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Von Normalität über Übermacht zur Ohnmacht? Betrachtungen zur deutschen Rolle in Europa | Europäische Integration in der Krise | bpb.de

Europäische Integration in der Krise Editorial Europa: Eine Liebesgeschichte Flucht in die Krise – Ein Rückblick auf die EU-"Flüchtlingskrise" 2015 Deutschland in Europa. Drei Perspektiven Ein deutsches Europa – oder ein chaotisches? Von Normalität über Übermacht zur Ohnmacht? Betrachtungen zur deutschen Rolle in Europa Strategische Narrative deutscher Europapolitik Mehr Europa – oder weniger? Die Eurokrise und die europäische Integration Der Euro und die Schuldenkrise kontrovers Europa und die Eule der Minerva. Retrospektive und Krisennarrative der europäischen Integration Multiple Europas und die interne Politik der Differenz

Von Normalität über Übermacht zur Ohnmacht? Betrachtungen zur deutschen Rolle in Europa

Ulrike Guérot

/ 14 Minuten zu lesen

Die deutsche Rolle in Europa ist spätestens seit der Eurokrise national wie international wieder ein viel diskutiertes Thema. Deutschland werden verschiedene europäische Rollenkonzepte zugeschrieben, etwa "Zentralmacht" oder "Macht in der Mitte". Sogar der Topos eines "deutschen Sonderwegs" kommt wieder auf. Will man sich diesem Thema nähern, so sind verschiedene Dimensionen zu berücksichtigen, zeitliche, thematische, institutionelle wie personelle. Kurz: Die deutsche Rolle in Europa gibt es nicht. Es gibt mindestens drei Blickwinkel, um zu Antworten auf die Frage nach Gegenwart und Zukunft der deutschen Rolle in Europa zu gelangen.

Der erste Blickwinkel ist der zeitliche Verlauf. Über die vergangenen 15 Jahre hat sich die deutsche Rolle in Europa mehrfach verschoben. Dies wirft die Frage auf, wo denn der Zustand einer "deutschen Normalität" in Europa anzusetzen wäre beziehungsweise welche Zeitspanne zu betrachten ist. War die deutsche Normalität in Europa mit der Wiedervereinigung 1989 vorbei? Oder fing sie mit dem Vertrag von Maastricht 1992 erst an? Welche politischen Ereignisse in der vergangenen Dekade sind dafür entscheidend? Die deutsche Europapolitik vor 1989 beruhte vor allem auf einem starken deutsch-französischen Tandem, einer Anwaltrolle für die kleinen Länder und einem Fokus auf die Gemeinschaftsinstitutionen, insbesondere das Europäische Parlament und die EU-Kommission. Es gab mithin sublimierte deutsche Macht in Europa, die auch oft durch finanzielle Zugeständnisse "erkauft" wurde. In der Sublimierung lag ihre Legitimität. Versucht man, die Rolle Deutschlands in Europa über die vergangenen 15 Jahre knapp zu beschreiben, so kann man drei Entwicklungsstufen erkennen: zunächst ein zaghaftes Hinauswachsen aus der vorgängigen Ankerrolle Deutschlands für Europa durch den zunehmend artikulierten Willen einer "nationalen Normalität" zwischen 1998 und 2005; danach eine aktive Phase der "nationalen Formation" Deutschlands zwischen 2006 und 2009; und schließlich, ausgelöst durch die Eurokrise, eine Phase der deutschen Übermacht oder Hegemonie in Europa.

Retrospektiv wird man vielleicht konstatieren müssen, dass die Idee, dass deutsche und europäische Einigung zwei Seiten der gleichen Medaille sind (weswegen der Prozess der deutschen Einigung von 1989 mit dem Prozess der europäischen Einigung durch den Vertrag von Maastricht 1992 verklammert werden sollte), letztlich nicht ganz getragen hat. Vielmehr hat sich – wahrscheinlich noch nicht einmal beabsichtigt – eine deutsche Nationalwerdung als paralleler Prozess gegen einen europäischen Einigungsprozess gewendet, die fast als gegenläufige Entwicklung bezeichnet werden kann. Das Ende der "deutschen Normalität" bedeutet mithin den Anfang der europäischen Anomalität. Deutschland hat sich gleichsam aus Europa herausgeschält.

