Die Hansestadt Bremen ist für ihre jahrhundertelange Handelstradition bekannt. Auch mit den Vereinigten Staaten von Amerika, die 1783 als unabhängiger Staat anerkannt wurden, knüpften Bremer Kaufleute schon frühzeitig Geschäftsbeziehungen. Durch den transatlantischen Handel mit Baumwolle, Zucker, Kaffee, Kakao und Tee wurde ihre Stadt unmittelbar eingebunden in die Ökonomien und Praktiken der Versklavung. Die Spuren der kolonialen Vergangenheit sind heute noch im Stadtbild erkennbar, etwa dort, wo Straßennamen auf die Beteiligung am "Überseehandel" verweisen. Einerseits gibt es also Hinweise dafür, dass Bremen in den Handel mit sogenannten Kolonialwaren involviert war und auf diese Weise großen Reichtum erwarb, andererseits fehlt es an einem öffentlichen, kritischen Bewusstsein dafür, dass die Geschichte der Stadt durch ebendiesen Handel mit der globalen Geschichte von Kolonialismus und Versklavung verflochten ist – mit Rückwirkungen auch für die Gegenwart.
Wir sprechen hier bewusst von "Versklavung" und nicht von "Sklaverei". Denn der Begriff "Versklavung" betont die gewaltvolle Prozesshaftigkeit des "Versklavens" und verweist dabei sowohl auf die europäischen weißen Akteure, die Schwarze Menschen bewusst versklavten, als auch auf den beständigen Widerstand Schwarzer Menschen dagegen.
Versklavungsökonomien wurden in Nord- und Südamerika sowie in der Karibik vom 16. bis 19. Jahrhundert von weißen Europäern betrieben. Sie waren dabei auf den ebenfalls durch weiße Europäer initiierten Versklavungshandel als festen Bestandteil des transatlantischen Dreieckshandels angewiesen. Mit der Abschaffung des transatlantischen Handels mit Schwarzen Menschen durch die einzelnen Kolonialmächte zwischen 1807 und 1833 verließen sich die Plantagenökonomien zunehmend auf den "Binnenhandel" mit Versklavten innerhalb der Amerikas. Wenn nun einige Bremer Kaufmannsfamilien durch den Handel mit zum Beispiel Tabak viel Geld verdienten, und Bremer Reichtum letztlich auf dem Leid der versklavten Schwarzen Menschen auf den Plantagen gründet, warum wissen wir heute so wenig über diesen Zusammenhang? Wieso ist die Bremer Stadtgeschichte beispielsweise stolz auf die internationale Rolle seiner damals modernen Zuckermanufakturen,
Gewebe der Versklavung
Die Ausgangsthese war, dass Bremens Handel in ein globales Netz der Versklavung zwischen Afrika, Europa und Nord- und Südamerika sowie der Karibik eingebunden war und dass die Spuren dieses "Gewebes" bis heute in Bremen sichtbar sind. Die Schülerinnen und Schüler stellten sich demnach der schwierigen Aufgabe, nach möglichen Verbindungen einer norddeutschen Stadt wie Bremen im 21. Jahrhundert zu der Versklavung Schwarzer Menschen in Nordamerika im 18. und 19. Jahrhundert zu suchen. In Zusammenarbeit mit ihren Lehrkräften und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universität Bremen studierten sie kulturelle Artefakte wie Gebäude und ihre architektonischen Merkmale, Museen und Straßennamen und recherchierten in Archiven – sensibilisiert für die hinter dem scheinbar "unschuldigen" Überseehandel liegenden Verbindungen zu Kolonialismus und Versklavung.
Die Rolle anderer europäischer Akteure, die Kolonien in der sogenannten Neuen Welt besaßen, aktiv in den atlantischen Dreieckshandel eingebunden waren und damit auch in den Versklavungshandel verstrickt, ist wohl bekannt. Besonders einflussreich waren Spanien, Portugal und Großbritannien. Aber auch die Niederlande, Frankreich und Dänemark waren substanziell an diesem Handel beteiligt – einem Handel, in dem zwischen 1501 und 1866 mehr als zwölf Millionen Schwarze Menschen an der westafrikanischen Küste gegen in Europa gefertigte Güter eingetauscht wurden und mit deren erzwungener Arbeitskraft auf den amerikanischen und karibischen Plantagen zum Beispiel Baumwolle, Tabak und Zucker für den Export nach Europa angebaut wurden.
