Wir sehen keine weitere politische Möglichkeit, als in den unbegrenzten Hungerstreik zu treten", hieß es im Oktober 2012 in einer Erklärung von Geflüchteten, die in Berlin für die Anerkennung als politische Flüchtlinge und die Rechte von Asylsuchenden protestierten. Mit dieser Protestbewegung wurden Hungerstreiks wieder zum Gegenstand der politischen Debatte in Deutschland. Als Praktik des Protests und Widerstands etablierten sich Hungerstreiks bereits im frühen 20. Jahrhundert und waren seither wiederholt Wegmarker politischer und gesellschaftlicher Transformationen: In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts traten beispielsweise Revolutionäre im russischen Zarenreich, britische Suffragetten oder Gegner des Kolonialismus in Indien in Hungerstreiks. In den 1970er und 1980er Jahren waren es Mitglieder der IRA in Nordirland, politische Gefangene des Apartheidsystems in Südafrika und Protestierende am Tiananmen-Platz in Peking, deren Nahrungsverweigerungen politische Diskussionen prägten.
Dieser kurze Ausschnitt zeigt, dass Hungerstreiks weltweit angewendet wurden. Die Forschung zur Globalgeschichte der Hungerstreiks steckt aber erst in ihren Anfängen. Anspruch dieses Beitrages ist es, ein Panorama dieser Praxis zu skizzieren und auf die Geschichte ihrer weltweiten Ausbreitung einzugehen. Unter Hungerstreiks verstehe ich Nahrungsverweigerungen, die zeitgenössisch ausdrücklich als Protestmittel verstanden wurden. Ich untersuche sie dabei als eine soziale Praxis – das heißt, ich gehe ihrer Anwendung und den Debatten, die sie begleiteten, nach. Dabei gilt es zu beachten, dass Hungerstreiks als menschliche Handlung und soziale Interaktion historischem Wandel unterworfen sind. Ich untersuche sie somit nicht als universelle Verhaltensregel, sondern blicke auf die historischen und kulturellen Konstellationen, die sie ermöglicht, nahegelegt oder geprägt haben. Obwohl sich Nahrungsverweigerungen auch in früheren Epochen feststellen lassen, nehme ich bewusst davon Abstand, antike und frühneuzeitliche Formen von Nahrungsverweigerungen als Hungerstreiks zu identifizieren. Vielmehr argumentiere ich, dass Hungerstreiks um 1900 als politisch-kulturelles Phänomen auftraten.
Im Folgenden diskutiere ich erstens das Aufkommen von Hungerstreiks im historischen Kontext des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Zweitens widme ich mich ihrer transnationalen Etablierung als politische Protestform im 20. Jahrhundert. Abschließend werde ich auf die Zwangsernährung von Hungerstreikenden eingehen und am Beispiel der Bundesrepublik ein Schlaglicht auf die politischen und medizinethischen Debatten über die Grenzen des individuellen Selbstbestimmungsrechts über den menschlichen Körper werfen. Obwohl Hungerstreiks meist in direkter Opposition zu Regierungen oder staatlichen Institutionen erklärt wurden, waren sie oft in gleichem Maße an die mediale Öffentlichkeit, solidarische politische Bewegungen und das streikende Subjekt selbst gerichtet. Die Interpretation und Deutung von Hungerstreiks war dabei stets ein umkämpftes Feld.
Spurensuche: Hungern – Streiken
Bereits der Begriff "Hungerstreik" deutet darauf hin, dass zur Erforschung seiner Geschichte vor allem die gesellschaftliche Auffassung von Ernährung und Hunger, aber auch Neuformierungen von Staatlichkeit und politischen Bewegungen im 18. und 19. Jahrhundert ins Auge gefasst werden müssen. Hungerstreiks als politisch-kulturelles Phänomen sehe ich dabei nicht als direkte kausale Folge dieser Entwicklungen, vielmehr sind diese als Bedingungen der Möglichkeit zum Hungerstreik zu verstehen.
