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Welthunger und Welternährung | Hunger | bpb.de

Hunger Editorial Der Hunger Welthunger und Welternährung Relevanz einer "neuen Nachhaltigkeit" im Kontext globaler Ernährungskrisen Hunger in der Geschichte des 20. Jahrhunderts Hunger als literarisches Experiment Hungerstreiks. Notizen zur transnationalen Geschichte einer Protestform im 20. Jahrhundert Hungern im Netz

Welthunger und Welternährung

Michael Brüntrup

/ 15 Minuten zu lesen

Der Beitrag bietet einen Überblick über die Definitionen von Hunger, Unter- und Fehlernährung, schildert Perspektivwechsel in diesem Feld und skizziert mit einem kritischen Blick auf Messmethoden Stand und Trends der Welternährung.

In der internationalen Debatte hat sich folgende Definition von Ernährungssicherheit durchgesetzt: "Food security exists when all people, at all times, have physical, social and economic access to sufficient, safe and nutritious food which meets their dietary needs and food preferences for an active and healthy life." Die Europäische Union hat dafür folgende Übersetzung, die der Tatsache Rechnung trägt, dass Unterernährung nicht nur ein Zustand ist, sondern es ein fundamentales Recht auf Nahrung gibt: "Die Ernährungssicherheit ist ein Menschenrecht. Sie ist gegeben, wenn alle Menschen jederzeit in physischer, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht Zugang zu ausreichenden, unbedenklichen und nahrhaften Nahrungsmitteln haben, die ihrem Ernährungsbedarf und ihren Ernährungsgewohnheiten im Hinblick auf ein aktives und gesundes Leben entsprechen."

Bei der Diskussion um Welthunger und -ernährung ist es wichtig, einige grundsätzliche Unterscheidungen präsent zu haben, die sich hinter der allgemeinen Definition verbergen: Zunächst muss unterschieden werden zwischen Hunger, Unter- oder Mangel- und Fehl- beziehungsweise Überernährung. Hunger bezieht sich auf (das Fehlen von) Nahrungsenergie beziehungsweise Kalorien – meist werden 1800 Kilokalorien pro Person und Tag als Mindestbedarf angenommen. Unter- beziehungsweise Mangelernährung bezieht sich auf die (nicht ausreichende) Versorgung mit Energie, aber auch Eiweiß, Spurenelementen, Vitaminen und anderen lebenswichtigen qualitativen Bestandteilen der Nahrung. Fehlernährung ist die unausgewogene Zusammensetzung von Nahrung, die beispielsweise auch ein Zuviel an Energie enthalten kann und dann mitverantwortlich für Übergewicht ist. Der Ernährungszustand eines Menschen ist aber nicht nur von der Menge und Zusammensetzung der aufgenommenen Nahrung abhängig, sondern auch von der Zubereitung der Speisen, von Hygiene und Krankheitszustand und damit vom Absorptionsvermögen des Körpers. Außerdem ist er auch abhängig von Verbrauch und individuellem Bedarf, der je nach Aktivität und Zustand des Körpers sehr unterschiedlich sein kann.

Die weitere Operationalisierung von Ernährungssicherheit wird meist entlang der vier "Säulen" Verfügbarkeit, Zugang, Nutzung und Stabilität diskutiert. Auf die Verschiebung der Gewichtung der Säulen und der Aspekte, auf die sie sich beziehen, wird im Weiteren eingegangen. Es sei aber schon hier darauf hingewiesen, dass sie stärker miteinander verknüpft sind, als es ihre "Versäulung" glauben lässt. So gibt es zwischen Verfügbarkeit und Zugang meist einen engen Zusammenhang. Besonders eng ist er bei Subsistenzlandwirten – sie haben Zugang zu der Nahrung, die sie selber anbauen. Diese Quelle ist meist instabil aufgrund von Witterungsschwankungen, Krankheits- und Schädlingsbefall sowie Schwankungen der Arbeitskapazität beispielsweise aufgrund von Krankheiten, die teilweise wiederum ernährungsbedingt sind.

