Von Musterschülern zu Problemkindern?
Zwischenbilanz der politischen Transformation
Dieter Segert
/ 17 Minuten zu lesen
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Nach gut 25 Jahren fällt die Demokratie-Bilanz für Ostmitteleuropa leider nicht so gut aus, wie erhofft. Denn trotz unbestreitbarer Erfolge gab es auch unliebsame Überraschungen. Was können ältere Demokratien aus diesen Entwicklungen lernen?
Die vier Visegrád-Staaten wurden in den 1990er Jahren als Vorreiter des Transformationsprozesses von autoritären Regimen zur Demokratie betrachtet. 1999 traten Polen, Tschechien und Ungarn der NATO bei, die Slowakei folgte 2002, 2004 wurden die vier Staaten EU-Mitglieder. Elf Jahre danach sind alle vier Länder jedoch mit spezifischen Problemen der demokratischen Entwicklung konfrontiert und das Außenbild hat sich, vor allem im Falle Ungarns, deutlich ins Negative verändert. Im Beitrag wird diese Bilanz aus politikwissenschaftlicher Sicht analysiert und bewertet: Hat dieser Wandel von Musterschülern zu Problemkindern vielleicht nur in den Augen der Betrachter stattgefunden? War die Einschätzung der anfänglich positiven Entwicklung der vier Staaten nur Wunschdenken? Darüber hinaus wird der Kern der Demokratieprobleme in den vier Staaten aus Sicht der Demokratietheorie betrachtet. Schließlich wird nach den Lehren für uns gefragt: Können die "alten Demokratien" aus den Problemen der "Visegrád 4" etwas lernen?
Erste Anzeichen politischer Probleme ab 2000
In den 1990er Jahren wurde die demokratische Entwicklung in den vormaligen Reformstaaten Polen und Ungarn als sehr positiv wahrgenommen: Die bis 1989 regierenden Kommunisten wurden spätestens 1991 durch andere Parteien abgelöst. Auch weitere Regierungswechsel gingen durch freie Wahlen problemlos über die Bühne. Neue Verfassungen wurden verabschiedet. In Ungarn entstand bis 1998 ein stabiles Zweiparteiensystem. In Polen waren die Verhältnisse auf Ebene der Parteien instabiler, doch die beiden großen politischen Lager, Postsolidarność-Parteien und postkommunistische Parteien, erfüllten eine ähnliche Funktion beim friedlichen Wechsel von Regierung und Opposition. Die Tschechoslowakei entwickelte sich unter der Präsidentschaft des im Westen bekannten und anerkannten Präsidenten Václav Havel ebenfalls sehr positiv. Die Teilung des Landes in die Tschechische und die Slowakische Republik zum 31.12.1992 verlief im Unterschied zu der Jugoslawiens friedlich. Bezogen auf die Slowakei wurden mit der nationalpopulistischen Regierung unter Vladimír Mečiar ab 1994 die ersten Probleme wahrgenommen. Aber mit der neuen Regierung unter Mikuláš Dzurinda ab 1998 wandelte sich auch diese Wahrnehmung ins Positive.
Bereits vor Ausbruch der globalen Wirtschaftskrise und den damit verbundenen Turbulenzen tauchten Anfang der 2000er Jahre in den vier Staaten die ersten Probleme auf. Polen machte den Anfang. Hier vollzog sich 2005 der Zusammenbruch eines der zentralen Akteure des Parteiensystems der vorangegangenen Jahre: Die bis dahin mehrfach regierende postkommunistische Demokratische Linksallianz (SLD) verlor 2005 nicht nur die Mehrheit, sondern ihre Unterstützung schmolz auf ein Viertel der 2001 erreichten Größenordnung zusammen. Seither lösen sich zwei erst 2001 gegründete Parteien des Solidarność-Lagers an der Regierung ab: Bürgerplattform (PO) und Recht und Gerechtigkeit (PiS). Die Wahlbeteiligung fiel bei dieser Wendewahl mit knapp 41 Prozent selbst für Polen niedrig aus. Größere Aufmerksamkeit erzielte die nationalpopulistische PiS in den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2005. Bis 2007 regierte dann eine Koalition aus drei populistischen Parteien.