Der zweite Blickwinkel ist die thematische Dimension beziehungsweise die Unterscheidung von Politikfeldern in Europa. Nimmt man die deutsche Rolle in der Außenpolitik oder der Eurokrise in den Blick? Schien die deutsche Übermacht in Europa während der Griechenlandkrise im Juli 2015 noch evident, so ist sie inzwischen längst überlagert von nachfolgenden europäischen Krisen und dem schnellen Changieren der politischen Problemlagen – ab August 2015 der europäischen Flüchtlingskrise und ab November 2015 der "europäischen Terrorkrise".

In der Nacht des EU-Gipfels vom 12. Juli 2015 kommentierte der US-amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger Paul Krugman mit dem Hashtag thisisascoup die EU-Ratsverhandlungen auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. Dies markierte nach monatelangen, zermürbenden Diskussionen mit Griechenland über dessen Zahlungsfähigkeit und Kreditwürdigkeit den Höhepunkt einer "deutschen Übermacht" in Europa. Indes konnte schon bei der unmittelbar danach beginnenden europäischen Flüchtlingskrise von einer deutschen Übermacht keine Rede mehr sein. Binnen nur drei Monaten, zwischen August und Oktober 2015, ist aus Übermacht in einer anderen europäischen Problemlage ein weitgehend isoliertes Deutschland geworden, ohnmächtig, der Flüchtlingskrise alleine Herr zu werden – und ohnmächtig, seine europäischen Partner für seine Politik der "Willkommenskultur" zu gewinnen. Für Geld und gute Worte wollte Frankreich keine Flüchtlinge aufnehmen. Die deutsche Flüchtlingspolitik und Angela Merkels gewagtes "Wir schaffen das" werden im europäischen Ausland häufig als deutsche Eigentümlichkeit, wenn nicht offen als politischer Fehler bewertet, für den Verantwortung mitzutragen man nicht bereit ist.

In einem anderen Politikfeld, nämlich der Energiepolitik, die nicht mit der Flüchtlingspolitik gleichzusetzen ist, ist ein ähnliches Muster erkennbar: eine deutsche, nicht mit den europäischen Partnern abgestimmte Idiosynkrasie. Die deutsche Energiewende ist für viele europäische Partner – wie auch für die USA – eine wenig durchdachte Idee, wobei Häme und die Sorge, Deutschland könne scheitern, oszillieren.

Ein dritter Blickwinkel müsste ausleuchten, ob es inzwischen überhaupt noch um die deutsche Rolle in Europa geht oder um Merkels Rolle in Europa. Europa ist ohne Angela Merkel nicht fassbar. Wer repräsentiert Europa? Im Gegensatz zu den 1980er oder 1990er Jahren steht kein Jacques Delors als EU-Kommissionspräsident im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit; auch von José Manuel Barroso war während der Griechenlandkrise nicht viel zu hören. Donald Tusk ist als Präsident des Rates der EU nicht Manager des Ukrainekonflikts oder des europäischen Flüchtlingsdramas. Und Jean-Claude Juncker als EU-Kommissionspräsident ist keine Gallionsfigur für eine gemeinsame europäische Verteidigungsinitiative nach Artikel 42 Absatz 7 EU-Vertrag als Reaktion auf die Terroranschläge vom 13. November 2015 in Paris. Übrig bleibt: Angela Merkel. Der "Economist" betitelte sie jüngst quasi kontrazyklisch als "The Indispensable Leader in Europe". Was aber wäre dann ein Deutschland ohne Angela Merkel in Europa?

Die Betrachtung dieser drei Blickwinkel zeigt, dass die deutsche Rolle in Europa nicht auf einen Blick zu fassen ist; es ist eine Art "politischer Kubismus". Die deutsche Rolle in Europa ist zusammengewürfelt, und mit jedem aktuellen politischen Ereignis wird neu gewürfelt.