Falls Verfügbarkeit und Zugang getrennt sind, geschieht der Ausgleich meistens über den Markt. Dabei stellen sich Gleichgewichtspreise ein, die grundsätzlich vom Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage nach Produkten und konkurrierenden Produkten bestimmt werden. Einerseits haben Menschen mit niedrigem Einkommen oft Schwierigkeiten, hohe Nahrungsmittelpreise zu zahlen (Zugangsproblem) und sind dann schnell ernährungsunsicher. Andererseits erzielen Bauern, die Agrarprodukte verkaufen, bei niedrigen Preisen auch nur ein niedriges Einkommen, das ihnen wenig Spielraum für den Einkauf von anderen Nahrungsprodukten (Zugangsproblem) oder für Gesundheitsausgaben (Nutzungsproblem) lässt. Bei hohen Preisen müssen arme Haushalte, die Nahrungsmittel zukaufen, oft auf billige Produkte ausweichen, meist stärkelastige Grundnahrungsmittel wie Maniok oder Kartoffeln (Zugangs- und Nutzungsproblem). Müssen sie auch noch einen höheren Anteil ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben, haben sie weniger Geld für Hygiene oder Gesundheit, was wiederum die Nahrungsnutzung verschlechtert.

Falls die Nahrungsmittelvorräte knapp sind und die Marktlage angespannt ist, führen Ernteschwankungen schnell zu großen Preisschwankungen. Enge, schlecht integrierte Nahrungsmittelmärkte, auf denen nur wenige Prozent der Ernte verkauft werden, führen bei Ernteschwankungen zu wesentlich höheren Preisschwankungen (Stabilitätsproblem) als gut integrierte Märkte, die auf hohen Verkaufsanteilen beruhen. Aber selbst große Agrarmärkte weisen bedeutende Preisschwankungen auf, dies ist ein typisches Merkmal des Sektors. Teilweise werden die "natürlichen" Schwankungen durch politische und externe wirtschaftliche Schocks zusätzlich angeheizt. Während der letzten Nahrungsmittelkrise 2007/08 beispielsweise führte eine Kombination aus leeren Lagern, Biospritproduktion und Export- und Handelsrestriktionen für Nahrungsmittel zu extremen Preisausschlägen auf dem Weltmarkt. Finanzmarktspekulationen und Hortung heizten die Preise zusätzlich an. Diese schlugen stark auf nationale Märkte auch von Entwicklungsländern durch und sorgten für eine kurzfristige massive Ausweitung von Hunger, wirtschaftlichem Stress und politischen Unruhen. Längerfristig haben die hohen Preise dann zu hohen Produktionssteigerungen und Preisverfall geführt, aber auch zu weiteren Unsicherheiten.

Insgesamt ist es stets angebracht, Ernährungssicherung zunächst als eine integrierte Herausforderung zu sehen und die "Säulen" nur als gedankliche Krücken.

Wie sich Perspektiven auf Hunger und Ernährung ändern

In einer historischen Perspektive sind permanente Knappheit an Nahrung und große Hungersnöte wesentliche Begleiter der Menschheitsgeschichte. Zumindest seit der Erfindung des Ackerbaus waren lokale Bevölkerungsdichte und -zahl stark von der Verfügbarkeit von lokal produzierter Nahrung abhängig. Kleine Körpergrößen in frühen Stadien der landwirtschaftlichen Entwicklung deuten häufig auf generelle Unterversorgung hin. Vielleicht nicht in durchschnittlichen Jahren, aber während besonders problematischer Perioden dezimierten Fehlernten immer wieder die menschlichen Populationen. Der wesentliche limitierende Faktor war die Verfügbarkeit von Nahrungsenergie. Mangelernährung war sicher ebenfalls ein wichtiges Element, aber da die meisten Menschen Selbstversorger waren, eine gewisse Bandbreite an Nahrungsprodukten anbauten und aus Wald oder Gewässern Wildprodukte holten, waren qualitative Aspekte der Ernährung wahrscheinlich weniger zentral. Sie waren eher für niedrige Lebenserwartung aufgrund von allgemein schlechter körperlicher Verfassung und geringer Widerstandskraft gegenüber Krankheiten verantwortlich. Aus dieser historischen Perspektive, die bis Mitte des 20. Jahrhunderts einige Gültigkeit hatte, erklärt sich der starke Fokus früherer internationaler Diskussionen zur Ernährungssicherheit auf Hunger und auf Landwirtschaft als wichtigsten Weg zu ihrer Verbesserung.

