Männer und Frauen sind Opfer moderner Sklaverei und extremer Arbeitsausbeutung. Frauen und Männer sind gleichzeitig Täterinnen und Täter. Die Anteile der Geschlechter an Opfern und Tätern sind jedoch ungleich verteilt: Frauen werden stärker ausgebeutet und versklavt als Männer. Warum ist das so?
Wir widmen uns dem Thema extremer Arbeitsausbeutung und Sklaverei in der heutigen Zeit aus einer Perspektive, die die Ambivalenz der Geschlechterverhältnisse jenseits einfacher Opfer-Täter-Schemata erfasst. Moderne Sklaverei definieren wir dabei als Oberbegriff für Zwangsarbeit, erzwungene sexuelle Ausbeutungen und einige Formen von Kinderarbeit.
Die ILO beziffert das weltweite Ausmaß der Betroffenheit von Frauen und Mädchen von Zwangsarbeit mit 55 Prozent nur wenig höher als die Betroffenheit von Männern und Jungen.
Wir werden daher zunächst auf Umstände eingehen, die bedingen, dass Frauen in stärkerem Ausmaß als Männer extremer Arbeitsausbeutung und Versklavung unterliegen. Wir illustrieren in einem zweiten Schritt die Bereiche sexuelle Ausbeutung, Haushalt und Pflege sowie Sonderwirtschaftszonen als diejenigen Arbeitsarenen, in denen Frauen nicht nur traditionellerweise besonders betroffen sind. Im dritten Teil wechseln wir die Blickrichtung und nehmen Frauen als Täterinnen, vor allem als Menschenhändlerinnen, unter die Lupe. Der Beitrag schließt mit Überlegungen zur Frage, was gegen moderne Sklaverei unternommen werden kann.
Bedingungen für Versklavungen
Aktuelle Fälle der Versklavung von Mädchen durch Boko Haram, einer islamistischen Terrormiliz im Norden Nigerias, zeigen einen Zusammenhang zwischen einer generellen Diskriminierung von Frauen in einer Gesellschaft und Formen der Ausbeutung.
Die basale Deklassierung von Frauen führt zu einem verengten Menschenrechtsverständnis.
Ein zweites Fundament, das mit dem ersten zusammenhängt und als Bedingung für die Versklavung von Frauen wirkt, sind globale Ungleichverhältnisse.
Dem Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) zufolge werden Frauen vor allem in Südostasien und im Pazifikraum zu Opfern von Menschenhandel im Zusammenhang mit Zwangsarbeit.
Schwerpunktbereiche
Es gibt drei Bereiche, in denen Frauen besonders in Gefahr sind, versklavt zu werden: sexuelle Ausbeutung, Haushalts- und Pflegearbeiten sowie Sonderwirtschaftszonen. Bei den ersten beiden handelt es sich um traditionelle Frauenarbeitsbereiche, zumeist gekennzeichnet durch äußerst geringe Löhne und geringe Anerkennung bis hin zu offener Abwertung der Tätigkeiten. Diese Bereiche werden darüber hinaus oftmals als privat bezeichnet. Damit sind Frauen viel stärker als Männer in Gefahr, unerkannt und ungeahndet ausgebeutet zu werden. Um die Versklavung und Ausbeutung von Frauen zu erkennen, ist es daher zunächst notwendig, den vermeintlich privaten Bereich immer im Zusammenhang mit dem sogenannten öffentlichen Bereich zu denken und die beiden Bereiche als aufeinander bezogen und in gegenseitiger Abhängigkeit zu erkennen.
Sexuelle Ausbeutung:
Es ist außerordentlich schwierig, belastbare Zahlen über das Ausmaß von Menschenhandel zum Zweck der Prostitution zu erheben. 2005 schätzte die ILO die Zahl der Menschen, die allein in den westlichen Industrieländern infolge von Menschenhandel Zwangsarbeit leisten müssen, wozu auch sexuelle Arbeitsausbeutung gerechnet wurde, auf 270.000.