Deutsche Macht in der Ukraine- und der Griechenlandkrise

Die Bedeutung Deutschlands beziehungsweise Merkels ergibt sich aus der Tatsache, dass die Maschinerie der EU nicht mehr funktioniert, das institutionelle Gehäuse der EU gleichsam entkernt ist. Dies gilt sowohl für die verschiedenen außenpolitischen Formate und Arenen der EU-28 als auch mit Blick auf die Eurozonen-Governance. Hier hat die sogenannte Unionsmethode die Gemeinschaftsmethode abgelöst und ist während der Eurokrise ein beachtliches europäisches Regelwerk (Fiskalpakt, Europäischer Stabilitätsmechanismus) außerhalb des EU-Vertrags entstanden, das wesentlich von Deutschland gesteuert wurde. In beiden Bereichen hat deutsche Macht partiell europäisches Recht ersetzt, wobei dies im Ergebnis unterschiedlich konnotiert und bewertet werden kann.

Damit stellt sich ein strukturelles Problem: In dem Moment, in dem deutsche Macht ausschlaggebend ist für europäische Politik, müssten das deutsche politische Interesse und seine innenpolitische Machbarkeit kongruent sein mit dem europäischen politischen Interesse und der "europäischen Machbarkeit". Anders formuliert: Es müsste sichergestellt sein, dass das, was entschieden und verwirklicht wird, ganz Europa entspricht. Genau hier liegt indes die feine Scheidelinie, da diese Kongruenz nicht immer gesichert ist, so wie im Folgenden an zwei Bespielen sichtbar werden wird. Im ersten Fall – der Ukrainekrise – wurde Deutschland beziehungsweise Angela Merkel europäischer leader; im zweiten Fall – der Griechenlandkrise – europäischer Hegemon. Die strukturell gleiche (machtpolitische) Rolle Deutschlands in Europa führte also zu unterschiedlichen Ergebnissen. Ihre Bewertung ist mithin weniger eine systemische, sondern vielmehr eine politische.

Die deutsche Macht mit Blick auf Russland führte beispielsweise in der Ukrainekrise zum Minsker Abkommen und dem "Normandie-Format", einer Vierer-Gesprächsrunde auf Regierungs- und Außenministerebene zwischen Russland, Deutschland, Frankreich und der Ukraine, das immerhin eine respektabel europäisierte Meinungsfindung ermöglicht hat. Klassische Formate, etwa das "Weimarer Dreieck" (also die Dreiecksbeziehung zwischen Frankreich, Deutschland und Polen), wurden jedoch zunächst außer Acht gelassen, und auch die Außenbeauftragte der EU, Federica Mogherini, wurde nicht miteinbezogen. Da das Ergebnis allerdings für gut befunden wurde, gab es dennoch kaum Kritik, auch wenn Deutschland mit dem Vorwurf einer Appeasement-Politik gegenüber Russland ringen muss und die Frage, ob Deutschland wirklich endgültig "im Westen" angekommen sei, nach wie vor latent im Raum steht.

Deutschland ist also vor allem außenpolitisch bei einer neuen "Ad-Hockerie" von diversen politischen Koalitionsbildungen in Europa gelandet. Ihm kommt immer mehr die Rolle zu, die Zentrifugalkräfte der EU zusammenzuhalten. Die Bilanz ist gemischt; deutsches Bemühen ist aber durchaus erkennbar, wenn auch die Gefahr besteht, dass die deutsche Ad-hoc-Steuerungsfähigkeit aufgrund der derzeitigen Kumulation von Krisen an ihre Belastungsgrenze stößt, und traditionelle europapolitische Reflexe sogar im Auswärtigen Amt nachzulassen scheinen.