Mit der zunehmenden Verfügbarkeit von Nahrung durch die Errungenschaften der modernen Agrarwissenschaften (hier ist explizit nicht von den ökologischen Folgen die Rede, dazu unten mehr) und des modernen Transportwesens ist Mangel an Nahrungsverfügbarkeit ein zunehmend seltenes Problem. Nur in Regionen, die nicht gut in nationale und internationale Märkte eingebunden sind, sind Menschen nach wie vor von der lokalen Produktion für den Zugang zu Nahrung abhängig. Zwar leben auch viele Kleinbauern noch hauptsächlich von der Subsistenzproduktion und hängen damit für ihre Ernährungssicherung stark von der Produktion ab. Aber hätten sie ausreichend finanzielle Mittel, könnten die meisten von ihnen den größten Teil des Jahres Nahrung zukaufen. Ihr Problem ist eher der Mangel an Einkommen, das aus dem Verkauf landwirtschaftlicher Produkte und aus nicht-landwirtschaftlichen Tätigkeiten stammen kann. Die großen Produktions-, Preis- und damit Einkommensschwankungen im Agrarsektor sowie der Mangel an alternativen Einkommensquellen und oft unzureichende Transfersysteme verhindern den besseren Zugang der ländlichen Bevölkerung zu Nahrungsmitteln. Die städtische Bevölkerung ist sogar weitgehend auf den Zugang zu Nahrungsmitteln als Weg zur Ernährungssicherung angewiesen, zusätzlich zu städtischer Landwirtschaft, die in urbanen Regionen von Entwicklungsländern eine gewisse Rolle spielt. Dass nicht Verfügbarkeit, sondern Zugang der Schlüssel für Ernährungssicherung ist, darauf wies insbesondere der Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen in den 1980er Jahren hin. Mittlerweile gilt die Verbesserung des Zugangs, über Einkommensschaffung der Armen und über Sozialtransfers, als Königsweg der Ernährungssicherung. Damit einher geht eine Verschiebung der sektoralen Zuständigkeit für Ernährungssicherheit von der Landwirtschaft zur Wirtschafts- und Sozialpolitik. Diese Perspektive setzt allerdings stillschweigend voraus, dass die Produktion weiterhin mit dem Verbrauch zumindest Schritt halten kann.

In den vergangenen Jahren gab es eine weitere Verschiebung der Perspektive auf Ernährungssicherheit, die noch in vollem Schwung ist: auf die Nutzung von Nahrung, worunter neben nahrungsbezogenen Aspekten wie Zubereitung und Verteilung innerhalb des Haushaltes – wichtig insbesondere für Frauen, Alte und Kinder – auch Gesundheit, Hygiene, Wasser und ähnliche Faktoren zählen. Im Deutschen mag diese Perspektive sprachlich nicht so stark auffallen, da wir den englischen Begriff food security meistens mit Ernährungs- und nicht mit dem treffenderen Begriff der Nahrungssicherheit übersetzen. Tatsächlich ist die Perspektivverschiebung aber wesentlich, denn es stellt sich heraus, dass es zwar einen groben Zusammenhang zwischen Einkommen und Ernährungszustand sowohl auf der nationalen Ebene als auch auf der Haushaltsebene gibt, dass es aber ganz erhebliche Streubreiten gibt. Ein Haushalt berücksichtigt bei der Nutzung von (erhöhtem) Einkommen ein Bündel von Konsumzielen, von denen Nahrung nur eines ist. Ausgaben für Hygiene wie Toiletten oder bessere Trinkwasserversorgung sind weitere Ziele, die ebenfalls verfolgt werden müssten, um den Ernährungszustand zu verbessern. Dies ist teilweise recht kostspielig, daher ist die "Übersetzung" von Einkommen in Ernährung unter solchen Voraussetzungen geringer. Außerdem müssen sich häufig auch tief verwurzelte, kulturelle Gewohnheiten ändern wie die Speisezusammenstellung und -zubereitungsart oder Hygieneverhalten, was neben Einkommen auch Bildung und Bewusstsein erfordert, die sich eventuell wesentlich langsamer ändern. Schließlich sind Ausgabenpräferenzen eines Haushaltes wesentlich davon abhängig, wer über das Einkommen verfügt. Häufig wird beispielsweise festgestellt, dass sich Einkommen und Bildung bei Frauen stärker auf den Ernährungszustand von Kindern auswirken als bei Männern. Bei der Rolle des Staates ergibt sich aus der Perspektivverschiebung eine Verlagerung von monetären Maßnahmen hin zu Bildung, Aufklärung, Investitionen in Gesundheit, Trinkwasser und Hygiene sowie die stärkere Kontrolle und Verbesserung von Nahrungsmitteln mit wichtigen Spurenelementen und Vitaminen (Fortifikation), die der einzelne Haushalt kaum im Blick hat.