Die Transformation der Agrarwirtschaft im Zuge der technisch-industriellen Entwicklungen des 18. und 19. Jahrhunderts läutete keineswegs das Ende von Hungerkrisen ein. Aber nichtsdestoweniger war um 1900 – dies gilt jedenfalls für den euroamerikanischen Raum – ein radikaler Wandel in der gesellschaftlichen Wahrnehmung und Thematisierung des Hungers zu verzeichnen: Hunger wurde nicht mehr als Folge individuellen Fehlverhaltens oder göttlicher Strafe wahrgenommen, sondern als ein gesellschaftliches und potenziell lösbares Problem – und damit als Aufgabe eines Staates, dessen Regierungstechniken zunehmend daran ausgerichtet waren, das Leben der Bevölkerung zu sichern. Hungernde Körper wurden nun als Mittel der politischen Kritik mobilisiert, denn der leidende Körper war in das Zentrum politischer Kampagnen und Auseinandersetzungen gerückt. Die philanthropischen Bewegungen zur Abschaffung der Sklaverei und der Folter seit Mitte des 18. Jahrhunderts können als prägend für die Etablierung dieses Motivs angesehen werden. In ihren Kampagnen verwendeten sie Erzählungen und Bilder, die sich auf eine Universalisierung des menschlichen Leidens stützten, um Mitleid zu erregen und die Identifikation der Adressatinnen und Adressaten mit den Leidenden zu befördern. Damit etablierte sich ein Argumentationsmuster, das den Begriff der Menschlichkeit in den Vordergrund rückte und an das Individuum als ein ethisch handelndes Subjekt appellierte.
Die Schilderungen von Hungerstreik und Zwangsernährung zu Beginn des 20. Jahrhunderts griffen diesen Topos auf. Der hungernde und zwangsernährte Körper als leidender Körper eröffnete die Möglichkeit, Öffentlichkeit für politische Anklagen zu schaffen und eine behördliche Reaktion zu forcieren. Denn im Gegensatz zu den politischen Strukturen der Frühen Neuzeit wurde die Verantwortung für das Wohl und das Leben der Bevölkerung nun dem Staat zugeschrieben. Das galt insbesondere für die Institutionen, in denen sich Menschen unter direkter staatlicher Aufsicht befanden – allen voran Klinik, Psychiatrie und Gefängnis. Als inhaftierte Aktivistinnen für das Frauenwahlrecht in Großbritannien (Suffragetten) ab 1909 in Hungerstreiks traten, sah die Regierung zwischenzeitlich keine andere Wahl, als die vorübergehende Freilassung der bürgerlichen Frauen anzuordnen. Doch der britische Staat reagierte auch mit der Zwangsernährung der Inhaftierten. Diese skandalisierten die Suffragetten als Folter und dockten mit Berichten und Zeichnungen der unter Zwang mittels Naseneinlauf vorgenommenen Ernährung an Bilder aus der Folterkammer an. Eine hitzig geführte Debatte brach in der Öffentlichkeit und der medizinischen Profession darüber aus, ob die Zwangsernährung eine gerechtfertigte Maßnahme zur Lebenserhaltung oder aber eine Form medizinischer Folter sei. Sie endete erst, als die Suffragetten mit Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 ihre Kampagne einstellten.
