In den vergangenen fünf Jahren, seit Beginn der Eurokrise, wurde viel über die angebliche Entstehung eines "deutschen Europas" geschrieben. In einem Sinne trifft der Begriff zu: Deutschlands gesteigerte Macht und Frankreichs relative Schwäche haben es Deutschland ermöglicht, anderen Staaten in der Eurozone die eigenen Präferenzen weitgehend aufzuzwingen. Vielleicht das beste Beispiel dafür ist der Fiskalpakt, auf den sich der Europäische Rat im Dezember 2011 einigte und der vorsieht, dass alle Länder der Eurozone eine ähnliche Regelung in ihre Verfassungen aufnehmen sollten wie die "Schuldenbremse", die 2009 in Deutschland verabschiedet worden war. Doch obwohl seit Ausbruch der Krise viele Deutschland deswegen gerne als "Europas Hegemon" bezeichnen, haben die Ereignisse der vergangenen fünf Jahre auch immer wieder deutlich gemacht, dass Deutschland sich nicht zum Hegemon eignet. Deswegen ist das Europa, das aus der Krise erwächst, nicht so sehr ein deutsches als vielmehr ein chaotisches.
Weil Deutschland in den ersten Jahren der Krise die Vorstellung von einem "deutschen Europa" vehement ablehnte, wurde es zunächst als "Hegemon wider Willen" oder "zögerlicher Hegemon" dargestellt – als Macht also, die sich der ihr zugedachten und angemessenen Rolle verweigert.
Keine hegemoniale Stabilität
Die Rufe nach einer deutschen Führungsrolle beruhten implizit oder explizit auf der sogenannten Theorie hegemonialer Stabilität, der zufolge ein Hegemon Normen setzt, gleichzeitig aber auch für diejenigen, die in der Rangordnung weiter unten stehen, ein System von Anreizen schafft, damit diese profitieren und im System verbleiben. Insbesondere macht ein Hegemon gegenüber denjenigen, die er in seine hegemoniale Hierarchie kooptiert hat, kurzfristige Zugeständnisse, um die eigenen langfristigen Interessen zu sichern. Ein Paradebeispiel für eine derartige Hegemonie sind die USA nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, die den Westeuropäern in den 1950er Jahren Handelspräferenzen einräumten – und im Zuge dessen amerikanische Importe benachteiligten –, weil diese Politik im Kontext des Kalten Krieges dem eigenen strategischen Ziel westeuropäischer Stabilität diente. Die USA setzten ihre Macht somit in aufgeklärter Weise ein. Für Theoretiker hegemonialer Stabilität besteht die Alternative zur Hegemonie in den internationalen Beziehungen in der Instabilität.
Die Theorie hegemonialer Stabilität geht zurück auf den Wissenschaftler Charles Kindleberger. In seinem 1973 veröffentlichten Buch über die Weltwirtschaftskrise ab 1929 behauptete er, eine Weltwirtschaft funktioniere nur reibungslos, wenn es einen Hegemon gebe (obwohl er selbst den Begriff nicht benutzt hat), der für Stabilität sorgt.
Interessanterweise nahm Finanzminister Wolfgang Schäuble während der Eurokrise Bezug auf Kindlebergers Theorie und sagte, seiner Ansicht nach sollten dessen Erkenntnisse Anwendung auf die Eurokrise finden. In einer Rede auf dem Höhepunkt der Krise sagte er: "Kindlebergers zentrale Botschaft ist im Jahr 2010 wichtiger denn je." Und diese Botschaft lautet: "Damit die Weltwirtschaft stabil sein kann, benötigt sie eine Führungsnation, einen wohlwollenden Hegemon oder ‚Stabilisator‘."
Angesichts von Deutschlands eindeutigem Interesse am Erhalt des Euro – nicht zuletzt weil die deutschen Exporte aufgrund von dessen Schwäche gegenüber der D-Mark profitieren – hätte Deutschland in Anlehnung an die US-amerikanische Politik in Europa nach 1945 Maßnahmen ergreifen können, um den eigenen Handelsbilanzüberschuss zu verringern, eine maßvolle Inflation zuzulassen oder als consumer of last resort, als "Konsument letzter Instanz" und damit als eine Art "Weltkonsument", verschuldeten Volkswirtschaften einen Wachstumsweg aus der Rezession zu ermöglichen und damit ihre Schuldenlast zu reduzieren. Doch wie der Politikwissenschaftler Mattias Matthijs gezeigt hat, weigerte sich Deutschland beharrlich, einen solchen keynesianischen Ansatz zu verfolgen.