Dabei sind es hauptsächlich vier Wege, auf denen Frauen in die Migration und Prostitution gezwungen werden:
Erstens durch Androhung oder Ausübung von Gewalt. Zweitens durch das Kreieren von "Schulden": "Den Frauen werden in den Zielländern etwa Einkommensmöglichkeiten im Bereich der Haushaltshilfe, Pflege, der Gastronomie oder als Tänzerinnen in Aussicht gestellt. Dort angekommen haben sie dann bereits mit der Fahrt – durch Reise-, Verpflegungskosten, Kosten zur Beschaffung von Visa und Pässen – ‚Schulden‘ gemacht",
Die Politikwissenschaftlerinnen Anne Dölemeyer und Rebecca Pates verweisen auf eine zusätzliche Diskriminierung sexuell ausgebeuteter Frauen:
Haushalts- und Pflegearbeiten:
Sämtliche Haushalts- und ein Großteil der Pflegearbeiten finden nach wie vor strikt arbeitsteilig nach Geschlecht und im sogenannten privaten Bereich statt. Dieser ist durch mangelnde öffentliche Regulierungen und Intransparenz gekennzeichnet. Somit sind hier insbesondere Frauen von Versklavung betroffen.
In der Europäischen Union wird die Erbringung von Pflegedienstleistungen durch die EU-Dienstleistungsrichtlinie geregelt. Diese nimmt aber den Bereich der Gesundheitsdienstleistungen aus. In Deutschland können somit (legal) keine grenzüberschreitenden Dienstleistungen erbracht werden, was dazu geführt hat, dass viele im EU-Ausland im Gesundheitssektor ausgebildete Frauen in Deutschland unter Qualifikationsniveau arbeiten. Auch müssen Dienstleistende, um Scheinselbstständigkeit zu verhindern, mehr als einen Auftraggeber vorweisen. Gerade dies ist aber im Pflegebereich, etwa im Fall von 24-Stunden-Betreuung, häufig nicht gegeben. Dadurch werden die Pflegearbeiterinnen in illegale Arbeitsverhältnisse zu ausbeuterischen Bedingungen gedrängt.
Sonderwirtschaftszonen:
Den dritten Bereich, in dem viel mehr Frauen als Männer von extremer Ausbeutung und Sklaverei betroffen sind, bilden arbeitsintensive Sektoren, die im Zuge der Globalisierung durch neoliberale Politik in Schwellen- und Entwicklungsländern entstanden sind. Häufig befinden sich diese in Sonderwirtschaftszonen, das heißt in räumlich abgegrenzten Gebieten, in denen es meist steuerliche Vergünstigungen gibt, aber auch niedrigere Standards bezüglich Umwelt- und Arbeitsrecht gelten als im übrigen Staatsgebiet.
Anders als bei sexueller Ausbeutung und Pflege- und Haushaltsarbeiten handelt es sich hierbei zunächst nicht um einen traditionellen Frauenarbeitsbereich. Der Großteil der Beschäftigten in diesen Sonderwirtschaftszonen ist jedoch weiblich, wobei der Anteil weiblicher Beschäftigter in der Textil- sowie in der Elektronikindustrie mit 90 Prozent besonders hoch ist. Die Beschäftigten haben meist unzureichenden Zugang zur Gesundheitsversorgung und sind oft unterernährt. Die langen Arbeitszeiten und Überstunden werden schlecht oder gar nicht vergütet, und sexuelle Belästigung und Zwang sind an der Tagesordnung.
Täterinnen
Zwischen 2010 und 2012 waren 28 Prozent der in der Europäischen Union wegen Menschenhandels festgenommenen Personen weiblich.