Eine weitere neue Perspektive auf das Thema Welternährung zumindest in Entwicklungsländern gilt der Überernährung. Mit einem Überschuss von Nahrung, insbesondere von früher eher ungewohnten beziehungsweise kostbaren Inhaltsstoffen wie Zucker oder Fetten, bei gleichzeitigem Abbau von körperlicher Arbeit und Bewegung werden menschliche Psyche und Physis, evolutionär auf Mangel getrimmt, nicht einfach fertig. Menschen essen zu viel und ernähren sich falsch, was zur Zunahme von Krankheiten wie Herz- und Kreislauferkrankungen oder Diabetes führt. Dieses Phänomen, das in Industrieländern schon seit einigen Dekaden zu einer großen Herausforderung für das Individuum, aber auch für Gesundheitssysteme und Wirtschaftsleistung geworden ist, greift in den Entwicklungs- und Schwellenländern rasch um sich, weil dort die Übergänge von der Mangel- zur Überschusssituation und von schwerer körperlicher zu anderen Arbeiten sowie privatem Bewegungsmangel sehr schnell stattfinden. Wissen, Kultur und Gewohnheiten ändern sich nicht rechtzeitig. Die politischen Konsequenzen dieser Perspektivverschiebung sind, ähnlich wie bei der Betonung von Fehlernährung, ein vermehrter Bedarf an Bildung und Aufklärung. Allerdings sind die Zielgruppen und damit die im Detail notwendigen Maßnahmen häufig ganz andere, da in den Entwicklungsländern Übergewicht eher ein Phänomen der Ober- und Mittelschichten ist und nicht wie in den Industrieländern vornehmlich der Unterschichten.

Ein letzter Perspektivwechsel auf Ernährungssicherheit deutet sich zurzeit an: das zunehmende Verschmelzen von Ernährungs- und ökologischen Nachhaltigkeitsfragen. Im Bereich der kleinbäuerlichen Subsistenzproduktion ist dies ein länger bekanntes Thema: ohne ökologische Nachhaltigkeit der Produktion keine nachhaltige Ernährungssicherung, ohne diversifizierten Anbau keine diversifizierte und damit nährstoffreiche und ausgewogene Nahrung. Im größeren, gar globalen Maßstab wurde diese Verbindung bisher weniger hergestellt – Produktion und Konsum waren getrennte Domänen. Zunehmend wird jedoch diese Verbindung auch auf höherer Ebene gesehen: Einerseits trägt die Landwirtschaft (auch Fischerei und Forst) zu einem erheblichen Teil zu lokaler und globaler Verschmutzung, Degradierung von natürlichen Ressourcen, Artenschwund und Klimawandel bei und untergräbt damit ihre eigenen Grundlagen, die der Menschheit und vieler Ökosysteme. Andererseits ist ein wesentlicher Hebel zur Änderung nicht im Produktions-, sondern im Konsumsystem zu finden: Umstellung von Ernährungsgewohnheiten, insbesondere bei tierischen Produkten, aber auch Bedeutung von Verbraucherpräferenzen zur Steuerung der Produktionsweisen. Außerdem muss Kreislaufwirtschaft angesichts der zunehmenden Urbanisierung und der Verknappung einiger essentieller Stoffe, insbesondere des weder bei Pflanzen noch bei Tieren und Menschen ersetzbaren Phosphats, weitergedacht werden: Die organische Substanz, zumindest die wichtigsten Inhaltsstoffe aus den urbanen Zentren müssen zurück auf die Produktionsflächen. Auch die Energienutzung in Nahrungssystemen muss weiterentwickelt werden: Die moderne Landwirtschaft und die arbeits- und ortsteiligen Nahrungssysteme setzen einerseits enorme fossile Energie- und Rohölmengen ein für Dünger, Arbeitsenergie, Transport, Verarbeitung, Lagerung oder Abfallbeseitigung. Andererseits sind die Land- und die Forstwirtschaft die wichtigsten Lieferanten von erneuerbarer Energie und Öl ersetzenden Rohstoffen. Hier müssen wesentliche Fortschritte bei der Vernetzung bisher relativ unabhängiger Systeme gemacht werden – Stichwort "Bioökonomie". Für die Politikgestaltung ergeben sich aus diesem Perspektivwechsel große Aufgaben für eine grüne Innovations- und Strukturpolitik.