Nach den Problemen in Polen kam es in Ungarn 2006 zu politischen Ausschreitungen. Ausgehend von einer ursprünglich internen Rede in der Parlamentsfraktion der Regierungspartei Ungarische Sozialistische Partei (MSzP), die aber kurz vor den Regionalwahlen im Herbst 2006 veröffentlicht wurde, kam es zu teilweise gewaltsamen Demonstrationen in Budapest. Die Opposition stellte die parlamentarische Zusammenarbeit ein und ging auf Konfrontationskurs. Zwar hielten die Sozialisten bis zur regulären Parlamentswahl 2010 durch, aber sie verloren massiv an Unterstützung. 2010 erhielten sie dann weniger als die Hälfte der Stimmen der vorangegangenen Wahl. Die bisherige Oppositionspartei Ungarische Bürgerunion (Fidesz) gewann dank eines disproportionalen Wahlsystems eine für Verfassungsänderungen ausreichende Mehrheit der Mandate. Drittstärkste Partei wurde die rechtsradikale Bewegung für ein besseres Ungarn (Jobbik). Letztere vertrat ethnisch-nationalistische, rassistische Ansichten insbesondere gegenüber den Roma. Mit Fidesz und Jobbik gelangten anti-europäische und nationalistisch-revisionistische Ansichten zu politischer Bedeutung.
In den verbleibenden zwei Staaten kam es etwas später zu demokratiepolitisch bedenklichen Umbrüchen. In der Slowakei war bereits 2006 mit der Slowakischen Nationalpartei (SNS) eine Partei in der Regierung vertreten, die ethnisch-nationalistisch argumentierte und den konservativ-autoritären slowakischen Staat während des Zweiten Weltkrieges positiv bewertete. Die stärkste Regierungspartei Richtung Sozialdemokratie (SMER-sd) gewann Einfluss durch populistische Parolen. In Tschechien gewannen seit den Wahlen 2010 die populistischen Parteien Tradition, Verantwortung, Prosperität (TOP 9) und Öffentliche Angelegenheiten (VV) an Einfluss und wurden Teil der Regierungskoalition.
Ausgehend von diesen problematischen Tendenzen in den vier Staaten muss man sich rückblickend die Frage stellen, ob es nicht schon in den 1990er Jahren verdeckte Demokratiedefizite gegeben hat, die nur unter dem Eindruck der positiven Grundhaltung gegenüber dem postsozialistischen Osteuropa in der westlichen Öffentlichkeit übersehen wurden (und teilweise noch heute – was die Demokratiemessung durch "Nations in Transit" beziehungsweise BTI betrifft – übersehen werden).
Bei genauerem Hinsehen fallen die abnehmende Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger auf, sich politisch zu engagieren sowie die Instabilität der Institutionen der repräsentativen Demokratie. Auf dieser Grundlage wurde bereits vor einigen Jahren eine selektive Demokratie beziehungsweise eine latente Krise der repräsentativen Demokratie ausgemacht.
Die Schwäche der Institutionen wurde besonders in der geringen Fähigkeit der Parteien sichtbar, die einmal errungene Wählerschaft an sich zu binden. In der Politikwissenschaft wird diese Fähigkeit als "Volatilität" des Parteiensystems gemessen (Tabelle 2). Hier war auch die Annahme formuliert worden, dass die Verankerung eines jungen Parteiensystems im Prozess der Demokratisierung relativ schnell nachlassen würde. Die in den 1990er Jahren gemessenen Werte einer Volatilität von 20 und mehr Prozent, so war die Annahme, würden bald auf die in den etablierten Demokratien üblichen etwa fünf Prozent zurückgehen. Das war allerdings weder in den späten 1990er Jahren noch ist es bis heute anhaltend der Fall. Eine einmal gewonnene Stabilität ging in den darauffolgenden Wahlen in der Regel verloren.
