Hunger in der Welt ist ein Dauerthema öffentlicher und medialer Diskurse. Hunger beziehungsweise Unterernährung, von der wir im Folgenden sprechen werden, ist dabei lediglich ein Phänomen der globalen Ernährungskrisen.
Die erste Dimension der globalen Ernährungskrisen stellen ihre Ausprägungen dar. Neben Unterernährung und Überernährung, die selbsterklärend sind, gibt es in dieser Dimension noch das Problem des verborgenen Hungers. Er zeichnet sich durch einen "Mangel an lebenswichtigen Vitaminen und Mineralstoffen (Mikronährstoffen)" aus.
Die zweite Dimension ist geprägt von Herausforderungen an aktuelle und zukünftige Ernährungssysteme und Ernährungsweisen. Dazu zählen unter anderem die Ressourcenverknappung, der Bevölkerungsanstieg, der Flächenverbrauch von verschiedenen Anbauweisen und der Klimawandel.
Die dritte Dimension befasst sich mit der Zeitabhängigkeit von Ernährungskrisen. Ernährungskrisen gab es bereits in der Vergangenheit, es gibt sie aktuell und es wird sie auch zukünftig noch geben. Die anderen Dimensionen einer Ernährungskrise müssen also immer in ihrem zeitlichen Kontext betrachtet und verstanden werden, um adäquate Lösungsstrategien zu entwickeln.
Die vierte Dimension besitzt eine geografische Komponente. Die vielen Ernährungskrisen weltweit (Unterernährung, Überernährung, verborgener Hunger) werden häufig akkumuliert und als globale Ernährungskrise gefasst. Sinnvoller erscheint es uns aber, von vielen einzelnen Ernährungskrisen in einem globalen Rahmen zu sprechen. Deshalb ist es auch nicht zweckmäßig, im Ernährungsbereich stets in den Globalen Norden und den Globalen Süden einzuteilen. Ernährungskrisen sind konflikthaft, unter anderem weil sie oft nicht daraus resultieren, dass zu wenig Nahrung verfügbar ist, sondern auf Verteilungskonflikte innerhalb und zwischen Staaten verweisen.
Der Blick auf diese vier Dimensionen verdeutlicht, dass Ernährungskrisen sich in einem komplexen Netz von Einflussfaktoren abspielen. In den vergangenen 45 Jahren wurden auf internationaler politischer Ebene verschiedenste Anstrengungen zur Bekämpfung des weltweiten Hungers unternommen; zu den bekanntesten zählen die Millenniumsentwicklungsziele (MDGs) der UN. Viele der Maßnahmen zeitigten allerdings nur mäßigen Erfolg. Gleichzeitig drohen globalisierte Herausforderungen – insbesondere der Klimawandel und seine Folgen – heutige Ernährungssysteme weiter zu destabilisieren und globale Ernährungskrisen zu entgrenzen.
Der Begriff der "Nachhaltigkeit" gewinnt an Relevanz im Diskurs um globale Ernährungskrisen. Gleichzeitig lässt sich im Nachhaltigkeitsdiskurs der vergangenen Jahre ein Trend erkennen, die Umweltdimension (eine der drei Säulen des klassischen Nachhaltigkeitsverständnisses, neben der ökonomischen und der soziokulturellen Dimension) als notwendigen Rahmen der Entwicklung menschlicher Gesellschaften stärker hervorzuheben.
Im Folgenden analysieren wir daher, inwiefern das Konzept einer "neuen Nachhaltigkeit" zur Bekämpfung beziehungsweise Einschränkung zukünftiger Ernährungskrisen beitragen kann. Nach einer Erläuterung unseres Verständnisses der neuen Nachhaltigkeit untersuchen wir, inwieweit letztere sich in jüngeren Entwicklungen niederschlägt, insbesondere in der internationalen Politik und bei Ernährungstrends auf Konsumentenseite.
Neue Nachhaltigkeit und planetare Grenzen
Auf politischer Ebene ist die hohe Bedeutung, die dem Wandel zu einer neuen Nachhaltigkeit beigemessen wird, durchaus erkennbar. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) spricht von einer dringend notwendigen "Großen Transformation" zu einer nachhaltigen, postfossilen Gesellschaft, deren Ansätze bereits erkennbar seien.
