den Gläubigerstaaten finanziell über Wasser gehalten wurden. Die Institutionen, die während der Eurokrise geschaffen wurden, verstetigten diese Kompromisslösung: der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) vergibt Notfallkredite an Staaten, wenn sie den Regeln des Fiskalpaktes für einen ausgeglichenen Staatshaushalt zustimmen, und wer sich der europäischen Bankenaufsicht unterwirft, kann bei der Insolvenz von Banken auf den gemeinsamen Abwicklungsfonds zurückgreifen.
Insgesamt aber handelte es sich um ein asymmetrisches Feiglingsspiel, bei dem die Gläubigerstaaten in der besseren Verhandlungsposition waren. Daher mussten die Schuldnerstaaten das Gros der Anpassungskosten tragen. Das galt vor allem in den Verhandlungen mit Griechenland 2015: weil nur noch geringe Ansteckungsgefahr eines "Grexit" für den Rest der Eurozone bestand, musste die Syriza-Regierung trotz ihrer fundamentalen Opposition und trotz des gewonnenen Referendums gegen das Reformprogramm der Gläubiger am Ende klein beigeben und auf die Forderungen der Geldgeber eingehen.
Vertreter des sogenannten neuen Intergouvernementalismus argumentieren darüber hinaus, dass die Regierungen sich nicht darauf beschränkten, vertragliche Leitlinien für die europäische Politik zu beschließen.
Diese intergouvernementalistischen Befunde sind aus der Perspektive des Neofunktionalismus nicht falsch. Sie müssen aber zum einen im Kontext eines Spillover-Prozesses gesehen werden; und zum anderen erkennen wir neben der Intensivierung intergouvernementaler Politikkoordinierung auch die Stärkung supranationaler Organisationen.
In der Abwägung der Kosten und Nutzen dieser Alternativen entschieden sich die Euroländer für mehr Integration. Nach den gängigen Szenarien
Die Europäische Zentralbank (EZB) nutzte in der Krise ihre Autonomie und ihre Kompetenzen, um ihr ursprünglich restriktives und auf die Inflationsbekämpfung fokussiertes Mandat expansiv zu interpretieren und die Eurozone durch die Bereitstellung billigen Geldes und den Ankauf von Staatsanleihen zu stützen. Nicht der ESM, sondern die Ankündigung des EZB-Präsidenten Mario Draghi im Juli 2012, alles zu tun, was nötig sei, um den Euro zu retten, führte zu einer andauernden Beruhigung der Märkte. Darüber hinaus übertrugen die Mitgliedstaaten die Zuständigkeit für die Bankenaufsicht an die EZB und stärkten die Rolle der Kommission bei der Kontrolle der Staatshaushalte. Die Krise löste also im Euroraum einen erheblichen Integrationsschub aus, mit starkem finanziellem Engagement der Mitgliedstaaten im ESM, einer Neudefinition der Rolle der EZB, einer stärkeren Koordination und Überwachung der nationalen Haushaltspolitik und einer Bankenunion. Im Ergebnis sehen wir trotz starker Politisierung und ungeachtet der regierungsdominierten Krisenpolitik "mehr Europa" – und auch deutlich mehr Europa, als selbst der in der Krise mächtigste Mitgliedstaat, Deutschland, vor der Krise beabsichtigt und gebilligt hätte.
Wie weiter? Die Struktur der Reformdebatte
Weder die politischen Akteure noch ihre wissenschaftlichen und journalistischen Beobachter sind der Auffassung, dass die Reparaturen, die die Regierungen und die EZB unter dem Druck der Krise an der Konstruktion der Währungsunion vorgenommen haben, ausreichend sind. Deshalb hat sich parallel zur Eurorettung eine Debatte über die notwendigen weiteren Reformen der EU entwickelt. Eine Dimension der Debatte ist durch den Gegensatz "mehr oder weniger Europa" strukturiert. Sie dreht sich um die Frage, ob weitere Zuständigkeiten an die EU und ihre Organe abgegeben werden – oder aber bei den Staaten verbleiben und sogar an sie zurückverlagert werden sollten. In einer anderen Dimension der Debatte geht es um die Frage: "Welches Europa?" Hier folgt die Debatte dem Links-Rechts-Schema, das auch im staatlichen Rahmen die wichtigste Dimension der Parteipolitik ist. Sie verläuft zwischen denen, die die Währungsunion durch wohlfahrtsstaatliche Komponenten ergänzen wollen (links), und denen, die auf fiskalpolitische Disziplin und ökonomische Anpassung setzen (rechts).
In der politischen Debatte zeigt sich das für die Positionen der Parteien zur europäischen Integration typische Muster. In der Mitte sehen wir eine große Koalition für mehr Europa, wobei sozialdemokratische und grüne Parteien für ein "soziales Europa" aufgeschlossener sind als die Parteien der rechten Mitte. Allerdings sind die wirtschaftsstarken und weniger verschuldeten Euroländer unabhängig von der parteipolitischen Zusammensetzung der Regierung eher für eine Stabilitätsunion, während die wirtschaftlich schwächeren Staaten sich stärker für Transferkomponenten einsetzen. Neben der Parteiprogrammatik spielt also die ökonomische Situation des Staates eine wichtige Rolle. An den rechten und linken Rändern des Parteienspektrums finden wir euroskeptische Stimmen, die die nationale Souveränität gestärkt sehen wollen, wobei die rechten eurokritischen Parteien vorwiegend gegen Identitätsverlust, Migration und finanzielle Transfers ins Ausland mobilisieren, während linke euroskeptische Parteien gegen die Vorherrschaft des Marktes, den fiskalischen und wirtschaftlichen Anpassungsdruck der Währungsunion und die damit verbundenen sozialstaatlichen Einbußen argumentieren.
Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Konzeptionen für "mehr Europa" lassen sich anhand der Reformvorschläge des französischen Wirtschaftsministers Emmanuel Macron und des deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble verdeutlichen. Macron wirbt für nichts weniger als eine "Neugründung Europas".
Demgegenüber schlägt Bundesfinanzminister Schäuble zwar ebenfalls einen EU-Finanzminister oder "Haushaltskommissar" vor und befürwortet die Einrichtung eines Eurozonen-Parlaments, um dessen Arbeit demokratisch zu legitimieren.
Innerhalb der Eurozone findet man explizite Forderungen nach "weniger Europa" unter den Regierungen üblicherweise nicht – sehr wohl aber bei radikalen Parteien und in akademischen Beiträgen. Linke wie rechte euroskeptische Parteien berufen sich dabei auf die Volkssouveränität. Am öffentlichkeitswirksamsten stellte sich der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis im Namen der staatlichen Souveränität gegen "Dr. Schäubles Plan für Europa",
So schlüssig die Positionen der Reformdebatte für sich genommen sein mögen, so problematisch erscheint ihre politische Umsetzung. Ein geplanter Umbau der Währungsunion zu mehr oder weniger Europa stößt an enge Grenzen der Machbarkeit und Zustimmungsfähigkeit. Auf der einen Seite sind die Länder der Eurozone wirtschaftlich und politisch zu stark miteinander verflochten, um die Währungsunion ohne erhebliche Kosten zurückzufahren. Diese Erkenntnis hat sich in den Auseinandersetzungen der Eurokrise unter den Regierungen Bahn gebrochen, und auch in der Bevölkerung der Euroländer gibt es keine Mehrheiten für eine Abschaffung des Euro.