Neben Osteuropa und Zentralasien sind Frauen vor allem in Mittel- und Südamerika in Tätigkeiten des Menschenhandels eingebunden. Dabei sind sie meistens an Stellen von Menschenhandelsketten aktiv, die eine hohe Sichtbarkeit voraussetzen und deshalb riskanter und eher am unteren Ende der Hierarchie angesiedelt sind, zum Beispiel als Geldeinsammlerinnen, Rezeptionistinnen und Aufpasserinnen. Vor allem in Ländern, in denen ein hoher Anteil von Mädchen unter den Opfern von Menschenhandel zu finden ist, ist auch die Rate an Täterinnen hoch.
Auch nehmen Frauen im Menschenhandel oft Rollen ein, die häufige Interaktion mit dem Opfer mit sich bringen. Eine mögliche Erklärung für die Korrelation von Täterinnen und Mädchenhandel könnte darin liegen, dass Frauen vielfach zur Rekrutierung eingesetzt werden, da sie Mutterstereotype bedienen und ihnen unterstellt wird, einfacher das Vertrauen anderer Frauen und Mädchen gewinnen zu können.
Rechtliche Maßnahmen gegen moderne Sklaverei
Auf formaler Ebene wurde das gesetzliche Verbot von Sklaverei und extremer Arbeitsausbeutung stetig ausgeweitet. Dabei darf nicht vergessen werden, dass gesetzliche Verbote Ergebnisse lang anhaltender weltweiter Kämpfe sozialer Bewegungen für Menschenrechte sind und somit eine mühsam erworbene Errungenschaft darstellen. Es gibt heute verschiedene internationale EU-weite sowie nationale Gesetze, die die Geschlechterdimension moderner Sklaverei und extremer Arbeitsausbeutung anerkennen und Instrumentarien zu ihrer Bekämpfung bereitstellen. Die sogenannte Palermo-Konvention, das Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität (in Kraft seit 2003), und drei darauf beruhende Zusatzprotokolle bilden die internationale Rechtsgrundlage für Maßnahmen gegen Sklaverei. Hierbei ist vor allem das "Zusatzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels" von Bedeutung, das allerdings vorwiegend auf grenzüberschreitende Kriminalität fokussiert und nicht näher auf die verschiedenen Formen von Sklaverei und ihre geschlechtsspezifische Dimension eingeht.
Ebenfalls ein wichtiges Instrument auf internationaler Ebene ist die Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women (CEDAW). Sie gibt Frauenrechtsbewegungen ein wichtiges Instrument in die Hand, um Druck auf nationale Regierungen auszuüben, wenn diese zwar formal Sklaverei und Formen der Ausbeutung per Gesetz verbieten, bei der Umsetzung des geltenden Rechts aber zurückhaltend sind. Ein Beispiel für solche "Zurückhaltung" ist ein Fall aus Niger, wo der Nationale Gerichtshof die Klage einer Frau, die durch ihren Ehemann versklavt wurde, als Privatsache abtat, da beide ja miteinander verheiratet seien.
Ein weiteres wichtiges internationales Instrument besteht mit dem Optional Protocol to the CEDAW. Dieses bietet zwei Mechanismen, um gegen Verletzungen der Konvention vorzugehen: Zum einen können Frauen über die "Communication Procedure" Beschwerden einreichen; zum anderen ermöglicht die "Inquiry Procedure" dem UN-Komitee für den Status von Frauen, selbst Nachforschungen zum Klagegegenstand anzustellen.