Veranschaulicht wird dies durch die Diskussion und Erforschung planetarer Grenzen beziehungsweise Leitplanken, die beachtet werden müssen, um Umweltschäden auf einem "akzeptablem Niveau" zu halten.
Für das Thema Ernährungssicherheit und -souveränität sind die planetaren Grenzen besonders relevant. Zum einen tragen aktuelle, nicht nachhaltige Ernährungssysteme beträchtlich dazu bei, dass Grenzen überschritten werden. Zum anderen können durch das Überschreiten von Grenzen die Möglichkeiten der Nahrungsmittelproduktion eingeschränkt werden, etwa durch fortschreitende Ressourcenverknappung und die Auswirkungen des Klimawandels. Hier wird die Relevanz der planetaren Grenzen für die Dimension "Herausforderungen" im oben erläuterten Modell deutlich. Als eines von vielen Beispielen für die Relevanz planetarer Grenzen für Ernährung möchten wir hier den Phosphorkreislauf erwähnen. Als Bestandteil von Düngemitteln ist Phosphor unerlässlich für die Landwirtschaft und damit für die Ernährungssicherheit.
Zurzeit sind mindestens vier planetare Grenzen – Verlustrate der biologischen Vielfalt, Phosphor- und Stickstoffkreisläufe, Klimawandel und veränderte Landnutzung – überschritten.
Ansätze einer neuen Nachhaltigkeit in der internationalen Politik?
Der "Kampf gegen den Hunger" steht bereits seit der ersten Welternährungskonferenz 1974 auf der Agenda der internationalen Staatengemeinschaft. Das erste Ziel der im Jahr 2000 verabschiedeten MDGs lautete "Hunger und extreme Armut beseitigen". Nachdem die MDGs 15 Jahre lang den Rahmen für nationale und internationale Bemühungen zur Bekämpfung des Hungers vorgaben, stand die internationale Staatengemeinschaft vor der Herausforderung, sich auf eine "Post-2015-Agenda" zu verständigen. Nach einem mehrjährigen Diskussionsprozess wurde im September 2015 die "Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung" mit ihren 17 SDGs einstimmig von den UN-Mitgliedsstaaten verabschiedet. Die Reaktionen waren teils euphorisch. So lobte selbst die im Bereich Entwicklung und Umwelt tätige Nichtregierungsorganisation Germanwatch den "kaum für möglich gehaltenen Meilenstein"
Untrennbare Verbindung von Entwicklung und Nachhaltigkeit:
Im Gegensatz zu den MDGs integrieren die SDGs ein breites Spektrum von Zielen zur ökologischen, ökonomischen und sozialen Entwicklung
Universelle und transformative Ziele:
Richteten sich die MDGs noch hauptsächlich an die Regierungen des Globalen Südens, nehmen die SDGs erstmalig auch die OECD-Staaten in die Pflicht, was einen großen Fortschritt darstellt. So erfordern Ziele wie "Nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster sicherstellen" fundamentale Veränderungen auch im "Entwicklungsland" Deutschland.
Viele SDGs und Unterziele besitzen einen Bezug zur Ernährungssicherheit.
Nachhaltige Ernährungstrends?
Bisher haben wir vor allem wissenschaftliche Forschungen und politische Entwicklungen im Kontext der Ernährung betrachtet. Es gibt aber viele weitere Akteure, die zentrale Bedeutung besitzen, wenn es darum geht, nachhaltigen Ernährungssystemen zur Durchsetzung zu verhelfen. Den wichtigsten Akteur stellt aus unserer Sicht die Bevölkerung dar, deren Beitrag wir nun, in gebotener Kürze, betrachten. Wir werden den Schwerpunkt dabei auf einige aktuelle und zukünftige Ernährungstrends legen.
Mit der zunehmenden Urbanisierung gehen auch Herausforderungen hinsichtlich der Ernährungssicherheit einher (beispielsweise Flächenverbrauch, Veränderung der Ernährungsgewohnheiten). In Bezug auf die Ernährungsgewohnheiten der Bevölkerung erwarten Experten, dass die Urbanisierung zu einem höheren "Außer-Haus-Verzehr" führen wird.