In der außenpolitischen Arena der EU-28 hat Deutschland in jüngerer Zeit trotzdem bemerkenswerte Versuche unternommen, seine Politik einerseits zu europäisieren, andererseits seiner gewachsenen internationalen Verantwortung gerecht zu werden. Mit dem Review-Prozess des Auswärtigen Amtes, der im März 2015 abgeschlossen wurde, hat Deutschland auf den europäischen Diskurs einer deutschen Führungsrolle reagiert und Maßnahmen unternommen, um seine Strategiefähigkeit zu verbessern. Die neue deutsche globale Verantwortungskultur wurde prominent in den politischen Raum gebracht, beispielsweise durch Reden von Bundespräsident Joachim Gauck. Dies alles spricht dafür, dass Deutschland die Forderung nach europäischem leadership und die Bedeutung seiner eigenen Politik und Rolle in Europa sehr ernst nimmt.

Die deutsche Macht in der Griechenlandkrise führte hingegen europaweit zu sozialen und politischen Verwerfungen. Insofern ist mit Blick auf die deutsche Rolle zwischen der außenpolitischen Arena der EU-28 und der Arena der Eurozonen-19 zu unterscheiden. Für einige kleinere EU-Länder war Deutschland auch in der Eurokrise der unangefochtene leader, hinter dessen Macht man sich gerne versteckte, weil man in der politischen Einschätzung der Griechenlandkrise und ihren Lösungen mit Deutschland übereinstimmte. Im europäischen Süden und teilweise auch in Frankreich wurde hingegen dieselbe deutsche Macht zur Durchsetzung einer bestimmten ökonomischen Politik in Europa als deutsche "Übermacht" empfunden.

In vielen europäischen Öffentlichkeiten ist damit der vorgängige permissive consensus (stillschweigende Zustimmung) für Europa zu einem constrained consensus (erzwungener Konsens) geworden. Es ging um Default-Lösungen, nicht um das politisch Optimale oder Wünschenswerte. Für solche Lösungen aber ist eine europäische Öffentlichkeit nicht zu mobilisieren, zumal Deutschland es versäumte, eine übergeordnete europäische Erzählung zu entwickeln, in der die anderen sich hätten wiederfinden können. Die Folgen sind Vertrauensverlust, Orientierungslosigkeit und schließlich Populismus sowie zunehmende EU-Systemgegnerschaft im politisch rechten wie linken Spektrum in ganz Europa.

Die Verschiebung der Machtverhältnisse innerhalb der Eurozone und der EU-28 haben vor allem den mittelgroßen und kleinen Ländern geschadet. Sie kommen in der europäischen Entscheidungsfindung so gut wie kaum noch vor. Vor allem die kleineren Länder im ökonomischen Speckgürtel Deutschlands folgen daher einer Logik, die man als cultural intimidation bezeichnen könnte: Sie biedern sich Deutschland politisch weitgehend an.

In der Eurozone passierte während der Eurokrise weitgehend, was Deutschland wollte und der Bundestag entschied. Innenpolitische Zwänge führten dazu, dass sich Deutschland auf seine ordoliberalen Prinzipien (Preisstabilität, fiskalischer Konservatismus, Wettbewerbsfähigkeit) beschränkte und diese in Europa durchsetzte. Griechenlandrettung und -hilfe wurden nur um den Preis des politischen Kniefalls von Alexis Tsipras und des Machterhalts der Brüsseler Institutionen mit Deutschland als ihrem wichtigsten Agenten gewährt. Eine politische Union, die gemeinsam getragene und politisch legitimierte Entscheidungen produziert, sieht anders aus.

Ein Ausweg daraus ließe sich nur durch eine Föderalisierung des politischen Systems zumindest innerhalb der Eurozone erzielen: Alle, die von europäischer Politik betroffen sind, die ihre Auswirkungen spüren und Folgen mittragen müssen, müssten an der politischen Willens- und mithin Regierungsbildung in Deutschland teilhaben. Nicht alle, die von Deutschlands Entscheidungen betroffen sind, sind auch wahlberechtigt – dies ist der Kern des Demokratiedefizits der Eurozone.

Weil man dieses Problem bisher nicht mit der Perspektive einer politischen Union lösen konnte, kristallisiert sich das europäische Demokratiedefizit in einer asymmetrischen politischen Macht Deutschlands in Europa, die entweder als leadership oder als Hegemonie gilt – je nachdem, ob man mit der deutschen Position politisch konform geht oder nicht. Die deutsche Macht trifft damit auf ein institutionelles Vakuum in der Eurozone und der EU.