Die "humanitäre Entdeckung" des Hungers, wie der Historiker James Vernon den Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung und Behandlung des Hungers nennt, hatte eine weitere Auswirkung auf die Symbolik von hungernden Körpern. Hungern als subjektive Entscheidung – und nicht als Folge des ökonomischen Mangels oder von Naturkatastrophen – konnte nun auch moralische Stärke repräsentieren und als besonderes Können wahrgenommen werden. Diäten und Fastenpraktiken wurden im späten 19. Jahrhundert breit diskutiert und erprobt, und das Phänomen Hungerkunst wurde von Beobachtern, obschon irritiert, doch als bewundernswert anerkannt. Auch von den Suffragetten wurde die Nahrungsverweigerung als Beweis ihrer Willenskraft und Charakterstärke angeführt. Die Betonung von Stärke und Durchsetzungsvermögen war ebenfalls ein wichtiger Bestandteil in der Rhetorik der linksrevolutionären Arbeiterbewegung. Der Hungerstreik fungierte hier als körperlicher Beweis von Entschlossenheit und Opferbereitschaft. Alexander Berkman, einer der bekanntesten und einflussreichsten Anarchisten in den USA und darüber hinaus, schrieb 1914 über die Hungerstreiks der Suffragetten: "(T)hey have demonstrated that the determination and will power of the strong personality (…) is more potent than the strongest government." Das Motiv der Stärke und Militanz wurde auch mittels der Metapher vom Hungerstreik als Waffe unterstrichen. Lucy Burns, amerikanische Aktivistin für das Frauenwahlrecht, schrieb 1918 über ihre Hungerstreiks: "We used the political prisoners’ weapon of the hunger strike (…), which makes the prisoner stronger against his oppressors, the weaker his body grows." In ihrer Stellungnahme spiegelt sich sowohl das Motiv des leidenden Körpers als auch die symbolische Stärke der Hungerstreikenden wider.
Die "neue Waffe": Globalisierung des Hungerstreiks im frühen 20. Jahrhundert
Lucy Burns’ Formulierung – "wir nutzen die Waffe der politischen Gefangenen" – weist darauf hin, dass sie ein bestimmtes Anwendungswissen rezipiert hatte. Auch Medien wie die "New York Times" schrieben, wenngleich in weniger militanter Sprache, mit den Hungerstreiks habe im Westen ein neues Instrument aus Sibirien Eingang in die politische Auseinandersetzung gefunden. In der Tat waren die Hungerstreiks von russischen Sozialrevolutionären (Narodniki) in Gefängnissen des Zarenreiches ab 1878 die ersten, die Eingang in die internationale Presseberichterstattung fanden. Mit ihnen etablierte sich auch der Begriff "Hungerstreik". Der US-amerikanische Journalist und Forschungsreisende George Kennan übersetzte ihn aus dem Russischen (Golodovka) ins Englische. Kennan berichtete zwischen 1885 und 1890 für das "Century Magazine" über die Exilgefängnisse in Sibirien. Seine Artikel und Vorträge sowie sein 1891 in Buchform erschienener Reisebericht "Siberia and the Exile System" hatten eine große internationale Reichweite. Kennan und die Kampagnen der 1890/91 gegründeten "Society of Friends of Russian Freedom", präsentierten die Hungerstreikenden in den russischen Gefängnissen als Opfer einer despotischen zaristischen Autokratie und prägten damit das Bild des Zarenreiches in liberalen und linken politischen Kreisen der USA und Westeuropas.
Die britischen Suffragetten nutzten die Hungerstreiks ab 1909 auch als bewusste Skandalisierung ihrer Behandlung in den britischen Gefängnissen. Sie argumentierten, diese sei "inferior in some respects to that which Russian political prisoners are receiving today". Mit der aus dem russischen Zarenreich bekannten Protestpraktik ließen sich öffentlichkeitswirksam auch die Bedingungen in den vermeintlich reformierten und humaneren Strafvollzugsanstalten der USA skandalisieren. Ihr Hungerstreik in einem New Yorker Gefängnis hätte gezeigt, so die Anarchistin Becky Edelsohn 1914: "(T)here is no choice between governments: that one is as tyrannical and brutal as the other." Auch in den politischen Argumentationen der westlichen Arbeiterbewegung wurden die Hungerstreiks angeführt, um die klaffende Lücke zwischen dem postulierten humanitären Anspruch der Institutionen und der erlebten Realität in den Gefängnissen zu skandalisieren. Die Rote Hilfe (eine den Kommunisten nahestehende Rechtshilfeorganisation) schrieb 1925, der Hungerstreik von 75 Gefangenen in der Strafanstalt Fuhlsbüttel hätte gezeigt, "wie es mit dieser Humanität (im Strafvollzug, M. B.) bestellt" sei. In den politisch turbulenten 1920er Jahren häuften sich Berichte von Hungerstreiks linksrevolutionärer Oppositioneller. In der Weimarer Republik und auch in der Sowjetunion griffen sie verstärkt auf die "Waffe der politischen Gefangenen" zurück. "The hunger-strikes (…) have become chronic. No Czarist prison has ever known such a stream of never-ending hunger-strikes", hieß es in einer Erklärung von Gefangenen in der Sowjetunion 1922.