Mindestanforderungen an eine Demokratie und Einbettung in die Gesellschaft
Was wir als Problem wahrnehmen, hängt von unserem Maßstab der Bewertung ab. Demokratie als politische Ordnung kann unterschiedlich definiert werden. Es gibt eine minimale und eine erweiterte Definition: Die erste sieht Demokratie nur als Regime, in dem die Regierungen in freien Wahlen bestimmt werden, die Wahlen und deren Qualität werden als einziger Maßstab herangezogen. In einem erweiterten Sinne werden die rechtlichen, sozialen und kulturellen Bedingungen von Demokratie einbezogen. Dafür wird in der Politikwissenschaft der Begriff einer eingebetteten Demokratie verwendet. Die Konzepte von minimaler oder eingebetteter Demokratie lenken den Blick auf jeweils unterschiedliche notwendige und hinreichende Bedingungen politischer Regime.
Der Enthusiasmus, mit dem im Westen die Demokratisierung Osteuropas nach 1989 wahrgenommen wurde, erwuchs zunächst aus der erfolgten Bestätigung der Überlegenheit der eigenen politischen und wirtschaftlichen Ordnung gegenüber dem konkurrierenden System des Staatssozialismus. Anfang der 1990er Jahre galten überall, ob in Ungarn, Albanien oder Russland, freie Wahlen der Parlamente als einzig legitimer Weg zur Bestellung der eigenen Regierung. Was zunächst nicht so deutlich wahrgenommen wurde, war die Art und Weise, mit der die Wahlen von den neuen politischen Klassen genutzt wurden, um möglichst lange an der Macht zu bleiben. Am deutlichsten zeigte sich das anfangs in Südosteuropa und im postsowjetischen Raum. Die bewaffnete Auseinandersetzung des russischen Präsidenten Boris Jelzin mit dem Parlament 1993 konnte als Menetekel für die russische Demokratie angesehen werden. In Ostmitteleuropa hingegen waren die Wahlen in den 1990er Jahren frei und weitgehend fair.
Die Nachhaltigkeit von Demokratie erfordert mehr als freie Wahlen. Ohne eine funktionierende Gewaltenteilung und die Kontrolle der Politiker durch die Bevölkerung kann sie auf Dauer nicht überleben. Die Institutionen, die die voneinander unabhängigen Gewalten konstituieren konnten, mussten erst geschaffen werden. Das geschah in Ostmitteleuropa relativ erfolgreich in den 1990er Jahren mit den neuen Verfassungen, der Stärkung der Unabhängigkeit der Gerichte, durch die Herausbildung einer professionellen politischen Klasse und vermittels der Ausbildung einer pluralen Medienlandschaft. Aber auch in jenem Jahrzehnt wurden immer wieder Übergriffe auf die Unabhängigkeit der Gewalten beobachtet, durch das Korrumpieren von Richtern oder Politikern, vermittels einer umfangreichen Besetzung staatlicher Verwaltungsposten durch "die eigenen Leute", durch Versuche, die Massenmedien, vor allem Radio und Fernsehen, zu Sprachrohren der jeweils Regierenden zu machen.
Insbesondere zwei Prozesse aber waren es, die das neue politische System für Machtmissbrauch anfällig machten: die im Prozess der radikalen und schnellen Privatisierung entstehende, bedeutende Ungleichheit der Vermögensverhältnisse und der wirtschaftliche und soziale Existenzkampf großer Teile der Bevölkerung. Die Ungerechtigkeiten der Privatisierung erzeugten das Bedürfnis der kleinen Gruppe Superreicher, ihre wirtschaftliche Macht durch politische Macht abzusichern. Eine öffentliche Kontrolle über die demokratische Politik wurde erschwert, weil die Bevölkerung mit dem sozialen Überleben beschäftigt war und die Kraft für ein intensives politisches Engagement fehlte.