Die entscheidende Frage ist damit nicht mehr die nach der deutschen Rolle in Europa, sondern viel grundsätzlicher: Was bedeutet es eigentlich für Europa zukünftig, wenn Deutschland fast systemisch in die Rolle gerät, für Europa zu entscheiden, wenn Deutschland und Europa also fast deckungsgleich werden? Auch im (nicht-europäischen) Ausland wird Deutschland beziehungsweise derzeit Angela Merkel zunehmend als allein entscheidender Ansprechpartner wahrgenommen. Merkels Staatsbesuch in China ist wichtiger als jeder EU-China-Gipfel; sie hat Zugang zu Wladimir Putin; sie allein zählt für die USA. "Germany must rule Europe", äußerte ein US-amerikanischer Gesprächspartner in einer Gesprächsrunde einer Berliner Denkfabrik im November 2015.

Deutsch-französisches Tandem

Vor allem die aktuellen Ereignisse in Paris erfordern einen neuen Blick auf die deutsch-französischen Beziehungen und eine Zusammenschau sich überlappender Politikfelder und sozioökonomischer Entwicklungen, die Europa zum Verhängnis werden könnten. Die desolate politische Situation und das Erstarken des Front National in Frankeich seit 2012 haben auch mit dem Management der Eurokrise zu tun, das für Frankreich aus vielerlei Gründen nicht stimmig war, sondern zu vielschichtigen Verwerfungen führte. Letztlich konnte sich Frankreich aus der ökonomischen Umklammerung deutsch-induzierter europäischer Sparpolitik nicht lösen. Frankreich ist darum gleichsam politisch implodiert. Abgesehen davon ist für den französischen Tandem-Partner eine dauerhafte Asymmetrie in den deutsch-französischen Beziehungen politisch und kulturell nicht hinnehmbar.

Damit ist aber die Essenz der Problematik der deutschen Rolle in Europa benannt: Was passiert in Europa, wenn Deutschland führt, aber Frankreich der politisch wie wirtschaftlich schwache Mann in Europa ist, der in wesentlichen Politikfeldern mangels Geld keine politische Gestaltungskraft mehr hat und jetzt noch die Folgen eines Terrorangriffs bewältigen muss? Wie weit kann Deutschland einem politisch wie wirtschaftlich destabilisierten Frankreich helfen? Und wie könnte jetzt eine europäische Außen- und Verteidigungspolitik, gar ein europäischer "Krieg" gegen den Islamischen Staat (IS) auf der Grundlage des Beistandsartikels des EU-Vertrags mit europäischer Wirtschaftspolitik (und ihren sozialen Verwerfungen) in Einklang gebracht werden? Kriege kosten viel Geld. Mit Defizitkriterien von drei Prozent dürften sie nicht zu führen sein. Auch um die soziale Misere in den Pariser Vororten zu mildern, müsste viel Geld in die Hand genommen werden. Die französische Reaktion auf die Terroranschläge ist getrieben von der politischen Angst vor dem Front National. François Hollande muss nicht nur schnelle Antworten mit Blick auf die Sicherheit geben; er muss verhindern, dass der IS (und Putin) den Steigbügel für einen weiteren Aufstieg Marine Le Pens halten, deren Wahlsieg 2017 nicht mehr ausgeschlossen werden kann und der ein europäischer Albtraum wäre. Hier kommen so viele soziale, wirtschaftspolitische und außenpolitische Verstrebungen vor allem zwischen Deutschland und Frankreich zusammen, dass eine Kontextualisierung in Innen- beziehungsweise Außenpolitik oder "nationale Rollen" in Europa zwangsläufig ins Leere laufen muss.

Fazit

Wo die zukünftigen deutschen Optionen, Möglichkeiten und Allianzen im aktuellen Bermuda-Dreieck aus Euro-, Flüchtlings- und Terrorkrise liegen, ist derzeit nur schwer zu beantworten. Die schweren europäischen Krisen der vergangenen Jahre konnten für eine sichtbare europäische Einigungsbewegung bisher nicht genutzt werden. Ob die Terroranschläge in Paris dazu führen könnten, eine solche in der europäischen Verteidigungspolitik zu befördern, dürfte im Wesentlichen von Merkel und ihrer Positionierung in der Frage militärischer Reaktionen auf den Terror des IS eingedenk der thematischen Verquickung mit der Flüchtlingskrise abhängen.