Für die globale Ausbreitung des Hungerstreiks ist zudem das britische Empire als gemeinsamer Raum politischer Debatten bedeutsam. Denn den britischen Suffragetten folgten ab 1912 ihre irischen Gleichgesinnten – und bald darauf männliche Akteure der irischen Unabhängigkeitsbewegung. Im Zuge der Kämpfe für ein unabhängiges Irland traten insbesondere zwischen 1917 und 1920 zahlreiche Gefangene in Hungerstreiks. Da diese aufgrund der Popularisierung durch die Suffragetten mit Weiblichkeit assoziiert wurden, betrachtete sie die männlich dominierte Partei Sinn Féin zunächst skeptisch. Dies änderte sich spätestens mit den Hungerstreiks von 1920, bei denen unter anderem Terence MacSwiney, Bürgermeister von Cork, nach 73-tägiger Nahrungsverweigerung in Haft starb. Nun erklärten die irischen Nationalisten, die Hungerstreiks seien eine besonders männliche und katholische Praxis. Dieses Beispiel zeigt zum einen die Bedeutung der gesellschaftlichen Konstruktion von Weiblichkeit und Männlichkeit, zum anderen, dass globale Praktiken des Hungerstreiks häufig an lokale Traditionen anknüpften.
Auch in Indien wurden Hungerstreiks als probates Mittel des Widerstands gegen die Kolonialherrschaft angesehen. Man orientierte sich an Fastentraditionen von Hindus und Sikhs und verfolgte aufmerksam die Hungerstreiks der Suffragetten und der irischen Nationalisten. Die sozialistischen Revolutionäre Bhagat Singh und Jatinder Nath Das, der als "indischer Terence MacSwiney" gefeiert wurde, nahmen sich die irischen Hungerstreikenden zum Vorbild, während Mohandas Gandhi seine Fastenpraktiken von den Hungerstreiks MacSwineys und der militanteren Revolutionäre um Singh unterschieden wissen wollte. Gandhis Fastenaktionen, die er auch außerhalb der Gefängnismauern veranstaltete, sollten als Teil des ethischen Lebenskonzeptes Satyagraha verstanden werden. Sie seien auf die moralische Stärke und den Zusammenhalt der Bevölkerung auf dem Subkontinent ausgerichtet gewesen.
Hungerstreiks und Fastenaktionen blieben in Indien eine wichtige Form des politischen Protests, beispielsweise während des zwischen 1975 und 1977 verhängten Ausnahmezustands. Mit Gandhis Fastenpraktiken etablierte sich aber auch eine neue Sichtweise auf Hungerstreiks, die nun vermehrt als Form gewaltfreien politischen Protests angesehen wurden. Seine Überlegungen beeinflussten die sozialen Bewegungen in den USA und Westeuropa, beispielsweise die Landarbeiterbewegung, das Civil Rights Movement und die "Neue Linke" in den USA. Hungerstreiks waren in dieser Zeit, den 1960er bis 1980er Jahren, weltweit als Bestandteil der politischen Kultur etabliert. Ob in Chile, Südafrika oder der Sowjetunion – auf allen Kontinenten wurden Hungerstreiks praktiziert und diskutiert. Trotz vieler Zweifel an der Praxis wurde sie immer wieder als unumgänglich erachtet: "Wenn sie trotz (…) (der Schwächung des Organismus, M. B.) einen Hungerstreik auf sich nehmen, tun sie das nur, weil die Umstände sie dazu zwingen und die Zahl ihrer Kampfmittel gering ist", hieß es 1976 in einem Band mit Dokumenten und Interviews zur Lage der Gefangenen in der Sowjetunion, der im Auftrag von Amnesty International zusammengestellt wurde. Die Erfolge von Hungerstreiks dürften nicht ausschließlich daran gemessen werden, ob Forderungen erfüllt worden seien oder nicht. Vielmehr müsse auch beachtet werden, dass durch Hungerstreiks höhere Instanzen der Regierung und Institutionen sowie die Öffentlichkeit auf Missstände aufmerksam gemacht würden. Hungerstreiks zeigten sich in dieser Hinsicht als eine Praxis, die in einer Situation begrenzter Handlungsautonomie wieder Räume für andere Mittel der Kommunikation und des politischen Protestes eröffnen sollte. Wurden Hungerstreiks als "letztes Mittel" beschrieben, so war dies nicht nur als ein rhetorischer Kniff, sondern insbesondere als Ausdruck der (subjektiv empfundenen) Ausweglosigkeit ernst zu nehmen.