So haben die amerikanischen und deutschen Geschichtswissenschaften und die Bremer Lokalhistoriografie diese Verbindungen auch bisher kaum in den Blick genommen – was nicht verwundert, handelt es sich doch um einen Forschungsbereich, der viele Disziplinen berührt, aber in keiner richtig "zuhause" zu sein scheint. Die Forschungsthese betrifft sowohl eine Vielzahl von Lokalitäten, die einen Großteil der Welt umspannen und auf unterschiedlichen Ebenen betrachtet werden müssen, als auch eine längere zeitliche Phase in der Geschichte. Zudem entstand und verfestigte sich das komplexe Gewebe in einer historiografisch eher "unhandlichen" Zeit: So gab es im frühen 18. Jahrhundert zwar Bremen, aber noch keinen einheitlichen deutschen Staat, und es gab nordamerikanische Kolonien, aber noch keine Vereinigten Staaten von Amerika.
Forschend lernen
Die Schülerinnen und Schüler der Jahrgänge 8 und 12 der Bremer Schulzentren Walle und Waller Ring stellten sich zusammen mit ihren Lehrkräften und der Bremer Amerikanistin Sabine Broeck der Herausforderung, diese komplexen Verbindungen aus dem Lokalen nachzuverfolgen.
In der Vorbereitung des Projekts zeigte sich sehr deutlich, dass die Themen Versklavung, transatlantischer Versklavungshandel und die Plantagenökonomien in den Amerikas, wenn überhaupt, nur am Rande zum Lehrplan an Bremer Schulen gehören. Wenn sie im Unterricht vorkommen, dann meist nur als kurze Erwähnung im Zusammenhang mit anderen Ereignissen aus der Geschichte der USA wie dem Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) oder der Bürgerrechtsbewegung im 20. Jahrhundert. Die globalhistorischen Dimensionen von Versklavungsökonomien werden überhaupt nicht berücksichtigt. Das Stichwort für das Projekt war also "forschendes Lernen".
Die Nachforschungen führten die Jugendlichen an verschiedene Orte in der Stadt, im norddeutschen Raum und sogar ins Ausland. Einen sehr guten Überblick und eine kritische Auseinandersetzung mit Versklavung konnten die Schülerinnen und Schüler der 12. Klasse während einer Exkursion zum International Slavery Museum in Liverpool im zweiten Projektjahr erlangen. Das Museum dokumentiert Liverpools Rolle als einen der bedeutendsten europäischen Häfen im Versklavungshandel. Die Schülerinnen und Schüler wurden dort nicht nur mit den unterschiedlichen Aspekten der grausamen Versklavung auf karibischen und amerikanischen Plantagen konfrontiert, sie bekamen vor allem wertvolle Einblicke in die zielgerichtete Beteiligung an und Unterstützung von diesen Versklavungsökonomien durch europäische Gesellschaften. Sie lernten, dass diese Ökonomien Vorbereitung benötigten: etwa durch die Konzeption und Erschließung neuer Kolonien, die damit verbundene Erweiterung bestehender Hoheitsgebiete, durch Vernetzung, Systematisierung und militärische Absicherung von Handelsrouten und Gütern – und nicht zuletzt durch den politischen Willen zur Umsetzung dieser Aktivitäten. Sie lernten, dass der wirtschaftliche Erfolg des Versklavungshandels und der Plantagenökonomien in den Amerikas einen äußerst wichtigen Faktor für die wirtschaftliche Entwicklung auf beiden Seiten des Atlantiks darstellte.
Doch wie lässt sich diese Form des forschenden Lernens neben dem Besuch eines solchen Ausnahmemuseums in einen fest strukturierten und eng geplanten Unterricht in der 12. Jahrgangsstufe integrieren? Die beteiligten Lehrerinnen und Lehrer entschieden sich gemeinsam mit den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die Projektarbeit jeweils in einen Abiturschwerpunkt einzugliedern, um den Schülerinnen und Schülern neben dem "normalen" Abiturstress keine Mehrbelastung abzuverlangen. Im ersten Projektjahr forschten die Jugendlichen daher während ihres Englischunterrichts zum Themenschwerpunkt "Tiefer Süden"; im zweiten Projektjahr war der Schwerpunkt "Kolonialismus".