Wenn Europa aber "Krieg führen" und Flüchtlinge beherbergen, also über die Frage von Krieg und Frieden gemeinsam entscheiden will, dann muss es an den Punkt gelangen, zu begreifen, dass es dafür einen gemeinsamen Haushalt mit neuer legitimatorischer Basis und mithin gemeinsame Entscheidungen braucht. Kurz: Deutsches außenpolitisches leadership und deutsche Euro-Hegemonie, letztlich Strategie und Wirtschaft, könnten nur über einen gemeinsamen Haushalt als Grundlage einer sinnstiftenden gemeinsamen Politik in Europa miteinander verbunden werden. Im "nationalen Container" (Ulrich Beck) ist das bei aller deutschen Macht nicht mehr zu lösen, wenn negative politische Konsequenzen, etwa der eurokritische Populismus, in den einzelnen Nationalstaaten nicht zu groß und gefährlich werden sollen. Das aber entspräche einem europäischen Rütli-Schwur und dem Gründungsakt einer politischen Union – und dazu scheint die EU derzeit nicht in der Lage zu sein.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Hans-Peter Schwarz, Die Zentralmacht Europas. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, Berlin 1994.

  2. Vgl. Herfried Münkler, Macht in der Mitte. Die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa, Hamburg 2015.

  3. Ausführlich und mit weiteren Literaturangaben: Barbara Lippert, Deutsche Europapolitik zwischen Tradition und Irritation. Beobachtungen aus aktuellem Anlass, SWP-Arbeitspapier, Oktober 2015, Externer Link: http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/arbeitspapiere/Deutsche_Europapolitik.pdf (24.11.2015).

  4. Die historische Kontextualisierung von Ereignissen und ihren Auswirkungen auf die "deutsche Rolle", wie etwa der 11. September oder das negative französische Referendum zum europäischen Verfassungsvertrag im Mai 2005, kann hier aus Platzgründen nicht vertieft werden. Es muss einer detaillierten historischen Analyse vorbehalten bleiben, welche exogenen Ereignisse welche Verschiebungen der deutschen Rolle ausgelöst haben.

  5. Vgl. Irene Götz, Deutsche Identitäten. Die Wiederentdeckung des Nationalen nach 1989, Köln 2011, die multiple Faktoren für diese "Nationalwerdung" anführt.

  6. So titelte beispielsweise der "Spiegel" am 21.3.2015 mit "The German Übermacht".

  7. Eine ausführliche Darstellung der Ereignisse bietet Reinhard Blomert, Politische Gruppendynamik, in: Leviathan, 43 (2015) 3, S. 319–324.

  8. Vgl. The Indispensable European, 7.11.2015, Externer Link: http://www.economist.com/news/leaders/21677643-angela-merkel-faces-her-most-serious-political-challenge-yet-europe-needs-her-more (24.11.2015).

  9. Erstmals vorgestellt in der Rede von Angela Merkel vor dem Europa-Kolleg Brügge im November 2010, vgl. Externer Link: http://www.bundeskanzlerin.de/ContentArchiv/DE/Archiv17/Reden/2010/11/2010-11-02-merkel-bruegge.html (24.11.2015). Die Unionsmethode bedeutet eine Aufwertung des Europäischen Rates, die über die gesamte Eurokrise hinweg sichtbar blieb. Eine kritische Analyse der Rolle des EU-Rates bietet Christoph Möllers, Krisenzurechnung und Legitimationsproblematik in der Europäischen Union, in: Leviathan, 43 (2015) 3, S. 339–364.