Kampf um Souveränität: Zwangsernährung von Hungerstreikenden im Gefängnis
Die Konjunktur von Hungerstreiks in den 1970er Jahren führte auch zu erneuten Debatten über die Frage, ob die Hungerstreikenden sterben dürften oder gegen ihren zuletzt geäußerten Willen am Leben erhalten werden müssten. In der Bundesrepublik wurde diese Frage ein Jahrzehnt lang heftig debattiert. Ausgelöst wurde die Diskussion durch den Tod des RAF-Mitgliedes Holger Meins Anfang November 1974 infolge eines Hungerstreiks. Während vor allem Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion vorschlugen, nicht auf die Hungerstreiks von RAF-Gefangenen zu reagieren, hieß es im Sozialdemokratischen Pressedienst im November 1974: "Die These (…), man sollte diese Häftlinge ihrem Schicksal überlassen oder gar ausliefern, ist unmenschlich. (…) Es ist nicht nur unsere humanitäre, sondern auch unsere Rechtspflicht, jedes mögliche und zumutbare Mittel einzusetzen, um diese Häftlinge am Leben zu erhalten." Doch der Vorgang der Zwangsernährung, bei der noch in den 1970er Jahren eine Nährlösung mithilfe eines Plastikschlauches durch die Nase in die Speiseröhre gepumpt wurde, war mit immensen Schmerzen verbunden und konnte zu schweren Verletzungen führen. Kritikerinnen und Kritiker beurteilten sie daher als schwerwiegenden Eingriff in die körperliche Unversehrtheit und Würde der Gefangenen. Auch der Weltärztebund hielt 1975 in der Erklärung von Tokio fest, dass eine künstliche Ernährung gegen den Willen eines zurechnungsfähigen Gefangenen zu unterlassen sei. In der Bundesrepublik ebbte die Debatte um die Zwangsernährung 1985 mit der "Koma-Lösung" ab. Mithilfe der neuen medizinischen Technik der Ernährung durch Infusion, die zur Lebenserhaltung komatöser Patientinnen und Patienten entwickelt wurde, konnte bei Hungerstreikenden mit einer künstlichen Ernährung begonnen werden, sobald diese das Bewusstsein verloren.