Der zweite Prozess wurde im Westen auch als Schwäche der Zivilgesellschaft gedeutet und deren Ursache als kulturelles Erbe der vorangegangenen autoritären Ordnung. Doch diese ergab sich – von jenen kulturellen Bedingungen abgesehen – auch objektiv aus den schon erwähnten sozialen Härten der Transformationsperiode.
Welche Probleme wahrgenommen werden, ergibt sich aus der Betrachterperspektive. Ein minimaler Demokratiebegriff weist den sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen eine geringe Rolle zu, für einen eingebetteten Demokratiebegriff gewinnen diese Determinanten hingegen einen hohen Stellenwert. Aus letztgenannter Perspektive wird es im Nachhinein klar, warum die Demokratisierung der Staaten Osteuropas auch nach dem Ende des Übergangsjahrzehnts der 1990er Jahre nicht abgeschlossen sein konnte. Das trifft, wie sich ab 2005 zeigte, auch für die Visegrád-Staaten zu.
Die für das Funktionieren der Demokratie störende politische Rolle Superreicher trat in Ostmitteleuropa erst nach Beginn des zweiten Jahrzehnts der Transformation in den Vordergrund. In Polen und Ungarn trugen die Debatten um Korruption im Prozess der Privatisierung des Staatseigentums zu den Umbruchswahlen 2005 und 2010 bei. Die Korruptionsvorwürfe richteten sich vor allem gegen die vormaligen sozialdemokratischen Regierungsparteien SLD und MSzP. In Tschechien und der Slowakei traten erfolgreiche Unternehmer direkt als politische Akteure in Erscheinung: Andrej Babiš, einer der reichsten Tschechen, ist mit der von ihm gegründeten Partei Aktion unzufriedener Bürger (ANO) seit 2013 in der tschechischen Regierungskoalition vertreten, Andrej Kiska, der aktuelle slowakische Präsident, ist ebenfalls reich. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit korrupten Politikern zeigt sich in den Abstürzen vorhergehender Regierungsparteien und den Aufstiegen populistischer Parteien besonders in Tschechien ab der siebten Wahl 2010 und einer entsprechend ansteigenden Volatilität (vgl Tabelle 2 oben).
Die Interferenzen zwischen wirtschaftlicher und politischer Macht werden begleitet von der politischen Abstinenz großer Teile der Bürgergesellschaft. Einerseits haben die Parteien und Interessenverbände in den Ländern der Region relativ wenige Mitglieder. Anfangs waren es vor allem die aus dem Staatssozialismus überlebenden Parteien, welche mitgliedsstärker waren. Dieser Mitgliederüberhang resultierte aus der Trägheit der früheren Mitgliedschaften und war weniger ein Ausdruck eines tatsächlichen Engagements für die neue politische Ordnung.
Diese politische Apathie wurde zuerst durch Erfahrungen mit "der" Partei im Staatssozialismus begründet, ebenso wie die kleine und sinkende Zahl von Gewerkschaftsmitgliedern. Die Grenzen dieser Deutung werden aber sichtbar, wenn man sich mit der niedrigen Wahlbeteiligung auseinandersetzt. In Tschechien und der Slowakei ist sie von über 80 Prozent in den Wahlen der 1990er Jahre auf etwas über oder um 60 Prozent seither gesunken. In Polen liegt die Wahlbeteiligung in beiden Perioden bei durchschnittlich unter 50 Prozent. Einzig in Ungarn beteiligen sich jeweils etwas mehr als 60 Prozent an den Wahlen. Die sinkende Wahlbeteiligung verweist auf die Erschwernisse der Transformationsphase.