Stand und neuere Trends von Welthunger und Welternährung

Für die vergangenen etwa 30 Jahre liegen deutlich bessere Daten zur Verfügung als für frühere Zeiträume. Es soll aber bereits hier darauf hingewiesen werden, dass die Erstellung von Statistiken von Hunger-, Mangel- und Fehlernährung schwierig ist und die Datenlage viel zu wünschen übrig lässt. Immer wieder kommt es zu wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen über Zahlen, Mess- und Berechnungsmethoden. Als beispielsweise nach der Agrarpreiskrise 2007/08 der Indikator der Welternährungsorganisation FAO für die Anzahl der Hungernden zunächst sprunghaft anstieg und dann, nach einer Änderung der Berechnungsart, wieder fiel, wurde von Manipulation gesprochen. Auch der Vergleich mit Grenzwerten oder internationalen Zielsetzungen macht die Interpretation nicht immer einfacher, da sie häufig willkürlich und ohne die Berücksichtigung von Querbeziehungen gezogen wurden. Wie einfach die unterschiedliche Deutung selbst scheinbar klarer Daten ist, wird auch im Folgenden bei der Präsentation ausgewählter Statistiken zur Lage von Welthunger und -ernährung deutlich werden. Für die wesentlich komplexere Datenlage zu Mangel- und Fehlernährung gilt dies noch stärker als für Unterernährung.

Der wichtigste Indikator der weltweiten Ernährungssicherheit ist die Zahl der Menschen, die nicht ausreichend mit Kalorien versorgt wurden (Unterernährung). Laut dem letzten Welternährungsbericht der FAO waren 2015 weltweit 795 Millionen Menschen unterernährt (Tabelle 1). Das waren 167 Millionen weniger als zehn Jahre zuvor und 216 Millionen weniger als 1990 bis 1992, was als Referenzzeitraum für diese Statistik gilt. Diese Angaben beruhen nicht auf Messungen an Menschen, sie entstehen aus Extrapolationen von Verfügbarkeit und Verteilung. Die FAO verrechnet in einer komplizierten Formel die verfügbaren Kalorien auf Landesebene mit dem errechneten Bedarf für mittlere Körperaktivität aller Menschen und entsprechend der Einkommensverteilung der privaten Haushalte. Der große Vorteil dieses Indikators ist, dass er für (fast) jedes Land leicht errechnet werden kann und nicht von Erhebungen abhängt, die teuer, schwierig, oft unregelmäßig und nicht repräsentativ sind. Der Nachteil ist, dass er nur eine grobe Abschätzung der Hungerproblematik ist, da in Entwicklungsländern weder für die Nahrungsverfügbarkeit noch für die Einkommensverteilung wirklich gute, zeitnahe Daten zur Verfügung stehen. Außerdem ignoriert er den tatsächlichen Zugang und die Nutzung der Nahrung für einzelne Haushalte und Personen. Das Entwicklungsziel des Welternährungsgipfels von 1996, als sich 182 Länder dazu verpflichteten, die Zahl der Hungernden auf der Welt bis 2015 zu halbieren, wurde nach dieser Statistik deutlich verfehlt.

Tabelle 1: Anzahl der Hungernden weltweit und in ausgewählten Weltregionen (in Millionen) (© bpb)

Bezieht man die Hungernden relativ auf die gesamte Einwohnerzahl der Entwicklungsländer, die sich in der Zeitspanne fast verdoppelt hat, ergibt sich eine andere Perspektive (Tabelle 2): Der Anteil der Hungernden reduzierte sich von 23,3 auf 12,9 Prozent, also um 10,4 Prozentpunkte oder 45 Prozent. Damit ist eine andere Selbstverpflichtung der internationalen Staatengemeinschaft, das Milleniumsziel 1c von 2000, den Anteil der Hungernden bis 2015 relativ zum Jahr 1990 zu halbieren, fast erreicht. Immerhin 72 Länder waren hier erfolgreich. Die großen Unterschiede zwischen absoluten und relativen Änderungen von Hunger auf der Welt ergeben sich durch unterschiedliche Ausgangspunkte und Bevölkerungswachstumsraten.

