"Angela Merkel – Kanzlerin der freien Welt", titelt das US-Magazin "Time" und kürt die deutsche Regierungschefin zur "Person des Jahres 2015". Begründet wird diese Wahl vor allem mit Merkels Flüchtlings- und Europolitik. Deutschlands Haltung in den beiden Krisen, die im zurückliegenden Jahr die politische Agenda in Europa beherrscht haben, ist indes umstritten: Von "deutscher Übermacht" war vor allem in Bezug auf Rhetorik und Handeln gegenüber den überschuldeten Staaten in der Eurozone die Rede; "moralischen Imperialismus" in der Flüchtlingskrise hat der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán der deutschen Regierung bei einem Besuch in Bayern vorgeworfen.
In beiden Krisen zeigen sich die 19 Länder der Eurozone beziehungsweise die 28 Mitgliedstaaten der EU uneinig. Mit der Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus und der neu definierten Rolle der Europäischen Zentralbank ist zwar die Integration in der Währungsunion vertieft worden, es besteht aber kein Konsens über die weiteren Schritte. Soll es eine "Wirtschaftsregierung" in der Eurozone geben, die befugt ist, über sozial-, fiskal- und wirtschaftspolitische Maßnahmen die ökonomischen Ungleichgewichte auszubalancieren? Oder soll der Schwerpunkt auf der Einhaltung bestehender fiskalpolitischer Regeln und auf Haushaltskontrolle liegen, um die "Stabilitätsunion" zu stärken?
Schien schon mit den Auseinandersetzungen über die Hilfen für Griechenland ein Tiefpunkt erreicht, so hat sich die Krise der EU in der zweiten Jahreshälfte durch die humanitäre Flüchtlingskrise und den Zusammenbruch des gemeinsamen Asylsystems dramatisch verschärft. Die erstmalig mit Mehrheitsbeschluss gegen die Stimmen von Ungarn, Tschechien, der Slowakei und Rumänien durchgesetzte Quotenregelung zur Verteilung von Flüchtlingen zeugt von der tiefen Zerrissenheit der Union in der europäischen Flüchtlingspolitik. Die islamistisch motivierten Terroranschläge von Paris markieren schließlich den tragischen Abschluss des europäischen Krisenjahrs 2015.