Denn der Systemwechselprozess erzeugte im Alltag der Osteuropäer erheblichen sozialen Stress. Dazu kam die Frustration darüber, dass die anfänglichen, geradezu utopischen Erwartungen an Demokratie und Marktwirtschaft nicht realisiert werden konnten. Der ungarische Wirtschaftswissenschaftler János Kornai hat 2006 diese Situation mit den Worten beschrieben "Rightful hopes were intermingled with misconceptions and false illusions. Expressions like the ‚West‘, the ‚market‘, ‚competition‘ and ‚democracy‘ resulted in mythical images that promised light without shade." Stress und Frustration wurden aber auch dadurch verstärkt, dass sich die Ordnung des Westens, auf die man sich orientiert hatte, gerade selbst in einem tiefgreifenden Wandlungsprozess befand. Westen und Osten machten einen Prozess sich gegenseitig beeinflussender Koevolution durch.
Der Kapitalismus des Nordens und Westens hatte sich ab Mitte der 1980er Jahre radikal zu wandeln begonnen und folgte einem neuen Konzept des Verhältnisses von Wirtschaft und Staat, in dem der Sozialstaat am ehesten als Kostenfaktor erschien, der im Interesse eines ausgeglichenen Staatshaushaltes minimiert werden müsste. Gerade jener Sozialstaat hatte aber bisher die westliche Demokratie stabilisiert. Die politische Klasse des postsozialistischen Kapitalismus Osteuropas passte sich diesem "Zeitgeist" besonders gefügig an. Der Alltag von Millionen Menschen wandelte sich in kurzer Zeit radikal, alte Routinen wurden entwertet: Die Stabilität der Beschäftigungsverhältnisse fand ein Ende und führte zu einem in einigen Staaten hohen Grad von Arbeitslosigkeit. Die Rolle des Geldes veränderte sich grundlegend. Steuern und Versicherungen erhielten einen viel höheren Stellenwert als im alten System. Die Beschäftigten wurden unter marktwirtschaftlichen Verhältnissen einer viel strikteren Leistungsbewertung als bisher unterworfen. Das förderte zwar die wirtschaftliche Produktivität, brachte aber auch die Möglichkeit des persönlichen Scheiterns hervor. Die sich ausdifferenzierende Gesellschaft führte in ihren unterschiedlichen Konsummöglichkeiten für Gewinner und Verlierer den weniger Erfolgreichen ihren Misserfolg zudem deutlicher vor Augen als zuvor.
Im Ergebnis dieser Prozesse verloren Marktwirtschaft und Demokratie viel von ihrem ursprünglichen Glanz. Am sichtbarsten wird das in Umfragen des Pew Global Center von 1991 und 2009 zur Marktwirtschaft, deren Unterstützung zwischen 1991 und 2009 besonders stark in Ungarn sank, sie ging aber auch in den anderen Ländern zurück.
Die Unterstützung für den Parteienwettbewerb und damit für die Demokratie sank insbesondere in Ungarn deutlich. In den anderen Staaten blieb sie hingegen gleich oder vergrößerte sich.
Tabelle 4: Unterstützung für den Parteienpluralismus in Prozent der Befragten
Tabelle 4: Unterstützung für den Parteienpluralismus in Prozent der Befragten
Tabelle 4: Unterstützung für den Parteienpluralismus in Prozent der Befragten
Die Bedeutung des eigenen Wohlstandsgewinns seit 1989 für die Bewertung des Systemwechsels wird aus dieser Umfrage ebenfalls deutlich. Zumindest in zwei der betrachteten Länder wurden 2009 die zwanzig Jahre seit 1989 als Verschlechterung wahrgenommen, in Ungarn von 72 Prozent der Befragten, in der Slowakei waren es immerhin noch fast die Hälfte mit 48 Prozent. In Polen und Tschechien sieht die relative Mehrheit der Bevölkerung hingegen einen Wohlstandsfortschritt. In Polen, Ungarn und Tschechien wurde 2009 die Korruption der Politiker als wichtigstes nationales Problem angesehen.
Wie das Eurobarometer im Frühjahr 2015 zeigte, wird das Funktionieren der Demokratie im eigenen Land in den vier Staaten ebenfalls unterschiedlich wahrgenommen. Während in Polen und Tschechien eine absolute Mehrheit eher zufrieden ist, sind in Ungarn und der Slowakei 60 Prozent oder mehr der Befragten eher unzufrieden mit ihr.