In der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 wird zwar nur generell ein Verbot von Sklaverei und Zwangsarbeit ohne besondere Nennung von Frauen- und Kinderausbeutung ausgesprochen (Art. 4), die Konvention enthält aber explizit ein Diskriminierungsverbot (Art. 14). Am weitesten in Bezug auf die Anerkennung der Geschlechtsspezifik geht auf EU-Ebene die Richtlinie zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer: "Diese Richtlinie trägt dem Umstand Rechnung, dass Menschenhandel ein geschlechterspezifisches Phänomen ist und dass Frauen und Männer von Menschenhändlern oft zu unterschiedlichen Zwecken gehandelt werden." Aus dieser Grundannahme wird die Notwendigkeit geschlechtsspezifischer Unterstützungs- und Betreuungsmaßnahmen abgeleitet, denn "die Schub- und Sogfaktoren können je nach den betroffenen Sektoren unterschiedlich sein, wie zum Beispiel beim Menschenhandel zur Ausbeutung in der Sexindustrie oder zur Ausbeutung der Arbeitskraft zum Beispiel in der Bauindustrie, im Agrarsektor oder im häuslichen Bereich".
Neben diesen internationalen und EU-weiten Gesetzgebungen gibt es mehrere Regulierungen von regionalen Zusammenschlüssen wie der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (Economic Community of West African States, ECOWAS). Diese sprang auch im geschilderten Fall der nigrischen Frau ein und urteilte, basierend auf der Deklaration der Afrikanischen Menschen- und Völkerrechtskommission zur Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen, dass es sich sehr wohl um einen Fall von Sklaverei und nicht um "übliche Arbeitsteilung" in einer Ehe handle.
In Deutschland wird "Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung" in Paragraf 232 des Strafgesetzbuches von "Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft" in Paragraf 233 des Strafgesetzbuches unterschieden. Dass diese Unterscheidung Frauen, die von sexueller Arbeitsausbeutung betroffen sind, diskriminiert, haben wir bereits erwähnt. Damit wird deutlich, dass die bestehenden Gesetze nicht nur nicht ausreichen, um Sklaverei und extreme Arbeitsausbeutung zu verhindern, sondern Diskriminierungen bisweilen sogar begünstigen. Der Kampf gegen Sklaverei bleibt also weiterhin eine dringliche Aufgabe.
Akteurinnen im Kampf gegen Ausbeutung
Die Organisationen Terre de Femmes, UN Women und die International Alliance of Women sind Beispiele dafür, dass Frauenrechtsbewegungen längst kein Mauerblümchendasein mehr führen, sondern sich im Kampf für Frauenrechte und gegen die Ausbeutung von Frauen als mächtige, internationale Akteurinnen etabliert haben. Doch für von Sklaverei und extremer Arbeitsausbeutung Betroffene ist die politische Bühne zumeist nicht unmittelbar zugänglich. Ebenso wichtig wie die etablierten Frauenrechtsorganisationen sind also Grassroots-Bewegungen. So organisierten sich etwa indische Arbeiterinnen, die auf informeller Basis für Unternehmen Heimarbeit leisteten, in der Self Employed Women’s Association (SEWA). Um minimale rechtliche Standards für den bis dahin unregulierten informellen Sektor zu erreichen, legten sie eigene Formulierungsentwürfe für eine entsprechende Politik vor und wirkten stark auf die Abfassung der ILO-Konvention zu Heimarbeit ein. Ebenso organisieren sich migrantische Pflegearbeiterinnen in gegenseitiger Solidarität und bilden Mobilitäts- und Betreuungsnetzwerke, um mit den ausbeutenden Arbeitsbedingungen zurechtzukommen.
Wie wir gezeigt haben, sind vor allem Frauen von Sklaverei und Arbeitsausbeutung betroffen. Sie spielen jedoch nicht ausschließlich als Opfer eine Rolle, sondern treten auch als Aktivistinnen maßgeblich in Erscheinung. Und schließlich gibt es auch Frauen, die zu (Mit-)Täterinnen werden und sich am menschenverachtenden Geschäft der Sklaverei beteiligen. Auch in Deutschland gibt es Sklaverei und extreme Arbeitsausbeutung, sie geschieht tagtäglich und mitten unter uns. Wer sich für eine Abschaffung von Sklaverei einsetzen möchte, kann sich bei verschiedenen Organisationen wie dem Bundesweiten Koordinierungskreis gegen Menschenhandel (KOK) informieren und engagieren.