Tatsächlich hat Deutschland also in Europa nicht für Stabilität gesorgt – gemäß der Theorie hegemonialer Stabilität die zentrale Funktion eines Hegemons –, sondern für Instabilität. Deutsche Rhetorik kreist fortwährend um Stabilität: Ständig ist von einer "Stabilitätsunion" (im Gegensatz zu einer "Transferunion" oder "Schuldenunion") oder von einer "Stabilitätskultur" die Rede. Doch der Begriff wird dabei ausgesprochen eng gefasst: Wenn man in Deutschland von Stabilität spricht, dann meint man Preisstabilität und nichts anderes. Tatsächlich aber hat Deutschland mit dem Versuch, seine "Stabilitätskultur" zu exportieren, in einem umfassenderen Sinn für Instabilität gesorgt. Insbesondere sein beharrliches Schweigen darüber, inwieweit es eine Vergemeinschaftung europäischer Schulden akzeptieren wird – offenkundig eine bewusst gewählte Strategie, um den Reformdruck auf verschuldete Länder aufrechtzuerhalten –, hat für ein Klima der Verunsicherung gesorgt. Man ist beinahe versucht, von einer deutschen "Instabilitätskultur" zu sprechen.
Seit Beginn der Krise hat Deutschland Regeln exportiert, aber keine Normen. In anderen Ländern der Eurozone waren viele der Ansicht, diese Regeln würden dem nationalen Interesse Deutschlands und nicht ihrem eigenen dienen. Deshalb haben sie sich oft nur zögerlich deutschen Forderungen gefügt. Sie haben versucht, Widerstand zu leisten, Entscheidungen hinauszuzögern und sich auf eingegangene Verpflichtungen zu berufen. Mit anderen Worten: Es gab kein hegemoniales Einverständnis – eines der zentralen Merkmale von Hegemonie, das sie vom Imperium unterscheidet. Man kann nicht von einem "Berliner Konsens" analog zum "Washington Konsens" sprechen. In gewisser Weise scheint die heutige Berliner Republik sogar weniger Hegemon zu sein, als es die Bonner Republik war. Als "kooperativer Hegemon" zusammen mit Frankreich hat Deutschland vor der deutschen Wiedervereinigung und der EU-Erweiterung seine eigenen Präferenzen mit Zustimmung der europäischen Partner erfolgreich "hochgeladen".
Doch dieses Versagen Deutschlands, die Rolle eines europäischen Hegemons zu übernehmen, wie einige wie Sikorski sich das wünschen, ist nicht bloß das Ergebnis verfehlter volkswirtschaftlicher Ideen (Stichwort: Ordoliberalismus), wie manche im Ausland glauben, sondern spiegelt die Grenzen von Deutschlands wirtschaftlichen Ressourcen wider. Die deutsche Wirtschaft hat sich in den 2000er Jahren erholt, allerdings weitgehend dank Lohnzurückhaltung und einem günstigen Umfeld. Sie bleibt zu fragil, um die Lasten der Hegemonie zu schultern, ob nun über Fiskaltransfers, eine Vergemeinschaftung der europäischen Schulden oder eine gemäßigte Inflation. Kurz gesagt: Deutschland ist wirtschaftlich gesehen nicht nur unwillig, sondern auch unfähig, europäischer Hegemon im kindlebergerschen Sinne zu sein. Der Vergleich mit den USA nach dem Zweiten Weltkrieg macht deutlich, wie unterschiedlich die Situationen damals und heute sind.
Wiederkehr der "Halbhegemonie"
Das Seltsame an der seit Beginn der Krise geführten Debatte über die deutsche Hegemonie in Europa ist aber, dass sie selten in Verbindung gebracht worden ist mit der Geschichte der "deutschen Frage" und der historischen Erfahrung mit deutschen hegemonialen Ansprüchen – ein viel relevanterer Bezug als der Vergleich mit der Rolle der USA nach dem Zweiten Weltkrieg. Dabei ähnelt die jetzige Rolle Deutschlands in Europa in auffallender Weise der Stellung Deutschlands innerhalb Europas zwischen 1871 und 1945. Nach der Reichsgründung war Deutschland zu groß für ein Machtgleichgewicht in Europa und zu klein für die Hegemonie. Deswegen definierte der Historiker Ludwig Dehio die problematische Stellung des deutschen Kaiserreichs in Kontinentaleuropa später als "halbhegemonial".
Vieles spricht dafür, dass Deutschland jetzt in die Position einer Halbhegemonie zurückgekehrt ist, wie Ludwig Dehio sie beschrieben hat – diesmal jedoch in geoökonomischer statt geopolitischer Form.
Der Kontext der Eurokrise erinnert an die Situation nach 1871, insbesondere in der Art, wie andere EU-Mitgliedstaaten – vor allem diejenigen der sogenannten Peripherie – seit Anfang der Eurokrise unter Druck standen, eine "gemeinsame Front" gegen Deutschland zu bilden, wie George Soros das genannt hat.