Tabelle 2: Anteil der Hungernden weltweit und in ausgewählten Weltregionen (in Prozent) (© bpb)

Will man auch den Ernährungszustand beurteilen, muss man auf andere Kennzahlen zurückgreifen. Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO leiden etwa zwei Milliarden Menschen an Mangelernährung aufgrund von Mikronährstoffmangel verschiedenster Art. Es gibt unterschiedliche, für den Laien meist verwirrende Maßzahlen. Am überzeugendsten ist es, sich die Auswirkungen aus dem Zusammenspiel vieler Faktoren auf die schwächsten und empfindlichsten Mitglieder der Gesellschaft anzuschauen: Kleinkinder. Der Welthungerindex (WHI), der vom International Food Policy Research Institute (IFPRI) berechnet wird, kombiniert den relativen FAO-Wert für Unterernährung der Gesammtbevölkerung aus Tabelle 2 mit drei anderen Indikatoren – Anteil von Kindern unter fünf Jahren mit Auszehrung (Körpergewicht in Bezug auf Körpergröße, Maßzahl für akute Unterernährung), Wachstumsverzögerung (Körpergröße in Bezug auf Alter, Maßzahl für chronische Unterernährung) sowie Sterblichkeit – zu einem nationalen Index. Dadurch wird der auf individueller Ebene gemessene Ernährungszustand Teil des Indexes und damit sowohl die Verteilung innerhalb von Haushalten als auch Fehlernährung berücksichtigt. Allerdings beruhen diese Indikatoren nur auf der Messung bei Kindern, also nur einem kleineren Teil der Bevölkerung, und werden nicht jedes Jahr landesweit gemessen. Insbesondere der Sterblichkeitsindex beruht nicht nur auf dem Ernährungszustand, sondern auch auf anderen Faktoren (etwa 50 Prozent wird dem Ernährungszustand zugesprochen, hauptsächlich durch größere Anfälligkeit für Krankheiten).

Für 2015 lag der gewichtete globale WHI bei 21,7, 2005 bei 27,9 und 1990 bei 35,4 (Tabelle 3). Also ergibt sich auch hier eine klare Abnahme weltweit von 13,7 Prozentpunkten über den gesamten Zeitraum oder 39 Prozent, vergleichbar mit dem Milleniumsziel 1c.

Tabelle 3: Welthungerindex weltweit und in ausgewählten Regionen (zwischen 0=bester und 100=schlechtester Wert) (© bpb)

Regional ergeben sich allerdings deutliche Unterschiede bei Niveau und Trend der Hungerentwicklung. In Südasien (dahinter steht vor allem Indien) leben mit 281 Millionen Menschen die meisten Hungernden, gefolgt von Subsahara-Afrika und Ost- und Südostasien. In absoluten Zahlen ist fast ausschließlich Ost- und Südostasien für die Reduzierung des Hungers verantwortlich, wohinter sich insbesondere die Entwicklung in China verbirgt, aber auch einige andere bevölkerungsreiche Länder wie Vietnam oder Kambodscha. In Subsahara-Afrika hat sich die Anzahl der Hungernden mit 44 Millionen deutlich erhöht, und auch im Nahen Osten (Westasien) haben die absoluten Werte zugenommen. In Prozenten der Ausgangswerte ausgedrückt war dort der Anstieg besonders drastisch.

Andere Perspektiven auf die Ernährungssicherung im regionalen Vergleich ergeben sich, wenn man von den relativen Änderungen ausgeht. Auch hier liegt Südostasien an der Spitze mit einer Reduktion von 16 Prozentpunkten beim FAO-Wert, gefolgt von Subsahara-Afrika. Aber beim WHI führt Südasien mit 18,3 Prozentpunkten vor Ost- und Südostasien und Subsahara-Afrika. Bezieht man die Prozentpunkte der Verbesserung auf den Startwert 1990, liegen Südostasien und Lateinamerika beim FAO-Wert fast gleichauf mit 62 beziehungsweise 63 Prozent, beim WHI-Wert führt sogar Lateinamerika mit 58 vor Südostasien mit 54 Prozent. Subsahara-Afrika, das internationale Sorgenkind der Entwicklungspolitik, hat sich immerhin um 10 Prozentpunkte beim FAO-Wert und um 15 Prozentpunkte beim WHI verbessert, was bezogen auf den Ausgangszeitraum 30 beziehungsweise 32 Prozent ausmachte.