  10. Ausführlich dazu Cerstin Gammelin/Raimund Löw, Europas Strippenzieher. Wer in Brüssel wirklich regiert, Berlin 2014.

  11. Ulrich Beck, Das deutsche Europa, Berlin 2012, spricht von "Merkiavelli" (Merkel als Machiavellist).

  12. Vgl. Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, München 2005. Die alte Frage, was der "Westen" denn überhaupt ist, wird mit Blick auf Russland und die Auseinandersetzung mit dem IS mittlerweile neu gestellt. Die permanente Überlagerung von Ereignissen und neuen politischen Konstellationen führt nicht nur zu ständigem Paradigmenwechsel und dem Verschleiß außenpolitischer Parameter, die jahrzehntelang stabil waren, sondern letztlich auch schon fast zur Auflösung der Begrifflichkeiten, mit denen vormals deutsche Außenpolitik konzeptualisiert wurde.

  13. Vgl. B. Lippert (Anm. 3), S. 7.

  14. Vgl. Auswärtiges Amt, Conclusions from Review, 26.2.2015, Externer Link: http://www.auswaertiges-amt.de/EN/AAmt/Review2014/Schlussfolgerungen_node.html (24.11.2015).

  15. Zu diskutieren bleibt, wie sehr hier eine ökonomische Abhängigkeit eine politische Zustimmung determiniert. In Tschechien gibt es z.B. eine Debatte über die Tschechische Republik als "17. Bundesland Deutschlands", die unter anderem im Rahmen der Konferenz des Aspen Institute Prags am 7. Juli 2015 zum Thema "Germany and the EU: Who Benefits?" aufschien.

  16. Vgl. Simon Bulmer, Germany and the Eurozone Crisis: Between Hegemony and Domestic Politics, in: West European Politics, 37 (2014) 6, S. 1244–1263. Die Literatur zum Thema ist indes inzwischen überbordend.

  17. Albrecht von Lucke beschreibt sehr anschaulich die Zusammenhänge zwischen den systemischen Mängeln der EU und den politökonomischen Folgen, insbesondere mit Blick auf das europäische Parteiensystem und den europäischen Rechtspopulismus. Vgl. Albrecht von Lucke, EU in Auflösung? Die Rückkehr der Grenzen und die populistische Gefahr, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (2015) 10, S. 45–54.

  18. So argumentiert überzeugend der Wirtschaftsjournalist Norbert Häring, Für untertänige Griechen und Iren werden EU-Regeln außer Kraft gesetzt, 5.10.2015, Externer Link: http://norberthaering.de/de/27-german/news/471-tsipras-belohnung#weiterlesen (24.11.2015).

  19. Trotz vielfacher politischer Bemühungen und einer ganzen Reihe von politischen Vorschlägen, z.B. der Glienicker Gruppe vom September 2013; der Groupe Eiffel vom Februar 2014; den offiziellen Berichten der Präsidenten der EU vom Dezember 2012 und vom Juni 2015; sowie jüngst vom französischen Finanzminister Emmanuel Macron in der Süddeutschen Zeitung vom 30.8.2015. Hierbei geht es immer um die Ausgestaltung einer politischen Euro-Union.

  20. Vgl. Hans Kundnani/Jonas Parello-Plesner, China and Germany: Why the Emerging Special Relationship Matters for Europe, ECFR Policy Brief, Mai 2012, Externer Link: http://www.ecfr.eu/page/-/ECFR55_CHINA_GERMANY_BRIEF_AW.pdf.

  21. Eine vielschichtige Kontextualisierung bietet Adam Tooze, Schäuble’s Realm, in: London Review of Books, 37 (2015) 22, S. 15–17.

  22. Vgl. Ulrike Guérot, Zwanzig Jahre nach Helmut Kohl. Wo stehen die deutsch-französischen Beziehungen?, in: Historisch-Politische Mitteilungen, 20 (2013), S. 273–288; dies., Marine Le Pen und die Metamorphose der französischen Republik, in: Leviathan, 43 (2015) 2, S. 177–212.

Lizenz

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Dr. phil., geb. 1964; Gründerin und Direktorin des European Democracy Lab an der European School of Governance, Am Festungsgraben 1, 10117 Berlin. E-Mail Link: ulrike.guerot@eusg.eu