Insgesamt zeigt sich, dass in den Visegrád-Staaten die Unterstützung für die Demokratie als System der Bestimmung der Regierung durch die Entscheidung der Bevölkerung im Großen und Ganzen zwar gesichert ist und somit die Voraussetzungen für eine minimale Demokratie vorhanden sind, aber die Bereitschaft, sich politisch zu engagieren, gesunken ist. Dieses niedrige Engagement zeigt sich unter anderem in den niedrigen Mitgliederzahlen von Parteien und Gewerkschaften sowie der gesunkenen Wahlbeteiligung. Ob man in den Ländern also von einer nachhaltigen Demokratie sprechen kann, scheint zweifelhaft. Dagegen entwickelt sich ein Misstrauen zwischen breiten Schichten der Bevölkerung und ihren politischen Repräsentanten, das sich in niedrigen Vertrauenswerten gegenüber den Institutionen der repräsentativen Demokratie ausdrückt. Obgleich in den Zeiten der Finanzkrise auch in den etablierten Demokratien dieses Vertrauen schwindet, ist es doch in den Transformationsstaaten Osteuropas immer noch deutlich niedriger. Im Eurobarometer vom Frühjahr 2015 liegt das Vertrauen in die politischen Parteien in den 10 2004 und 2007 aufgenommenen Staaten Osteuropas bei knapp 12 Prozent, in den Staaten der EU15 lag es dagegen bei knapp 21 Prozent. Wenn man aus dieser zweiten Gruppe von EU-Mitgliedsstaaten die Krisenstaaten Südeuropas und Irland herausnimmt, dann liegt dieses Vertrauen in den etablierten Demokratien ohne direkte wirtschaftliche Krisensituationen bei im Durchschnitt 25,6 Prozent, also über doppelt so hoch wie im Osten Europas. In den wirtschaftlichen Krisenstaaten unter den alten EU-Mitgliedsländern liegt es im Durchschnitt bei 11 Prozent. Es liegt auf der Hand, dass das Vertrauen in die politischen Repräsentanten im Maße der wirtschaftlichen Zumutungen sinkt, die der Bevölkerung auferlegt werden. Der "Süden" hat sich in diesem Sinne in der Krise dem "Osten" angenähert.
Osteuropa als Lackmustest für die Belastbarkeit der Demokratie?
Diese Annäherung der etablierten Demokratien des "Südens" an die jungen Demokratien des "Ostens" verweist darauf, dass die Erfahrungen der Transformationsländer Osteuropas für die Demokratietheorie insgesamt von Bedeutung sein können. Die minimale Demokratie wird zwar durch schwierige soziale und wirtschaftliche Entwicklungen nicht gefährdet. Unter dem Blickwinkel einer "eingebetteten Demokratie" hingegen führt eine solche Situation zur Instabilität. Wenn über eine längere Zeit die wirtschaftlichen Interessen breiter Bevölkerungsschichten nicht in genügendem Maße beachtet werden und somit die Ungleichheit schnell wächst, sich eine große Gruppe von wirtschaftlichen Verlierern herausbildet, sinkt die Unterstützung für die Institutionen der repräsentativen Demokratie. Dadurch reduziert sich deren Stabilität. Populistische und autoritäre Politiker gewinnen an Einfluss. Es kann zu einer regressiven Entwicklung kommen. Ungarn ist das Land Ostmitteleuropas, in dem sich diese Tendenzen am deutlichsten abzeichnen. Aber der plötzliche Aufstieg populistischer Akteure wie in Polen 2005 oder in Tschechien seit 2010 ist ebenfalls ein Zeichen für eine verdeckte Krise der repräsentativen Demokratie. Die globale Finanzkrise brachte in der südeuropäischen Peripherie ähnliche Probleme hervor.