Neben der "Außer-Haus-Ernährung" zeichnet sich ein weiterer Trend ab: eine erhöhte Virtualität bei der Nahrungsmittelversorgung. Viele Grundnahrungsmittel, aber auch spezielle Nahrungsmittel, die man im Supermarkt oder Discounter in der Nähe nicht bekommt, werden online bestellt. So nutzen beispielsweise gesundheitsbewusste chinesische Konsumenten das Internet, um gezielt ökologisch produzierte Lebensmittel bei Händlern ihres Vertrauens zu beziehen. Derzeit weiten alle Anbieter ihr Onlineangebot stetig aus, und zahlreiche neue Händler arbeiten rein onlinebasiert, unter anderem um Mietkosten in innerstädtischer Lage zu vermeiden.
Neben dem Ort, an dem wir unser Essen zukünftig kaufen und verzehren, werden sich auch die Produkte drastisch ändern. So wird vermehrt die Möglichkeit einer Ernährung basierend auf Insekten diskutiert.
Fazit
Inwiefern schlägt sich der Trend zu einer neuen Nachhaltigkeit also in aktuellen Entwicklungen auf Ebene der internationalen Politik und der Konsumierenden nieder? Unserer Einschätzung nach ergibt sich ein gemischtes Bild. So zeichnet sich mit den SDGs in der internationalen Politik ein Paradigmenwechsel zur Nachhaltigkeit ab. Der Schwenk zu einer neuen Nachhaltigkeit wird aber bislang nicht vollzogen. Auch auf Konsumentenseite stehen nachhaltigere Ernährungstrends solchen gegenüber, die die Einhaltung planetarer Grenzen konterkarieren.
Unabhängig von seiner Verbreitung stellt sich die Frage, welchen Beitrag das Konzept einer neuen Nachhaltigkeit zur Bekämpfung beziehungsweise Einschränkung globalisierter Ernährungskrisen leisten kann. Um die vielen Krisen im Bereich der Ernährung wie beispielsweise den Hunger weltweit in den Griff zu bekommen, ist ein grundlegender Wandel notwendig. Unserer Meinung nach bedarf es dazu einer kompletten Neuausrichtung auf nachhaltige Nahrungsmittelproduktion und Ernährungsweisen. Eine Orientierung an den planetarischen Grenzen ist dabei Grundvoraussetzung, um gefährliche Veränderungen im Erdsystem zu verhindern, die sich gravierend auf die Ernährungssicherheit auswirken könnten. Statt Alleingängen von einzelnen Akteuren werden hier koordinierte Veränderungen auf sämtlichen Ebenen notwendig. Hier braucht es globale Leitziele oder Leitplanken, an denen sich das innen- und außenpolitische Handeln der Staaten ausrichten muss. Die SDGs fungieren als solche, nennen aber bislang keine Grenzwerte. Umso größeres Gewicht liegt auf ihrer Umsetzung. Ihr Erfolg wird auch davon abhängen, wie entschieden die Staaten kohärente Politiken zwischen verschiedenen innerstaatlichen Ressorts, etwa Wirtschafts- und Entwicklungspolitik, aber auch eine koordinierte internationale Zusammenarbeit unter dem Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung forcieren. NGOs und einer kritischen Öffentlichkeit kommt dabei die Aufgabe zu, öffentlichkeitswirksam politischen Druck auf Entscheider aufzubauen.
Während die Einhaltung der planetarischen Grenzen eine Grundvoraussetzung zur Minderung von Ernährungskrisen – und insbesondere zur Sicherung zukünftiger Ernährungssysteme – ist, muss bedacht werden, dass sie nicht ausreicht, um globalisierte Ernährungskrisen in Gänze zu bekämpfen. Hunger und Ernährungskrisen sind nicht allein auf ein mangelndes Nahrungsangebot oder umweltschädliche Produktionsbedingungen zurückzuführen. Oft spielt der eingeschränkte Zugang bestimmter Bevölkerungsgruppen eine zentrale Rolle, unter anderem aufgrund von Diskriminierung, kriegerischen Auseinandersetzungen oder Landgrabbing.