Die Projekte der Schülerinnen und Schüler widmeten sich in vielfältiger Weise der Verarbeitung ihrer Forschungsergebnisse. Das Spektrum reicht von kleinen fiktionalen Texten – Briefen, Interviews, Kurzgeschichten – über einen selbst gedrehten Film und ein eigens geschriebenes Computerprogramm bis hin zu ausführlichen Forschungsberichten, die eine intensive Quellenarbeit belegen. Insbesondere die Schülerinnen und Schüler der 12. Klassen konnten in ihren Projektarbeiten eindrucksvoll zeigen, dass sich in Bremen zahlreiche Spuren finden lassen, die auf die historische Verquickung der eigenen Handelsökonomie mit den Plantagenökonomien Nord- und Südamerikas und der Karibik weisen. Eine Vielzahl der Arbeiten beschäftigte sich beispielsweise mit der Firmengeschichte von in Bremen ansässigen Betrieben, die im Tabak-, Baumwoll-, oder Schokoladenhandel aktiv waren. Eine andere Projektarbeit verfolgte eine postkoloniale Spurensuche in der Architektur der Stadt. Ein Schüler untersuchte dabei Gebäude und Straßennamen und stieß unter anderem auf die Bremer "Überseehäfen" und den Hauptbahnhof mit seinem inhaltlich und formal kolonialästhetischen Relief in der Bahnhofshalle als vielsagende Beispiele.
Versklavung und politische Bildung
Die Schülerinnen und Schüler der 12. Klassen entschieden sich dafür, ihre Projektarbeiten auf einer von ihnen konzipierten Website zu publizieren, um sie einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen und ihre Erkenntnisse mit anderen zu teilen. Sie wurden nicht editiert und zeugen somit von den Herausforderungen und Erfolgen des wissenschaftlichen Arbeitens bereits während der Schulzeit. Mit den Auftakt- und Abschlussveranstaltungen der zwei Projektdurchläufe verschaffte sich das Bremer Denkwerk-Projekt zudem in der Öffentlichkeit Gehör.
Wie aus unseren Ausführungen deutlich wird, leisten Initiativen wie die hier beschriebene einen entscheidenden Beitrag dazu, der Auseinandersetzung mit dem Thema Versklavung in einer scheinbar "unbelasteten" geografischen Region wie der heutigen Bundesrepublik Deutschland Relevanz zu verleihen. Sie fungieren als Schnittstelle zwischen Bildung, Gesellschaft und Wissenschaft, sowohl schulisch als auch außerschulisch. Dadurch gelingt es, ein Thema, das für die Wissenschaft schon seit Längerem von großem Interesse ist,
Den Schülerinnen und Schülern eine kritisch-reflektierte Perspektive wie die der postkolonialen Literatur- und Kulturwissenschaften zu eröffnen – und damit weitere gesellschaftliche Bildung zu vermitteln –, war daher auch ein erklärtes Ziel des Bremer Denkwerk-Projekts. Dass die Schülerinnen und Schüler während der Projektarbeit selbst Verbindungen zwischen Versklavung als Verbrechen gegen die Menschheit
Kein Ergebnis ist ein Ergebnis
Das Bremer Projekt zeigt des Weiteren, dass die interdisziplinäre Arbeit auf unterschiedlichen Ebenen sehr produktiv sein kann, aber auch Herausforderungen mit sich bringt. So vermochte das Projekt Wissenslücken zu füllen – ähnlich wie andere kulturpolitische Projekte, Initiativen und Bündniskampagnen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Deutschlands Verbindung zu Kolonialismus und Kolonialrassismus sowie Versklavung und deren Ökonomien sichtbar zu machen.
Häufig, wenn die Jugendlichen in Museen und Archiven in Bremen und Umgebung unterwegs waren, um Antworten auf ihre Fragen zu finden, stießen sie "nur" auf weitere Fragen. Im Tuchmacher Museum Bramsche wollten die Schülerinnen und Schüler beispielsweise den Leinenhandel der Region Osnabrück erkunden, um mehr über seine durch Forschung belegte Verwicklung in Versklavungsökonomien zu lernen. Jedoch fanden sie dort eben nicht die sogenannten Osnaburghs – jene Leinenkleidung, die auf amerikanischen Plantagen von versklavten Schwarzen Menschen getragen wurde.
Während der Projektarbeit an der Schnittstelle von Schule und Wissenschaft geht es folglich häufig darum, außerhalb etablierter Forschungswege und über disziplinäre Grenzen hinaus zu denken. So ist historische Forschung beispielsweise auf ein gut bestücktes und systematisch organisiertes Archiv angewiesen. Nach einer bestimmten Logik und mithilfe von zuvor sorgfältig ausgewählten Stichwörtern kann dann in Findbüchern gezielt nach dem gewünschten Material gesucht werden. Was aber, wenn die Suche nicht greift und keine Ergebnisse aus den staubigen Tiefen des Archivs liefert?