Wenn die konkreten Ergebnisse der Politik demokratischer Staaten über längere Zeit nicht in der Lage sind, die Erwartungen der Bevölkerungsmehrheit an die Verbesserung des persönlichen und familiären Lebensniveaus zu erfüllen, wird auch die Überzeugung brüchig, dass die Demokratie eine grundsätzlich überlegene politische Ordnung ist. Die Bereitschaft, sich für sie zu engagieren oder gar sie gegen Widerstände nichtdemokratischer Kräfte zu verteidigen, erodiert. Das ist zumindest eine problematische Tendenz in den Staaten, in denen die Bilanz der wirtschaftlichen Transformation ambivalent geworden ist.
Was lässt sich ändern?
Anhand der Entwicklung in den hier betrachteten vier Staaten Ostmitteleuropas lässt sich allerdings auch einiges lernen über die Lebensfähigkeit der demokratischen Ordnung. Das politische Engagement kann durchaus steigen, wenn die politische Klasse sich um Unterstützung bemüht, wie es sich in den Wahlen 2007 in Polen zeigte. Die Ablehnung der von der Koalition populistischer Parteien unter Führung der PiS realisierten Politik führte zu einem ansteigenden Engagement vornehmlich der jüngeren, akademisch gebildeten und urbanen Bevölkerung. Die Wahlbeteiligung stieg von 41 Prozent bei den Wahlen des Jahres 2005 auf 54 Prozent. Das Vertrauen in politische Parteien blieb allerdings trotz dieser Mobilisierung durch die Gegner populistischer Politik niedrig.
Grundsätzlich scheint die Umkehr des Trends zur immer geringeren Unterstützung der Institutionen der repräsentativen Demokratie aber nur zu erreichen sein, wenn die sozialen und wirtschaftlichen Ergebnisse der Politik vorteilhafter für die Bevölkerungsmehrheiten ausfallen. Das wäre eine Lehre aus der goldenen Zeit des kontinentalen Nachkriegskapitalismus in Westeuropa. Für eine stabile demokratische Ordnung ist nicht nur die normative Überzeugung der Überlegenheit der Demokratie gegenüber nichtdemokratischen Regierungsformen erforderlich, sondern auch ein dauerhafter sozialer Ausgleich, wie er im kontinentaleuropäischen Wohlfahrtsstaat jener Jahre verwirklicht werden konnte. Wissenschaftler haben für diesen Typ des Kapitalismus den Begriff des "Teilhabekapitalismus" gefunden.
Das soll nun allerdings nicht als Plädoyer für eine Rückkehr zu einer vergangenen Epoche missverstanden werden. Die Bedingungen damals waren andere, die nicht reproduzierbar sind. Trotzdem gibt es auch heute politische Alternativen. Die Entwicklung in Osteuropa zeigt wie in einem Laboratorium: Eine Ordnung der politischen Gleichheit ist in kapitalistischen Marktgesellschaften nur zu erreichen, wenn die im ungeregelten wirtschaftlichen Wettbewerb entstehende soziale Ungleichheit immer wieder nach dem Maßstab einer politisch auszuhandelnden Vorstellung von Gerechtigkeit begrenzt und zurückgedreht wird.
Eine andere Alternative scheint allerdings auch möglich, sie lässt sich erahnen, wenn man Orbáns Wort vom illiberalen Staat ernst nimmt: Die Anziehungskraft leistungsfähiger autoritärer Regime hat sich seit Chinas Aufstieg zur Supermacht vergrößert. Die mangelnde Kongruenz zwischen marktradikaler Entwicklung und nachhaltiger Demokratie ließe sich auch in die andere Richtung überwinden, durch Ausbau der autoritären Tendenzen im politischen System.
Dr. sc. phil., geb. 1952; Universitätsprofessor für Transformationsprozesse in Ostmittel-, Südost- und Osteuropa und Leiter des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Wien, Universitätsstraße 7, 1010 Wien/Österreich. E-Mail Link: dieter.segert@univie.ac.at
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