Diskussionen über die Zwangsernährung offenbarten nicht erst in den 1970er Jahren, dass es auch um Fragen der Souveränität über den menschlichen Körper und das Leben ging. Alfred Döblin lässt Franz Biberkopf, die tragische Hauptfigur des Romans "Berlin Alexanderplatz" (1929), dies anschaulich beschreiben: "Da sterben jeden Tag in Berlin 100 Menschen, und wenn einer krank ist, will kein Doktor zu einem kommen (…). Nun kommen sie alle angelaufen, aber die kommen gar nicht an, weil sie mir helfen wollen. Denen bin ich heute so schnurz, wie ich gestern schnurz war, denen bin ich vielleicht interessant, und darum ärgern sie sich über mir, dass sie mit mir nicht fertig werden. Und das wollen sie sich nicht gefallen lassen, aber partout nicht, sterben ist gegen die Hausordnung hier, gegen die Anstaltsdisziplin." Mit Hungerstreik und Zwangsernährung wurde der Körper zum Terrain der Auseinandersetzung. Die Nahrungsverweigerung im Gefängnis stellt sich als ein Mittel des Widerstands gegen die "Anstaltsdisziplin" und, insbesondere in Isolationshaft, Individualisierung dar. Denn Nahrungsaufnahme und Essensrationierung konnten wichtige Mittel der Disziplinierung von Gefangenen sein. Der Soziologe Erving Goffman schrieb in seiner Studie zu totalen Institutionen, dass der Entzug der subjektiven Entscheidung über Zeitpunkt, Art und Weise der Ernährung einen erheblichen Eingriff in die Handlungsautonomie darstelle. Dem körperlichen Drang zu widerstehen, Nahrung aufzunehmen, kann somit als Versuch angesehen werden, Souveränität über den eigenen Körper zu demonstrieren. Hungerstreiks sind dabei auch als eine nach innen gerichtete Beherrschung der eigenen Affekte zu verstehen.
Als kollektive Praxis mehrerer Gefangener konnten Hungerstreiks indes auch ein soziales Gefüge konstituieren oder aktualisieren, das Identifizierungsangebote jenseits der Gefängnishierarchie bereitstellte und im Falle politischer Bewegungen aus den Mauern des Gefängnisses herausreichen konnte. "(Dem Bürgertum, M.B.) wird die Opferwilligkeit des Proletariats stets ein Rätsel bleiben, denn es kennt nicht (…) das Bewusstsein proletarischer Solidarität. Hunger, Kerkermauern, hinter Gittern, in Not und Elend, in Fesseln geschlagen, wissen sich die proletarischen Kämpfer stets eins mit dem großen Heer des Proletariats der ganzen Welt", schrieb 1925 die Rote Hilfe in ihrer Broschüre zum Hungerstreik der 75 Gefangenen.
Hungerstreik: Eine soziale Praxis
In den meisten Fällen endeten Hungerstreiks nicht tödlich – sei es, weil Forderungen (teilweise) erfüllt wurden, eine Zwangsernährung angeordnet oder der Streik beendet wurde. Trotz der signalisierten Bereitschaft zur Selbstopferung ging es vielen Hungerstreikenden um die Verbesserung auch der persönlichen Lebensumstände: "We are not searching for death – we are looking for real life", hieß es in einer Erklärung der Hungerstreikenden am Tiananmen-Platz in Peking 1989.
Jene oben zitierte Opferwilligkeit, und damit die Potenzialität des Todes, war nichtsdestoweniger Teil der Diskurse um Hungerstreiks. "Sie haben ihn verenden lassen wie eine Ratte und sind mit sich und der Welt zufrieden", stellte der Dichter Erich Mühsam 1921 anlässlich des Hungerstreiks eines kommunistischen Genossen fest, der keine Protestwelle ausgelöst oder internationale Aufmerksamkeit generiert hatte. Dass nicht jeder Hungerstreik öffentlich betrauert wurde und als Anlass politischer Protestkampagnen diente, verweist erstens auf Grenzen des Mitleids für leidende Körper und damit auf die Bedeutung des sozialen und kulturellen Kontextes für humanitäre Argumentationen. Zweitens wird deutlich, dass die Kommunikation mit – und damit der Zugang zu – einer Öffentlichkeit eine wichtige Dimension von Hungerstreiks war und ist. Dies gilt auch für den Fall von politischen Selbstopferungen. Das eigene Leben stellvertretend für andere beziehungsweise ein höheres Ziel zu opfern, kann nur Wirkung entfalten, wenn dies mit Praktiken der Kommunikation verknüpft ist. Hungerstreiks sind so stets als soziale Praxis im Hinblick auf ihre symbolische, politisch-instrumentelle, psychologisch-körperliche und kommunikative Dimension hin zu befragen und zu verstehen.