Diese Erfahrung machten die Schülerinnen und Schüler während ihrer Recherchearbeit im Bremer Staatsarchiv, das auf die Sammlung, Archivierung und Veröffentlichung von Zeugnissen der Bremer Landesgeschichte spezialisiert ist und dessen Bestände die Bremer Aktivitäten im sogenannten Überseehandel sorgfältig dokumentieren.
Das Interessante an diesem Dokument ist nicht nur, dass es einen der wenigen Momente kennzeichnet, in dem die Schülerinnen und Schüler bei ihrer Suche im Archiv auf deutliche Spuren von der Verquickung von globalen Versklavungsökonomien mit der Bremer Lokalgeschichte gestoßen sind. Deutlich wird hierbei auch, wie fantasievoll Forschende oftmals zu Werke gehen müssen und wie limitiert und schwer zugänglich die scheinbar unendlichen Materialsammlungen eines Archivs sein können, wenn es darum geht, neue, kritische Wissensbestände zu generieren. Denn die Schülerinnen und Schüler konnten die Geschichte von William Stepny nur finden und in ihren Forschungsarbeiten diskutieren, weil sich ein Mitarbeiter des Staatsarchivs an den Brief erinnerte. Das Dokument war im Findbuch unter dem Schlagwort "Auswanderung im 20. Jahrhundert" einsortiert und wäre somit für das Denkwerk-Projekt eigentlich unauffindbar gewesen.
Wie dieses Beispiel zeigt, geht es bei der Arbeit von Projekten wie dem "Gewebe der Sklaverei" darum, kreativ, interdisziplinär und mit Neugier zu Werke zu gehen, sowohl inhaltlich als auch methodologisch. Wenn Rechercheerfolge von Zufällen abhängen, können Projekte dieser Art vor allem dazu beitragen, Reflexionsräume zu eröffnen und ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es auf kritische Perspektiven und Fragestellungen ankommt. Eine Schülerin aus dem ersten Projektjahr zog aus diesen Erfahrungen folgenden Schluss: "Es ist schon interessant, zu sehen, wie stark aufbereitet alles ist, was man in der Schule vorgesetzt bekommt."
Vom "Bremer Überseehandel" zu Versklavung: Ein Fazit
Die Frage nach den Bremer Verbindungen zu Versklavung ist nicht weit hergeholt, wenn man nur aus der richtigen Perspektive darauf schaut und auch Lücken und Fragen als weiterführende Ergebnisse versteht. Sensibilisiert für die komplexen Strukturen und Auswirkungen von Kolonialismus und Versklavung ist so der Name des "Bremer Überseehandels" nicht mehr neutral; die Bedeutung, die der transatlantische Versklavungshandel im Dreieckshandel zwischen Europa, Afrika und Nord- und Südamerika sowie der Karibik hatte, wird dahinter sichtbar. Sogenannte Kolonialwaren sind so eindeutig auch als Güter der Versklavungsökonomien zu identifizieren, und weiße Akteure der Stadt Bremen, wie zum Beispiel Kaufleute und politische Repräsentanten, zeigen sich über ihre Handelsverbindungen in ein System transatlantischer kolonialer Versklavungsprozesse verstrickt.
Versklavung war im 18. und 19. Jahrhundert in der Stadt präsent – durch direkte Profiterzielung in den Plantagenwirtschaften, koloniale Besitzungen in Nord- und Südamerika sowie in der Karibik, durch Handel mit Produkten wie Zucker, Kaffee und Baumwolle sowie durch geschäftliche, familiäre und freundschaftliche Verbindungen in die "Neue Welt", wo Bremerinnen und Bremer mit Versklavten wirtschafteten und dadurch zu Reichtum und Einfluss gelangten. Verkürzt lässt es sich so ausdrücken: ohne Kolonialismus keine Kolonien in den Amerikas, ohne Versklavung in den Kolonien keine Waren in exportierbaren Mengen, ohne Waren kein transatlantischer "Überseehandel" und ohne "Überseehandel" keine blühende Handelsstadt in Westeuropa.
Wie das Bremer Denkwerk-Projekt zeigt, können diese Verknüpfungen heute allerdings nur in einzelnen Spuren forschend verfolgt werden, denn sie sind aus dem kulturellen Gedächtnis der Stadt Bremen und ihrer Akteure so gut wie gelöscht. Schließlich bewirken Projekte dieser Art Erkenntnisse, die vor allem eines verdeutlichen: Lokale Geschichte in Deutschland, aber auch in Europa, ist spätestens seit dem 18. Jahrhundert immer auch eine Verflechtungsgeschichte, eine globale, koloniale Geschichte der Versklavung.