Die erneute "halbhegemoniale" Stellung Deutschlands kommt auch in der Flüchtlingskrise deutlich zum Ausdruck – vielleicht ist sie sogar die beste Illustration von dem eher chaotischen Europa, das seit der Eurokrise im Entstehen begriffen ist. Dass so viele von den Flüchtlingen, die aus Konfliktregionen in aller Welt – und vor allem aus Syrien – nach Europa kommen, unbedingt nach Deutschland wollen, zeigt die Wirklichkeit des neuen Europas, das aus einem boomenden "Kern" und einer verarmten "Peripherie" besteht. Dass Länder wie Griechenland von dem Flüchtlingsstrom überfordert und deswegen nicht in der Lage sind, zu verhindern, dass die Flüchtlinge weiter nach Deutschland ziehen, ist letztendlich auch eine Folge davon, dass solche Länder durch die von Deutschland durchgesetzte Sparpolitik geschwächt sind. So hat die Flüchtlingskrise die Kehrseite deutscher Macht gezeigt: Die Situation in der "Peripherie" stellt jetzt für die Bundesrepublik eine ernsthafte Bedrohung dar.
Trotzdem aber schafft Deutschland es nicht, dass die anderen EU-Mitgliedstaaten seine Forderung nach einer fairen Verteilung der Flüchtlinge akzeptieren. Stattdessen wird Deutschland "Moralimperialismus" vorgeworfen. Besonders auffallend ist, dass diejenigen Mitgliedstaaten, die sich am vehementesten gegen die von der Bundesregierung und der Europäischen Kommission geforderten Quoten gewehrt haben, solche wie die Slowakei waren, deren Ökonomien mit der deutschen aufs Engste integriert sind und nur Wochen davor in der Diskussion um die Schulden Griechenlands Deutschland unterstützt hatten. Die Unfähigkeit Deutschlands, sie zu überzeugen, jeweils ein paar Hundert Flüchtlinge aufzunehmen, deutet darauf hin, dass ihm entweder die Legitimität oder die Ressourcen fehlen, die notwendig wären, um Themen zu verknüpfen und die Pauschalangebote zu machen, auf deren Basis die europäische Integration immer funktioniert hat. Kurz gesagt, die Flüchtlingskrise zeigt wieder, dass Europa nicht von Berlin aus geführt werden kann.
Dies sollte auch nicht überraschen, war doch die EU von Anfang an ein Projekt, das darauf zielte, nicht nur Krieg in Europa, sondern auch Hegemonie zu verhindern. Das europäische Projekt ist eben gerade keines einer einzelnen Macht mit Hegemonialanspruch, wie es frühere Versuche, den Kontinent zu "integrieren", wie etwa durch Napoleon I., waren. Insbesondere wurde die EU auch geschaffen, um deutsche Macht zu beschränken – dieses Ziel war womöglich "die wichtigste Triebkraft hinter der europäischen Integration".
Doch noch ein Hegemonialanspruch?
Doch weil Europa immer chaotischer wird, werden allmählich die Stimmen innerhalb Deutschlands lauter, die eine Hegemonialrolle als notwendig erachten und dazu aufrufen, selbstbewusster aufzutreten. Im Kontrast zu den ersten Jahren der Eurokrise hört man jetzt immer häufiger, dass die berühmte, 1953 von Thomas Mann formulierte Wahl zwischen einem deutschen Europa und einem europäischem Deutschland nicht mehr der Realität entspräche: Jetzt ginge es um ein deutsches Europa – oder gar kein Europa. Der Politologe Herfried Münkler etwa argumentiert, dass es Deutschlands Aufgabe sei, Europa zu führen. Es bedarf aus seiner Sicht einer "starken Mitte", die den Fortbestand des europäischen Projekts sichert – insbesondere in einer Zeit, in der die USA sich vom europäischen Kontinent zurückziehen und nach Asien hinwenden. Da eine Führungsrolle Brüssels nicht zu erwarten sei, kann es sich also "nach Lage der Dinge nur um Deutschland handeln".
Münkler vermeidet den Begriff "Hegemon". Aber mit der Rolle als "Macht in der Mitte", die er als Deutschlands Aufgabe sieht, meint er im Grunde dasselbe – und zwar nicht im wirtschaftlichen, kindlebergerschen Sinne. Dabei ist ihm die Geschichte deutscher Hegemonialansprüche durchaus bewusst: Als sich Deutschland in der Vergangenheit in der Position der geopolitischen Mitte befunden hat, sei "das in der Regel weder ihm selbst noch dem europäischen Raum in seiner Gesamtheit gut bekommen".
Münkler fordert Deutschland dazu auf, Europa mit einer aufgeklärten Mischung aus Eigeninteresse und Gemeinwohl zu führen. Das Problem aber ist, dass die Politik, die Deutschland verfolgen müsste, um Legitimität für eine solche Führungsrolle zu gewinnen, diejenige ist, die zum wachsenden Euroskeptizismus in Deutschland führen würde: eine Vergemeinschaftung der Schulden in der Eurozone, die aus deutscher Sicht der berüchtigten "Transferunion" gleichkommt. Um aber die erforderliche Vermittlerrolle zu spielen, so Münkler, muss Deutschland frei sein von dem Populismus, der anderswo in Europa wächst. Die Bevölkerung Deutschlands müsse "sehr viel stärker europafreundlich eingestellt sein und von den Vorteilen des Europaprojekts überzeugt sein als die in den peripheren Mitgliedstaaten".