Andere Probleme stellen sich bei der Bekämpfung von Fehl- und vor allem von Überernährung. Praktisch überall auf der Welt ist Übergewicht ein wachsendes Problem. Mittlerweile gelten doppelt so viele Menschen (1,9 Milliarden) als übergewichtig wie als untergewichtig. Tabelle 4 zeigt, dass selbst in Afrika (hier allerdings inklusive Nordafrika) der Trend schwerer Fettleibigkeit sich sehr problematisch und rasch entwickelt. Nur in einem (Nauru) von 193 Ländern gab es eine leichte Verbesserung. In vielen Entwicklungsländern gibt es mittelweile einen nennenswerten Anteil (bis zu 16 Prozent) an Haushalten mit übergewichtiger Mutter und mindestens einem untergewichtigen Kind. In manchen Industrie- aber auch Schwellenländern sind über die Hälfte aller Erwachsenen massiv übergewichtig. Das Problem der "doppelten Ernährungsbelastung" erfasst landesweit oft mehr als 50 Prozent der Haushalte.

Tabelle 4: Verbreitung von Fettleibigkeit bei erwachsenen Männern und Frauen weltweit und in ausgewählten Weltregionen (in Prozent der Bevölkerung) (© bpb)

Man sieht also: Bei der Interpretation der Statistiken und der Zuschreibung politischer Verantwortung sind gerade bei den relativen Indikatoren große Spielräume gegeben. Je nach Zusammenstellung des Vergleichs lassen sich manche Regionen mal besser, mal schlechter darstellen. Fast in jeder Beziehung aber ist Subsahara-Afrika globales Schlusslicht. Doch auch hier gibt es Lichtblicke, die beweisen: Hunger und Unterernährung sind auch unter schwierigen Bedingungen bekämpfbar. Es ist eine der zentralen Aufgaben der Länder, aber auch der internationalen Staatengemeinschaft, dieses Ziel tatkräftig zu verfolgen und das Menschenrecht auf Nahrung überall zu verwirklichen. Dabei muss man fairerweise beachten, dass es je nach Ausgangslage und Ländertyp unterschiedlich schwierig ist, Hunger zu bekämpfen.

Ist der Hunger nicht sehr weit verbreitet und ist das Einkommensniveau eines Landes relativ hoch, wie es beispielsweise in Lateinamerika meist der Fall ist, sollte es möglich sein, den Hunger über Zugangsmaßnahmen (Sozialprogramme, Arbeitsbeschaffung, gezielte Aufklärung) zu bekämpfen. Probleme ergeben sich bei der Zielgenauigkeit der Maßnahmen. Ist der Hunger jedoch weit verbreitet und das Einkommensniveau des Landes niedrig, ist Hungerbekämpfung schwieriger. Breitenwirksame Arbeits- und Einkommensförderung ist dann die wirksamste Strategie – leichter gesagt als getan. Kleinbäuerliche Produktionssteigerungen in der Landwirtschaft sind oft besonders breitenwirksam, aber von vielen Faktoren abhängig. In Regionen mit schwacher und schwankender Verfügbarkeit von Nahrung, was vor allem für abgelegene ländliche Regionen gilt, muss gegebenenfalls stark in die Produktion und/oder Lagerung speziell von Nahrungsmitteln und/oder in die Infrastruktur (Straßen, Kommunikation) investiert werden. Die Bekämpfung von Fehl- und Überernährung muss deutlich anders gelagert sein als die von Unter- und Mangelernährung – während mit steigendem Einkommen Unterernährung fällt, steigt gleichzeitig die Überernährung. Aufgrund der Komplexität von Welthunger und Welternährung und ihrer Bestimmungsgründe, die sich je nach Land, Bevölkerungsgruppe und Region unterscheiden können, müssen Maßnahmen jeweils maßgeschneidert zusammengestellt werden.

Dr. ing. agr., geb. 1961; wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Nachhaltige Wirtschafts- und Sozialentwicklung, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik, Tulpenfeld 6, 53113 Bonn. E-Mail Link: michael.bruentrup@die-gdi.de